Читать книгу Mathida und das Geheimnis des Russen - Bettina Hanke - Страница 3
1. Alles ist neu
ОглавлениеEs war ein kalter Morgen, als Mathida mit ihrer Mutter das Haus verließ. Draußen war es noch finster. Die Straßenlampen warfen ihr Licht auf eine schneebedeckte Straße. Die ganze Stadt lag unter einer weißen Schneedecke. Es war, als ob die Stadt sich friedlich eingekuschelt hätte, um noch ein bisschen zu dösen, bevor das Tageslicht und die Betriebsamkeit der Menschen sie weckten.
Leise tanzten dicke Schneeflocken im fahlen Schein der Laternen durch die Luft bis zum Boden. Eine vorwitzige Schneeflocke setzte sich genau auf Mathidas Nasenspitze und begann zu tauen. Mathida wischte sich das kitzelnde Etwas von der Nase und steckte ihre Hand schnell wieder in die warme Jackentasche.
Mathida und ihre Mutter marschierten schweigend in Richtung Schule. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Mathida bibberte still vor sich hin. Sie wusste jedoch nicht so genau, ob sie mehr vor Kälte oder vor Aufregung zitterte.
In den Weihnachtsferien war sie mit ihrer Familie hierher gezogen. Nun lag der erste Schultag in einer ihr unbekannten Klasse vor ihr. Und das mitten im Schuljahr! Deshalb waren sie heute fast eine Stunde eher losgelaufen, denn die Lehrerin hatte Mathida gemeinsam mit einem Elternteil so bald in die Schule bestellt. Eine ihr noch völlig fremde Lehrerin.
Überhaupt war hier alles neu und unbekannt: die Stadt, die Menschen, der Schulweg, die Klassenkameraden. Zu allem anderen kam noch, dass Mathida heute Mittag ganz allein nach Hause laufen musste, zurück in ein leeres Haus. Denn ihre Mutter arbeitete jetzt wieder und würde erst am Nachmittag zusammen mit Max, ihrem kleinen Bruder, heimkehren und Mathidas Einsamkeit beenden.
Mathida seufzte. Noch war ihre Mutter bei ihr; aber nicht mehr lange, und sie würde ganz auf sich selbst gestellt sein. Na gut, beinahe allein.
Denn ganz tief unten in ihrer Schultasche steckte Fred, ihr Teddybär. Hoffentlich bemerkte ihn niemand, denn Mathida ging immerhin schon in die vierte Klasse. Deshalb musste Fred bis zum Mittag ganz unten in der Dunkelheit des Ranzens ausharren. Sicher war sicher!
Beinahe hätte Mathida auf Freds Beistand verzichten müssen, wäre da nicht dieser sommersprossige Junge gewesen. Denn vor drei Tagen hatte sie mit ihren Eltern, Max und Fred einen Spaziergang durch die Stadt unternommen und ihre neue Heimat erkundet. Sie hatte Fred einfach in ihre Jackentasche geschoben und dann ihre Hand hinterher gesteckt. Aber als sie durch den kleinen Park gelaufen waren, hatten sie einen Teich entdeckt.
Auf dem Gewässer wimmelte es nur so vor Enten. Einige Tiere watschelten aufgeregt schnatternd auf der Wiese und dem Weg hin und her.
Max blieb ganz begeistert stehen und begann, die Enten mit seinem Butterhörnchen zu füttern, das er gerade angebissen hatte. Dabei fiel sein rechter Handschuh auf den verschneiten Boden. Mathida hob ihn schnell auf. Sie dachte überhaupt nicht mehr an ihren Teddy.
Dann rannte dieser Junge hinter ihnen her und schrie: „He, du hast da was verloren!“
Als Mathida sich umdrehte, streckte der Junge ihr Fred entgegen. Der Junge hatte blondes Haar, blaue Augen und ganz viele Sommersprossen überall auf seinem Gesicht. Er sah Mathida vorwitzig an und grinste dabei frech. Er war ein paar Zentimeter größer als sie und untersetzt. Er trug ausgewaschene dreckige Jeans, hohe braune Winterstiefel und eine dicke olivgrüne Winterjacke mit einem Skelett auf dem Rücken. Aus der linken hinteren Hosentasche lugte ein Zipfel einer schwarzen Wollmütze hervor.
Mathida starrte ihn entgeistert an. „Danke!“, stammelte sie und nahm ihren Teddy entgegen.
Aber der Junge drehte sich sofort um und lief davon.
Er rannte zu einem etwas größeren schlanken, schwarzhaarigen Buben, der am Teich gerade eine Ente vor sich her scheuchte.
Vielleicht wohnte er ja in ihrer Nähe und sie konnten sich anfreunden. Obwohl sie am liebsten wieder eine beste Freundin hätte. Ob der zweite Junge sein Bruder war?
Jetzt lag der Teddy friedlich in Mathidas Schultasche und wurde bei jedem Schritt hin und her geschaukelt. Allmählich kamen ihre Mutter und sie der Schule näher.
Die Schule war ein großes dreistöckiges Gebäude, das wie ein überdimensionaler grauer Schuhkarton mit einem weißen Schneedeckel aussah. Dieser Schuhkarton hatte in regelmäßigen Abständen unzählige längliche dunkle Schlitze. Nur zwei davon waren hell beleuchtet und damit als Fenster zu erkennen.
Sie bogen in den Weg ein, der von der Straße zu dem etwas zurückgesetzten Flachdachgebäude führte. Jetzt konnte Mathida die Eingangstür und die hell erleuchtete Aula, die dahinter lag, klar und deutlich wahrnehmen. Der Schnee lag noch unberührt vor ihnen auf dem Weg. Die Spuren der bereits anwesenden Lehrerin hatte der Schnee offenbar schon wieder zugedeckt.
Je näher Mathida und ihre Mutter der Eingangstür kamen, desto schneller und lauter klopfte Mathidas Herz vor Aufregung. Instinktiv griff ihre Hand nach der Hand ihrer Mutter.
„Meinst du, die Lehrerin ist nett?“, fragte Mathida. „Wie heißt sie gleich noch mal? Ich bin ja so gespannt!“
„Sie heißt Frau Lamprecht und sie ist bestimmt sehr nett. Immerhin will sie dir die ganze Schule zeigen und ist deshalb extra früher aufgestanden“, erwiderte Mathidas Mutter in ruhigem Ton.
Mathida seufzte noch einmal laut, dann betraten die beiden das Gebäude. Es war still in der Schule, niemand war zu sehen.
„Ob sie schon da ist?“, flüsterte Mathida voller innerer Unruhe.
Bevor ihre Mutter antworten konnte, öffnete sich eine Tür auf der linken Seite der Eingangshalle. Eine schlanke hochgewachsene Frau mit kurzen dunklen Haaren kam mit schnellen Schritten herbeigeeilt. Sie trug eine modische weiße Bluse und einen eleganten dunkelblauen Rock. Ihre Schuhe machten bei jedem ihrer Schritte klack. Klack, klack. Klack, klack, klack, klack.
Wäre Mathida nicht so gespannt und aufgeregt gewesen, hätte sie bestimmt laut lachen müssen. Es war wirklich komisch, wie die Schuhe der Lehrerin in der leeren Aula hallten. Das Geräusch erfüllte die gesamte Eingangshalle und schien in der sonst herrschenden Stille immer lauter zu werden. Mathida musste innerlich nun doch ein wenig schmunzeln, auch wenn sie es nach außen nicht zeigte. Auf sonderbare Weise beruhigte dieses Klacken Mathida ein wenig.
„Hallo, ich bin Frau Lamprecht, deine Klassenlehrerin. Und du bist sicher Mathida Glück? Herzlich willkommen in unserer Schule!“ Die Lehrerin gab Mathida die Hand. Dabei lächelte sie Mathida voller Wärme an.
Dann wandte sie sich Mathidas Mutter zu. „Gehen wir am besten zuerst ins Lehrerzimmer und besprechen alles Wesentliche, danach können Sie Mathida meiner Obhut überlassen. Ich möchte ihr einiges über diese Schule und meine Klasse erzählen, so dass sie einen ersten Eindruck gewinnen kann.“ Sie zeigte auf die Tür, durch die sie in die Eingangshalle gekommen war.
Im Lehrerzimmer erhielten Mathida und ihre Mutter den Stundenplan sowie eine Liste, welche Hefte und Mappen Mathida für die verschiedenen Fächer brauchte. Frau Lamprecht erklärte ihnen, was die Klasse im laufenden Schuljahr schon alles durchgenommen hatte. Sie fragte Mathida über ihren Wissensstand aus.
Mathida antwortete zögernd und immer noch schüchtern. Zu ihrer großen Erleichterung stellte sich heraus, dass sie keine allzu gravierenden Lücken beim Unterrichtsstoff hatte. Mathida fühlte sich dadurch schon viel wohler.
Frau Lamprecht sprach noch eine Weile mit Mathidas Mutter.
Allmählich ließ Mathidas Aufmerksamkeit nach. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie dachte an ihre Lehrerin an der alten Schule, eine strenge, unfreundliche Person. Die Schulkinder hatten ihr den Spitznamen „Knitterdrache“ gegeben, weil sie ein faltiges Gesicht hatte und oft laut wurde, herumschrie und schimpfte.
„Sie hat wieder Feuer gespuckt“, flüsterten die Kinder in der Pause hinter vorgehaltener Hand, wenn Frau Hilling wieder einmal einen ihrer berüchtigten Wutausbrüche über die Klasse abgeladen hatte. Es war wie ein starkes Gewitter mit heftigem Donnergrollen – und danach waren alle in der Klasse ganz brav. Auch die Lehrerin erschien besonders ruhig und friedlich. Wie oft hatten Mathida und ihre Freundinnen sich gewünscht, eine andere Lehrerin zu bekommen. Frau Hilling war einfach nur unmöglich! Mathida hatte sich auf jede Stunde gefreut, die von einer anderen Lehrkraft abgehalten wurde.
Bei Frau Lamprecht schienen die Dinge jedoch anders zu liegen. Sie strahlte eine große Wärme und Gelassenheit aus.
Schließlich waren die Lehrerin und Mathidas Mutter am Ende ihrer Unterhaltung angelangt und verabschiedeten sich voneinander. Jetzt wurde es Zeit für Mathidas Mutter, aufzubrechen und sich zu ihrem Arbeitsplatz zu begeben. Sie sah Mathida an und nickte.
„Du schaffst das schon! Ich drück dir die Daumen, dass deine neuen Klassenkameraden nett zu dir sind! Ich muss zur Arbeit. Wir sehen uns heute Nachmittag. Bis dahin, mein Schatz!“ Sie umarmte Mathida zum Abschied, dann drehte sie sich um und ging.
Mathidas Herz begann augenblicklich wieder schneller zu klopfen. Ach, wäre es doch Nachmittag und sie hätte den ersten Schultag hier in Herlesgrün schon hinter sich! Ein Glück, dass ihre neue Lehrerin so freundlich war! Und dass das Schulhaus immer noch menschenleer war! Trotzdem zitterten Mathida die Hände und Knie.
Frau Lamprecht sah sie mit einem langen Blick an. Sie hatte wunderschöne braune Augen, die strahlten und lachten. „Du bist sicherlich sehr aufgeregt, oder?“, fragte sie. „Was hältst du davon, wenn ich dir jetzt das gesamte Schulgebäude zeige und anschließend gehen wir ins Klassenzimmer. Dort gebe ich dir deine Schulbücher und stelle dir deine Mitschülerinnen und Mitschüler vor.“
„Ja, gerne“, antwortete Mathida leise.
Frau Lamprecht begann mit der Exklusivführung durch die Schule. Neben der hochgewachsenen Lehrerin kam sich Mathida trotz ihrer neun Jahre sehr klein und schmal vor. Ihre langen blonden Haare hatte sie sich selbst zu zwei Zöpfen geflochten. Es erfüllte sie mit Stolz, das so gut ganz allein geschafft zu haben.
Mathidas Mutter sagte immer, Mathida sei ein sehr selbstständiges Kind. Sie las gerne Bücher, war geschickt bei Bastelarbeiten und hatte in der Schule stets gute Leistungen erbracht. Ob das hier auch so blieb? Jetzt betrat sie hinter der Lehrerin das Klassenzimmer.
Noch war hier niemand. Der Raum war hell und freundlich: An den Wänden hingen bunte Bilder und Basteleien, die Zimmerdecke war leuchtend gelb gestrichen und erweckte den Eindruck von Sonnenschein, obwohl es draußen nach wie vor aus dicken grauen Wolken schneite und die Sonne gar nicht zu sehen war.
Mathidas Neugier auf die anderen Kinder wuchs mit jeder Minute. Ob sie hier bald wieder eine so innige Freundin wie Celine finden würde? Mit Celine hatte sie während der letzten Jahre viel Spaß gehabt; die beiden hatten sich all ihre verborgenen Wünsche und Sehnsüchte gegenseitig anvertraut. Mathida vermisste Celine sehr.
Natürlich wollten sie sich schreiben und ihre Geheimnisse austauschen. Vielleicht könnten sie sich in den Ferien sogar gegenseitig besuchen – aber das war eben doch nicht dasselbe wie eine Freundin in der Nachbarschaft.
Nach und nach trafen die Schulkinder ein und das graue Schulgebäude füllte sich mit Geräuschen. Stimmen und Schritte näherten sich, während Mathida ihre Bücher von Frau Lamprecht erhielt. Dann wurde die Tür aufgerissen.
Drei Mädchen betraten tuschelnd das Klassenzimmer. Neugierig sahen sie zu Mathida. „Das sind Lena, Alisa und Melanie“, stellte Frau Lamprecht vor, „Und das hier ist eure neue Mitschülerin Mathida Glück!“
„Hallo!“, sagten die drei im Chor und lächelten freundlich.
Kurz darauf kamen zwei Jungen herein. Sie hießen Jonas und Tobias und zeigten kein besonderes Interesse für Mathida. Nach einem gleichgültigen „Hallo“ gingen sie schnell zu einer Schulbank und setzten sich nebeneinander hin. Sie begannen, irgendwelche Zeitschriften auszupacken und auszutauschen. Dabei unterhielten sie sich leise.
Nach und nach füllte sich der Raum und die Lehrerin stellte Mathida alle Kinder vor. Mathida schwirrte schon der Kopf von all den Namen. Schließlich läutete es einmal als Zeichen dafür, dass in fünf Minuten die erste Schulstunde begann. Frau Lamprecht spähte in den Flur hinaus und schloss die Tür.
„Der Michel kommt mal wieder auf den letzten Drücker!“, rief ein dunkelhaariger Junge vier Minuten später, als sich im Flur laute schnelle Schritte näherten.
Jemand rannte von außen auf die Tür zu, riss sie geräuschvoll auf und stürmte herein. Es war ein blonder Junge, auf dessen Gesicht viele vorwitzige Sommersprossen leuchteten. Mathida riss die Augen auf. Dies war der Junge aus dem Stadtpark!
Sofort fiel ihr Fred wieder ein. Ihr Teddy lag immer noch ganz unten in ihrer Schultasche, damit ihn niemand sehen konnte. Hoffentlich verriet dieser Michel sie nicht! Ihre Gedanken kreisten darum, wie die anderen sie wegen des Teddys auslachen würden, falls Michel sie bloßstellte.
„Michel, setz dich bitte auf deinen Platz! Dies ist deine neue Mitschülerin. Sie heißt Mathida“, sagte Frau Lamprecht.
Mathida flüsterte schüchtern „Hallo“.
Michel blickte sie erstaunt an. „Hey, dich kenn ich doch!“, rief er. „Du bist doch die aus dem Stadtpark! Wie heißt du? Mateddy?“ Er grinste frech über das ganze Gesicht.
„Lass deine blöden Witze!“, fauchte das Mädchen, das die Lehrerin ihr als Melanie bekannt gemacht hatte. „Also, wie ein Teddy sieht sie nun wirklich nicht aus!“ Melanie saß allein an einem Tisch in der zweiten Reihe. Jetzt wandte sie sich an Frau Lamprecht: „Mathida kann sich doch neben mich setzen?“
„Das ist eine sehr gute Idee. Mathida, nimm bitte neben Melanie Platz, damit wir mit dem Unterricht anfangen können!“
Mathida folgte der Anweisung ihrer neuen Lehrerin und begab sich mit ihrem Schulranzen und dem Stapel Bücher, die sie erhalten hatte, zu ihrem neuen Sitzplatz. Sie war froh, dass die anderen Kinder Michels Witz nicht kapieren konnten.
Ihr Teddy Fred würde ganz sicher heute den Schulranzen verlassen, sobald sie zuhause sein würde. Sie beschloss, ihn nie wieder in die Schule mitzunehmen.
Melanie war wirklich schwer in Ordnung! Vielleicht könnten sie ja Freundschaft schließen.
Mathida setzte sich und im selben Moment ertönte der Schulgong erneut. Damit begann die erste Stunde.
Der Unterricht war abwechslungsreich und kurzweilig, die Zeit verging für Mathida wie im Flug. Dann folgte eine Pause, die eine Viertelstunde dauerte. Mathida packte ihre Brotzeit, einen Apfel und eine kleine knusprige Haferstange, aus und schlenderte so wie all die anderen Schüler in die Aula. Dort stellte sie sich unschlüssig neben Melanie.
Diese begann sofort sie auszufragen. „Warum seid ihr hierher gezogen? Wo warst du vorher? Hast du Geschwister? In welcher Straße wohnst du?“
Sie wollte all das wissen, was Mädchen in diesem Alter eben an einer neuen Klassenkameradin interessiert. Bald standen auch Lena und Alisa dabei und beteiligten sich am Gespräch. Mathida gab bereitwillig Auskunft über sich und ihre Familie.
„Gefällt es dir hier?“, erkundigte sich Melanie, „und wie ist es dort, wo du herkommst?“
Mathida erzählte kurz von ihrer alten Stadt und ihrer Schule. Sie berichtete auch von Frau Hilling und ihrem Spitznamen Knitterdrache. Die drei Mädchen mussten lachen.
„Da kannst du ja froh sein, dass du jetzt hier bei uns bist“, meinte Melanie fröhlich, „denn Frau Lamprecht ist eine tolle Lehrerin und wir gehen gerne in ihre Klasse!“
„Ich nicht! Immer nur blöde rumsitzen und irgendwelchen Quatsch schreiben. Oder lesen. Lauter Mädchenzeugs! Viel besser wär es, wenn wir was Ordentliches machen würden“, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Sie gehörte Michel, der plötzlich hinter Mathida herumlungerte.
„Der schon wieder“, seufzte Alisa und verdrehte die Augen.
„Du störst“, zischte Lena.
„Michel bringt ständig dumme Sprüche. Und er ärgert gerne Mädchen, wenn er Langeweile hat. Er würde am liebsten Schnee schippen und Holz hacken und sich höchstens einmal pro Woche waschen“, erklärte Melanie mit einem kleinen, spitzen Lächeln auf den Lippen.
„Einmal pro Woche? Na gut, Hände waschen vielleicht…“, entgegnete Michel über das ganze Gesicht grinsend.
Mathidas Herz begann wieder schneller zu schlagen, da ihr blitzartig Fred in den Sinn kam. Hoffentlich hielt dieser Michel den Mund und verriet sie nicht, gerade nun, wo sie vielleicht erste Freundschaften knüpfen konnte!
Aber Michel dachte nicht im Traum daran, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. „Hey, ich bin doch ein netter Kerl, Melanie. Ich sammle sogar Baby-Spielzeug für kleine Mädchen wieder ein, nicht wahr, Mateddy? Wie heißt denn dein süßer Knuddel-Schnucki-Teddy?“
Scham und Wut stiegen gleichzeitig in Mathida hoch. Sie begann zu schwitzen und wünschte sich weit, weit weg. Sie spürte, wie ihr Gesicht sich rötete und ihre Hände sich zu Fäusten ballten.
Eine Träne machte sich feucht in ihrem rechten Auge bemerkbar. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden und zischte: „Er heißt Fred!“
Da lachten die drei Mädchen, die bei ihr standen, laut und herzhaft los, während Michel eine Grimasse schnitt und eher beleidigt als belustigt aussah. Er brummte ein gespielt gelangweiltes „Haha“, drehte sich um und schlenderte davon.
Mathida vergaß vor Erstaunen ihre Wut, als sie die für sie völlig unerwartete Reaktion beobachtete.
Melanie wischte sich eine Freudenträne von der Wange und meinte schelmisch: „Eins zu null für dich! Das war eine geniale Antwort!“
Alisa und Lena nickten zustimmend und kicherten noch eine Weile vor sich hin.
Verwundert fragte Mathida: „Wieso? Das kapiere ich nicht, mein Teddy heißt doch wirklich Fred.“ Dann erzählte sie kleinlaut die Geschichte, wie sie im Stadtpark ihren Teddy verloren hatte und wie Michel ihn ihr zurückgebracht hatte.
„Ach so!“, rief Melanie aus, „so ein lustiger Zufall. Michel ist nämlich sein Familienname. Mit Vornamen heißt er Fred. Aber weil er so frech ist, nennen ihn alle nur Michel – wie den Michel von Astrid Lindgren.“
Alisa ergänzte: „Er wollte dich mit deinem Teddy aufziehen. Das hat er nun davon! Dabei hast du nur die Wahrheit gesagt. Das ist witzig! Übrigens heißt mein Teddy Pirlon, das hab ich selbst erfunden.“
Mathida seufzte tief und erleichtert. Ihr fiel ein schwerer Stein vom Herzen. „Und ich hab schon gedacht, ihr lacht mich aus, wenn ihr hört, dass ich einen Teddy habe. Bin ich froh!“
„Na ja, jedem in der Klasse solltest du das nicht auf die Nase binden“, überlegte Lena laut, „da gibt es schon ein paar Spezialisten, für die das ein Grund zum Spotten wär. Aber bei uns ist dieses Geheimnis gut aufgehoben!“
Die vier plauderten angeregt weiter, bis der Gong das Ende der Pause ankündigte.H
Mathida fragte sich, ob Michel sie vielleicht doch noch vor der Klasse lächerlich machen würde. Auf der anderen Seite war es für ihn möglicherweise auch peinlich, so zu heißen wie ein Teddy. Darauf hoffte sie sehr. Zum Glück kam sie an diesem Vormittag nicht lange zum Grübeln, denn der Unterricht war sehr interessant und Mathida war mit ihrer gesamten Aufmerksamkeit dabei.
In der letzten Schulstunde hatten sie Religionsunterricht. Dazu wurde die Klasse in evangelische und katholische Kinder aufgeteilt. Mathida gehörte zu der Gruppe, die im Klassenzimmer blieb. Während viele ihrer Mitschüler den Raum verließen, kamen einige Schüler aus der Parallelklasse zu ihnen.
Den Unterricht hielt ein Pfarrer ab, ein großer, dicker Mann mit schwarzen Haaren, Nickelbrille und einem Vollbart. Als er Mathida entdeckte, kam er zu ihrem Platz und erkundigte sich nach ihrem Namen. Danach stellte er sich vor: „Ich bin der Pfarrer Wälzel und erzähle euch etwas über Gott und die Bibel. Außerdem bin ich in der Kirchengemeinde als zweiter Pfarrer tätig. Komm doch mit deiner Familie an diesem Sonntag in den Gottesdienst, den ich abhalte!“
Er schob seine Brille, die auf der großen Nase ständig zu rutschen schien, etwas nach oben.
Mathida wusste nicht, ob Pfarrer Wälzel ihr sympathisch war oder nicht – irgendwie kam er ihr seltsam vor, auch wenn sie nicht erklären konnte, warum das so war.
Er las ihnen eine Geschichte aus der Bibel vor. Anschließend befragte er die Klasse über deren Inhalt und erklärte dann lang und breit die Bedeutung der Bibelstelle. Es war furchtbar langweilig.
Mathida schaute sich in der Klasse um. Lena und Melanie waren nicht da, sie gehörten zur anderen Gruppe. Mathida hatte die Schulbank für sich allein. Neben Alisa saß ein Mädchen aus der anderen Klasse, das Alisa gerade etwas zuflüsterte. Dies belustigte Alisa offenbar sehr. Mathidas Blick wanderte weiter durch die Reihen. Mehr als die Hälfte ihrer Klassenkameraden fehlte, während aus der Parallelklasse nicht so viele Kinder gekommen waren. Deshalb waren einige Plätze leer.
Im Raum herrschte eine relativ große Unruhe: Manche Kinder schwätzten, einige zappelten auf ihren Stühlen herum oder spielten mit ihren Stiften, Heften und Büchern. Ganz hinten saß Fred Michel und war in ein Gespräch mit seinem Banknachbarn vertieft.
Der andere Junge hörte aufmerksam zu, während Michel ihm mit einem breiten Grinsen und einem vor Erheiterung roten Gesicht etwas zuflüsterte. Daraufhin lachten beide unterdrückt.
Michels Hände waren hinter der Bank versteckt und Michels Arme wackelten verdächtig. Es sah so aus, als würden Fred Michels Hände sich heftig hin und her bewegen. Irgendetwas ging da vor sich, aber Mathida konnte nicht erkennen, was.
Dieser andere Junge, der ebenfalls blondes Haar hatte, starrte immer wieder nach unten auf Michels Hände und unterdrückte angestrengt das Lachen.
Was wohl Michel da tat? Auf jeden Fall interessierte er sich nicht für den Unterricht!
Pfarrer Wälzel stand vorne beim Lehrerpult und redete, ohne von all dem Notiz zu nehmen. War er zu dumm, um all das zu bemerken? Aber so doof konnte doch kein Mensch sein! Er musste es hören und sehen! Nur, warum schritt er nicht ein? Warum ließ er die Kinder gewähren? Es war unbegreiflich!
So etwas hatte Mathida in ihrer gesamten Schulzeit noch nie erlebt und immerhin besuchte sie bereits die vierte Klasse! Diese Stunde und dieser Pfarrer kamen ihr immer merkwürdiger vor. Davon wollte sie unbedingt Celine erzählen, ihrer besten Freundin. Am liebsten hätte sie sie auf der Stelle angerufen und ihr alles haarklein berichtet.
Der erste Schultag endete für Mathida nach sechs Unterrichtsstunden und mit unzähligen neuen Eindrücken. Sie fühlte sich sehr erleichtert, dass sie eine so nette Klassenlehrerin hatte. Da machte Schule richtig Spaß! Und sie empfand Dankbarkeit dafür, dass sie neben Melanie saß und gut mit ihr sowie deren beiden Freundinnen Lena und Alisa auskam. Das war ein schöner Start in Herlesgrün. Mathidas Ängste hatten sich weitestgehend aufgelöst und der Vorfreude auf das Leben hier Platz gemacht. Einzig dieser Fred Michel war ihr ein Dorn im Auge, da er es bereits an ihrem ersten Schultag darauf angelegt hatte, sie zu ärgern. Was war bloß mit ihm los? Sie schwor sich, das herauszufinden.
Mathida verließ das Schulgebäude gemeinsam mit Melanie, Alisa und Lena. Der Himmel war jetzt stahlblau und die Sonne schien auf die verschneite Stadt. Die vier gingen zusammen den Weg, der inzwischen vom Schnee befreit war, in Richtung Straße und unterhielten sich angeregt.
Rechts und links der Gehfläche türmten sich Schneehaufen. Die weiße Pracht glitzerte in der hellen Mittagssonne. Mathida kniff die Augen zusammen, so blendete der Schnee, und ihren neu gewonnenen Freundinnen erging es genauso.
Ein paar Meter hinter ihnen schlenderte betont lässig Fred Michel, der wieder seine schwarze Mütze in der hinteren Hosentasche stecken hatte. Ganz nebenbei formte er Schneebälle, mit denen er auf seine Mitschüler und vor allem auf seine Mitschülerinnen schoss.
Die vier Mädchen steigerten ihr Tempo, um den weißen Kugeln zu entkommen.
Als sie an der Straße angelangt waren, trennten sich ihre Wege.
Mathida trat alleine ihren neuen Heimweg an. Da sie ihn in den Ferien mit ihren Eltern bereits dreimal gegangen war, kannte sie die richtige Route zu ihrem neuen Zuhause und marschierte zielstrebig los.