Читать книгу Mathida und das Geheimnis des Russen - Bettina Hanke - Страница 5
3. Fußspuren eines Unbekannten
ОглавлениеAuch am nächsten Mittag kam Mathida vor ihrer Mutter von der Schule nach Hause. Ihr Vater hatte Wort gehalten: In der Küche stand seit dem Morgen eine kleine Pappschachtel, in die Mathida nun schaute. Darin lagen viele Schlüssel, größere und kleinere.
Allerdings durfte sie die Schlüssel nicht alleine an den unterschiedlichen Schlössern ausprobieren. Ihre Mutter wollte die Schlüssel immer gleich mit entsprechend beschrifteten Schlüsselanhängern kennzeichnen, so dass man sofort wusste, welcher Schlüssel an welcher Tür passte. Die Anhänger würde ihre Mutter heute auf dem Heimweg von Arbeitsplatz und Kindergarten kaufen. Zudem war ihr und Max verboten worden, die marode Treppe ins Obergeschoss hinauf zu benutzen. Dort oben würde die Mutter die Schlüssel ganz alleine an den Schlössern ausprobieren.
Mathida spielte mit dem Gedanken, die Schlüssel einfach alle zur Hütte mitzunehmen und einen nach dem anderen ins Schloss zu stecken bis einer passte. Schließlich war sie achtsam und würde ganz sicher keinen Schlüssel verlieren.
„Und lass die Finger von dem Karton!“, hatte ihre Mutter ihr am Morgen eingeschärft. Sollte sie sich über das Verbot hinwegsetzen? Unschlüssig sah sie aus dem Fenster. Genau in diesem Moment kam die Sonne zwischen dicken Schneewolken zum Vorschein und ließ die weiße Pracht rundherum glitzern und funkeln. Es hatte den ganzen Vormittag leicht geschneit. Auch jetzt schwebten noch einzelne Flocken vom Himmel und tanzten im Sonnenschein langsam dem Boden entgegen. Sie ließen sich Zeit beim Fallen. Und hatte sie, Mathida, nicht ebenso viel Zeit?
Ja, die hatte sie! Sie würde eine brave Tochter sein und die Schlüssel dort lassen, wo sie waren. Sie würde jetzt hinausgehen in den herrlichen Sonnenschein und den blendend weißen Schnee. Und sie würde nur einen einzigen Schlüssel mitnehmen: ihren eigenen Haustürschlüssel!
Aber vielleicht konnte sie jetzt herausfinden, woher die Fußspuren kamen, die sie gestern am rückwärtigen Gartenzaun entdeckt hatte.
Mathida stapfte durch den frischen Schnee, kam an der Hecke vorbei und gelangte zur Hütte. Wie weit sie den Spuren bis in den Nachbargarten wohl unbemerkt folgen konnte? Sie ging um das Häuschen herum. Doch die Spuren waren verschwunden.
Der neue Schnee hatte alle Abdrücke des Vortages vollständig zugedeckt. Nicht eine einzige kleine Vertiefung war auch nur ansatzweise zu erkennen! Hier würde sie gar nichts mehr herausfinden!
Enttäuscht trottete sie einmal um die Hütte herum, dann lief sie den Weg durch den Garten zurück. Na gut, dann würde sie eben jetzt die Einfahrt vom Schnee befreien! Ja, darauf hatte sie gerade große Lust, nachdem sie den ganzen Vormittag hinter ihrer Schulbank gesessen war.
Neben der Haustüre lehnte eine Schneeschaufel an der Wand, die nur auf Mathida zu warten schien. Mathida nahm sie sich und begann mit der Arbeit. Die Sonne erwärmte ihr Gesicht und ihre dunkelrote Winterjacke von außen, die Bewegung erwärmte sie innerlich. Ihre Backen begannen zu glühen und ihre Hände waren feuerheiß, obwohl sie ihre Handschuhe ausgezogen hatte. Der Schnee war pulvrig und fast gewichtslos und ließ sich leicht zur Seite schieben. Mathida arbeitete schnell und mit Eifer. Als sie die Einfahrt fein säuberlich geräumt hatte, lehnte sie die Schneeschaufel wieder an die Hauswand.
Tief in Gedanken ging sie noch einmal in den Garten. Ihr war wohlig warm und sie fühlte sich glücklich. Sie reckte ihr Gesicht in die Sonne, nahm etwas Schnee in ihre heißen Hände und rieb sich damit die Wangen ab. Wie von selbst liefen ihre Füße den Weg zum Holzhaus, während ihre Gedanken ganz woanders waren.
Sie stellte sich gerade vor, wie sie mit ihrem Vater eine Schneeburg baute, als sie feststellte, dass sie schon wieder bei der Hütte war. Diese schien sie magisch anzuziehen. Mathida stapfte weiter und bog um die Ecke des Häuschens. Sie machte noch ein paar Schritte bis zum Ende der Seitenwand, dann blieb sie abrupt stehen. Das konnte doch nicht möglich sein!
Vor ihr im Schnee waren klar und deutlich Spuren zu sehen, die vom Gartentürchen kamen. Das Türchen stand sperrangelweit offen. Hier war jemand gewesen! Und zwar, während sie die Einfahrt freigeschaufelt hatte!
Mathidas Herzschlag beschleunigte sich und ein Schaudern durchströmte ihren ganzen Körper. Wie unheimlich! Dieser Jemand war möglicherweise noch irgendwo in der Nähe. Verstohlen blickte sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Alles, was sie erkennen konnte, waren verschneite Gärten mit Häusern darin. Sie hielt fast den Atem an und lauschte angestrengt. Doch das einzige, was sie in unmittelbarer Nähe wahrnahm, war das aufgeregte, rasch aufeinander folgende Klopfen ihres eigenen Herzens. Irgendwo in der Ferne hörte sie noch gedämpfte Motorengeräusche von fahrenden Autos. Das war alles.
Vorsichtig schlich Mathida weiter. Ihr war klar, dass die Person, die gerade hier gewesen war, Mathidas Spuren von vorhin ebenfalls gesehen haben musste.
Vielleicht war derjenige aus diesem Grund auch gleich wieder verschwunden und befand sich gar nicht mehr in der Nähe. Vielleicht stand die Person aber auch hinter der nächsten Ecke der Hütte. Oder sie versteckte sich in dem Abstellraum, den Mathida gestern genau inspiziert hatte.
Mathida wurden die Knie weich und ihre Zähne begannen zu klappern. Todesmutig schlich sie sich langsam an die Hausecke heran und beugte den Kopf im Zeitlupentempo etwas nach vorn, damit sie um die Hütte herum spitzen konnte. Niemand war zu sehen. Alles wirkte friedlich, die Sonne schien, der Schnee glitzerte und außer ihr selbst war offenbar keine Menschenseele da. Aber nun kam noch der fensterlose kleine Raum…
Zuerst wollte Mathida ganz leise an der Tür vorbeihuschen, doch dann überlegte sie es sich anders. Wenn sie nur vorbeiging, würde sie nie erfahren, ob sich hier jemand verbarg. Also schlich sie wie eine Katze zur Tür. Sie nahm geräuschlos den Riegel in die Hand, der bereits zurückgeschoben war. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Entweder sie öffnete die Tür und sah nach oder sie schob den Riegel vor und kam später mit ihrer Mutter erneut her, um in den Raum hineinzuschauen.
Ganz plötzlich und für sie selbst überraschend entschied sie sich für Angriff. Sie riss die Tür auf und stieß einen lauten, durchdringenden Schrei aus, der sie selbst erschreckte und ihr den Atem erneut stocken ließ.
Dann spähte sie vorsichtig ins Innere. Leer! Mathida atmete laut durch den Mund aus und beruhigte sich etwas. Sie wagte es jetzt sogar, den Raum zwei Schritte weit zu betreten und sich genauer umzublicken. Alles war unverändert. Hier war niemand gewesen.
Komisch war nur, dass der Riegel schon geöffnet war. Sie konnte sich genau erinnern, ihn am gestrigen Tag wieder fest vorgeschoben zu haben. Sie wusste es deshalb so genau, weil er etwas geklemmt hatte. Außerdem war sie ein ordentliches Menschenkind und gab auf solche Dinge acht. Der Riegel! Wenn der Unbekannte doch noch in der Nähe war und nun die Tür von außen zuriegelte… Ob sie sich dann von innen wieder öffnen ließ?
Blitzschnell schlüpfte Mathida hinaus ins Freie. Sie sah sich erneut um. Immer noch befand sich absolut niemand in Sichtweite. Sie schloss die Tür und den Riegel und machte sich auf den Weg zum Wohnhaus.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es kam von der Hecke her. Mathida war zum Schreien zumute, aber sie traute sich nicht, auch nur den kleinsten Mucks zu machen. Da war also doch jemand! Sie hörte deutlich den knirschenden Schnee unter gedämpften Schritten. Sie schaute nach rechts und links, aber es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Die Schritte waren direkt an der Hecke und kamen unaufhaltsam näher.
Da! Jetzt schob sich ein Arm aus dem Gebüsch, ein Bein folgte und dann – stand ihre Mutter vor ihr.
„Dachte ich mir doch, dass du hier bist!“, rief die Mutter, „Hast du die Schlüssel genommen? Das solltest du doch nicht tun!“ Ihre Stimme klang sehr vorwurfsvoll.
Normalerweise wäre Mathida entweder beleidigt oder wütend geworden wegen der ungerechtfertigten Anschuldigung. Nun aber war sie einfach nur erleichtert und strahlte ihre Mutter an. Die Anspannung in ihrem Körper ließ schlagartig nach. „Nein, ich war noch gar nicht richtig drinnen“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Ich habe Schnee geschippt. Die ganze Einfahrt habe ich freigeräumt. Hast du das nicht bemerkt? Dann bin ich in den Garten und zur Hütte gegangen.“
„Das stimmt. Die Einfahrt ist ordentlich gesäubert! Danke dafür“, erwiderte ihre Mutter in freundlicherem Ton.
„Wo ist Max?“, fragte Mathida. Normalerweise machte er immer Krach und war nicht zu überhören. Bis zu diesem Augenblick hatte er jedoch noch keinen Pieps von sich gegeben. Es herrschte totale Ruhe.
„Heute Morgen haben sie im Kindergarten erzählt, dass sie am Nachmittag Trommeln basteln und da wollte er unbedingt mitmachen. Ich hole ihn erst später ab. Lass uns reingehen und eine Kleinigkeit essen!“ Sie legte ihren Arm um Mathidas Taille und schob sie sanft vorwärts.
„Können wir dann gemeinsam die Schlüssel durchprobieren?“, erkundigte sich Mathida vorsichtig. „Da nervt uns Max wenigstens nicht“, fügte sie hinzu. Sie schaute ihre Mutter an.
Diese musste lachen. „Ja, du hast Recht. Wahrscheinlich ist es besser, das gleich zu tun, bevor ich Max vom Kindergarten abhole. Dann sind wir viel schneller.“
Zufrieden lief Mathida neben ihrer Mutter her zur Haustür. Sie fühlte sich nun sicher und unendlich befreit. Und sie kam ihrem Wunsch, in das Spielhäuschen zu gelangen, einen Riesenschritt näher.
Nachdem die beiden gegessen hatten, prüften sie gemeinsam alle Schlüssel aus der Pappschachtel bei sämtlichen Zimmertüren durch; fast alle gehörten zu irgendeinem Türschloss. Am Ende blieben nur drei Schlüssel übrig, die nirgends passten. Mathida steckte sie in ihre Hosentasche.
„Es wird Zeit, Max abzuholen“, sagte Mathidas Mutter. Weil die Sonne immer noch herrlich schien, ging sie zu Fuß.
Das war eigentlich Mathidas Chance, allein die Hütte von innen zu durchstöbern. Doch sie dachte mit Unbehagen an den Unbekannten, der sich hinten im Garten herumtrieb. Deswegen begleitete sie lieber ihre Mutter und verschob die Besichtigung auf später. Da würde Max mit seinem Gegröle jeden Fremden sofort vertreiben.
Als Max im Kindergarten seine Mutter und seine Schwester erblickte, kam er mit zwei kleinen Trommeln angesaust. Wild trommelnd hüpfte er wie ein Gummiball um die beiden herum. „Schaut mal meine Trommeln an! Die hab ich ganz allein gebaut! Ich will heute endlich in die Hütte. Habt ihr schon die Schlüssel getestet?“
Mathida lachte. Wenn sie Max dabei hatte, würde sie tatsächlich jeden Eindringling aus Häuschen und Garten fortjagen. Das hielt ja kein normaler Mensch aus mit solch einem Radaumacher! Außerdem hoffte sie darauf, dass ihre Mutter die Kate auch einmal genauer ansehen wollte.
Auf dem Heimweg erzählte Max unentwegt von seinen Erlebnissen im Kindergarten. Er plapperte wie ein Wasserfall und ließ sowohl die Mutter als auch Mathida kaum zu Wort kommen.
Seine Geschichten interessierten Mathida nicht besonders und so begannen ihre Gedanken abzuschweifen. Sie dachte an die geheimnisvollen Fußspuren beim hinteren Gartentürchen. Wieso schlich sich jemand in ihren Garten? Wozu tat er das? Egal, wie lange sie hin und her überlegte, sie fand keine logische Erklärung dafür. Hätte jemand den Garten erkunden wollen, so hätte er weitergehen müssen.
Aber die Fußspuren endeten bereits bei der Hütte, und zwar an einer Stelle, wo es nicht möglich war, ins Innere zu gelangen. Hätte diese Person einen Schlüssel, müssten die Fußabdrücke bis zur Veranda führen. Dort waren jedoch keinerlei fremde Spuren gewesen. Nicht ein einziges Mal.
Das war alles sehr merkwürdig und es ließ Mathida keine Ruhe. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, es wollte ihr nicht gelingen. Ihre Gedanken kreisten um die geheimnisvollen Spuren im Schnee und irgendwann kam ihr in den Sinn, dass sie heute nicht darauf geachtet hatte, ob es sich wieder um zwei unterschiedliche Abdrücke handelte. Das musste sie unbedingt noch herausfinden!
Kaum hatten sie die Einfahrt erreicht, schlüpfte Max aus den Trägern seines kleinen Rucksacks, den er brav auf dem Rücken getragen hatte, und schmiss ihn in hohem Bogen auf den Weg. Dann rannte er sofort los in Richtung Hecke. Nach fünf Schritten hielt er kurz an, drehte sich um und schrie: „Mathida! Komm endlich! Hast du den Schlüssel?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern hüpfte einfach weiter und verschwand kurz darauf hinter den Sträuchern.
Mathidas Mutter hob den Rucksack auf und lief zur Haustüre. „Ich gehe ins Haus, Mathida. Ich muss noch aufräumen und putzen. Bleib du bei Max! Wenn es dunkel wird, kommt ihr beide rein!“
„Ja!“ Mathida nickte und folgte Max in den Garten. Mit ihrer rechten Hand schlüpfte sie in die Hosentasche und tastete nach den Schlüsseln.
Bis sie an der Hecke vorbei war, sprang Max schon fröhlich auf der Veranda herum und kreischte voller Ungeduld: „Mach schneller! Ich will hier rein!“ Zur Bestätigung rüttelte er wie besessen an der Klinke.
Mathidas Angst war wie weggeblasen. Sie lachte über das Benehmen ihres kleinen Bruders. Damit hatte er den oder die Unbekannten längst vertrieben! Er sah lustig aus, wie er mit seiner roten Jacke und der bunt geringelten Bommelmütze auf und ab sprang. „Du erinnerst mich an Rumpelstilzchen“, schmunzelte Mathida.
Max ignorierte ihre Bemerkung völlig und konzentrierte sich weiterhin auf den Türgriff. „Du gehst jetzt auf! Du gehst jetzt auf! Du – gehst – jetzt – auf! Jetzt!“, murmelte er beschwörend, was jedoch gar nichts änderte.
„Das geht so“, sagte Mathida und holte den ersten Schlüssel hervor. „Hokus, Pokus“, flüsterte sie und steckte ihn ins Schlüsselloch. Doch er passte nicht; sie konnte ihn nicht einmal ganz hineinstecken.
„Gib her! Ich kann das!“, grölte Max und entriss ihr den Schlüssel, um es dann nach zwei Versuchen aufzugeben.
Mathida grinste. „Meinst du, bei dir passt er, wenn ich ihn nicht ins Schloss gebracht habe, Herr Superschlau?!“
„Na ja, Mädchen sind technisch unbegabt. Zu manchen Dingen braucht es eben einen richtigen Mann“, belehrte Max seine Schwester.
„Du meinst, so einen wie dich, du Schrumpf-Männchen! Wo hast du denn diesen Spruch her?“, wollte Mathida wissen.
„Von Nils natürlich“, erwiderte Max prompt.
„Wer ist denn Nils?“, fragte sie nach.
„Ich hab doch vorhin die ganze Zeit von ihm erzählt“, gab Max zurück und blickte sie vorwurfsvoll an.
Inzwischen hatte Mathida den nächsten Schlüssel in das Türschloss gesteckt und er war mit Leichtigkeit hineingerutscht. Jetzt kam also der große Moment. „Fidibus“, verkündete sie und drehte ihn herum. Sie drückte die Klinke herunter und die Tür sprang ächzend auf.
Max schaute mit großen Augen und offenem Mund dabei zu. Er vergaß sogar, weiterzureden.
Mathida lachte voller Freude. Endlich konnte sie die Hütte betreten. Sie machte drei Schritte ins Innere und blieb wie erstarrt stehen.
Max, der sich an ihr vorbeigequetscht hatte, quiekte vor Schreck wie ein Schwein, das geschlachtet werden sollte.
In der Mitte des Raumes saßen zwei Gestalten auf einem alten Tisch.