Читать книгу Mathida und das Geheimnis des Russen - Bettina Hanke - Страница 7
5. Die zwei Gesichter des Fred Michel
ОглавлениеDer nächste Tag begann stürmisch. Ein kalter Ostwind blies heftig und rüttelte an Rollläden und allem, was sich nur ein wenig bewegen ließ. Die Bäume im Garten schaukelten hin und her und warfen dürre Ästchen auf den schneebedeckten Boden, als Mathida sich auf den Weg zur Schule machte. Der Wind pfiff und heulte um die Häuser. Er brachte auch die Straßenlaternen zum Schwanken, so dass Mathidas Schatten im fahlen Licht der Lampen hin und her tanzte. Der eisige Wind pustete ihr kräftig ins Gesicht, was ihr fast den Atem nahm.
Sie zog das Kinn tief in ihre Winterjacke und ging schneller als gewöhnlich. Trotz der unangenehmen Kälte nahm sie sich die Zeit, sich immer wieder umzudrehen und aufmerksam in jede Seitenstraße zu schauen, an der sie vorbeikam. Denn Fred Michel musste irgendwo hier in der Nähe wohnen. Möglicherweise hatten sie denselben Schulweg. Auch Tom sollte gerade zur Schule unterwegs sein. Aber sowohl von Tom als auch von Michel war weit und breit nichts zu sehen. Ob Tom eher losgelaufen war? Fred war höchstwahrscheinlich spät dran, wie es bei ihm üblich zu sein schien.
Dabei hätte sie ihn oder Tom gerne sofort über den mit Planen verhüllten Gegenstand ausgefragt. Was mochte sich unter dieser unförmigen Haube verbergen? Sie konnte es kaum erwarten, dieses Geheimnis zu lüften. Tom hatte ihre Neugier noch mehr angefacht, indem er davon als „einer längeren Geschichte“ gesprochen hatte. Das klang sehr rätselhaft. Aber Mathida traf Tom an diesem Morgen überhaupt nicht.
Michel sah sie erst in der Schule. Er kam gerade noch pünktlich mit offener Jacke und glühend roten Backen ins Klassenzimmer gestürmt, wo er sich sofort auf seinen Platz begab. Er würdigte Mathida keines Blickes und war genauso unaufmerksam und unruhig wie an den beiden vorangegangenen Schultagen.
Der gestrige Nachmittag erschien Mathida angesichts Freds gegenwärtigen Verhaltens nun unwirklich, so, als hätte sie alles nur geträumt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als die Klasse in der zweiten Stunde von Pfarrer Wälzel unterrichtet wurde.
Michel flüsterte angeregt mit seinem Banknachbarn und kippelte auf seinem Stuhl vor und zurück. Er baute Papierflieger, mit denen er seine Mitschüler beschoss. Er benahm sich einfach nur unmöglich. Kaum zu glauben, dass dies derselbe Junge sein sollte, mit dem sich Mathida gestern so gut unterhalten hatte.
Der Pfarrer tat so, als sei das alles ganz normal. Er ermahnte Michel nicht ein einziges Mal. Er ignorierte sein unerträgliches Benehmen durch die gesamte Unterrichtsstunde hindurch völlig. Auch sonst hatte er die Klasse in keiner Weise unter Kontrolle. Er hätte seine Ausführungen ebenso gut in einem leeren Raum von sich geben können, das hätte kaum einen Unterschied gemacht.
In den Pausen ärgerte Michel einige Mädchen aus seiner Klasse mit dreisten Sprüchen und bewarf sie aus dem Handgelenk heraus mit kleinen Stückchen seiner Laugenbrezel, die ihm eigentlich als Pausenbrot dienen sollte. Er tat das so geschickt, dass es der Lehrer, der in der Aula die Schüler beaufsichtigte, nicht bemerkte. Mathida belästigte er jedoch diesmal nicht.
Sie blieb von seinen hinterlistigen Attacken unbehelligt. Aufgrund seiner rüpelhaften Aktivitäten wagte sie es nicht, ihn auf die Werkstatt und den mysteriösen Gegenstand darin anzusprechen. Das hatte unter diesen Umständen keinen Sinn. Sie würde sich wohl oder übel bis zum Nachmittag gedulden müssen. Ebenso hielt sie es für klüger, Melanie und deren beiden Freundinnen Alisa und Lena nichts von alledem zu erzählen, solange sie die Mädchen nicht besser kannte. Stattdessen berichtete sie Lena und Melanie über die Zustände im Religionsunterricht.
Alisa lachte, als sie Mathida reden hörte: „Da gewöhnst du dich schon noch dran! Der Wälzel ist immer so. Am Anfang dacht‘ ich auch, das kann nicht sein, der tickt doch nicht richtig. Mein Vater sagt ohnehin immer, wer Pfarrer wird, ist nicht ganz normal im Kopf.“
„Na ja, bei eurem Wälzel stimmt das wohl“, bestätigte Melanie kichernd. „Wir haben auch einen Pfarrer im Reli-Unterricht, der ist ganz nett und hat auf jeden Fall alle Tassen im Schrank!“
„In meiner alten Schule hatten wir eine Frau in Religion, die war super! Sie hat uns auch Geschichten aus der Bibel erzählt. Sie hat das so interessant und spannend getan, dass keiner geschwätzt oder sonst irgendwelchen Unsinn getrieben hat!“, erklärte Mathida den drei Mädchen.
„Ist doch insgesamt trotzdem ein guter Tausch. Du musst zwar Herrn Wälzel zwei Stunden in der Woche ertragen, dafür bist du euren Knitterdrachen los“, erinnerte Alisa sie.
„Ja, das stimmt.“ Mathida lachte fröhlich. Zwei Stunden waren wirklich nicht viel und zudem empfand sie Religionslehre ohnehin als unwichtiges Beiwerk neben Fächern wie Mathe, Deutsch oder Heimatkunde. Vielleicht konnte sie sich tatsächlich daran gewöhnen, dass Herr Wälzel alle Kinder einfach gewähren ließ, wenn sie sich aufführten und Unfug trieben.
Nach dem Unterricht verließ Mathida wieder gemeinsam mit Lena, Alisa und Melanie das Schulgebäude. Während sie miteinander redeten, warf Mathida in regelmäßigen Abständen einen Blick hinter sich und beobachtete Fred Michel unauffällig.
Er schlenderte in einiger Entfernung gemütlich den Weg entlang, der zur Straße führte. Obwohl der Wind immer noch heftig blies und die Kälte sich beinahe unerträglich anfühlte, hatte er den Reißverschluss seiner Jacke nicht zugezogen. Seine Mütze steckte wie gewöhnlich in einer der Gesäßtaschen seiner Jeans.
Mathida fragte sich, wozu er sie überhaupt dabei hatte, denn auf seinem Kopf hatte sie diese bislang noch nicht gesehen.
Ihm gehörte offenbar alle Zeit der Welt. Er warf mit Schneebällen nach den Mädchen und einigen Buben seiner Klasse. Gleichzeitig unterhielt er sich mit dem Jungen aus der Parallelklasse, der im Fach Religion neben ihm gesessen war.
An der Straße angekommen blieben Mathida und ihre drei neuen Freundinnen stehen und plauderten weiter. Michel kam nach einer Weile näher, lief schließlich an ihnen vorbei und bog nach rechts ab: Dies war die Richtung, in der auch Mathidas Elternhaus stand. Er nahm keinerlei Notiz von den vier Mädchen, nicht einmal von Mathida. Er tat vielmehr so, als hätte er noch nie mit ihr gesprochen.
Eilig verabschiedete sich Mathida von den drei Klassenkameradinnen und folgte mit gebührendem Abstand. Viele weitere Kinder waren auf dem Heimweg, aber Michel redete mit keinem von ihnen. Er schlurfte in gemächlichem Tempo die Straße entlang. Mathida passte ihre Geschwindigkeit an, so dass sie ihm nicht näher kam, solange noch andere Schüler sie beobachten konnten. Nach und nach bogen immer mehr Kinder ab und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Endlich verschwand auch das letzte Schulkind in einer kleinen Gasse.
Mathida beschleunigte ihre Schritte und holte Fred nach wenigen Metern ein. „Hallo, Fred“, sagte sie freundlich. „In der Schule sprichst du wohl nicht so gerne mit Mädchen?“
Fred drehte sich um und überblickte die Straße hinter sich. Als er sich davon überzeugt hatte, dass niemand in der Nähe war, antwortete er. „Das ist uncool und schadet meinem Image.“
„Image?“, fragte Mathida belustigt. „Welches Ansehen hast du denn zu verlieren?“
Fred schaute sie kurz missmutig an, dann erwiderte er zögernd: „Dass ich ganz cool bin und dass mir Mädchen zu albern und blöde sind.“
„Aha, Mädchen sind dir zu blöde“, wiederholte Mathida. „Alle Mädchen? Denkst du das wirklich?“ Sie sah ihn prüfend an.
„Na ja, fast alle. Vielleicht gibt es ein paar Ausnahmen“, gab er zögerlich zurück. „Aber das müssen schließlich nicht alle wissen!“
„Aha“, sagte Mathida erneut.
„Was heißt denn hier dauernd ‚Aha‘?“, wollte Fred gereizt wissen. Es war offensichtlich, dass ihm diese Art von Fragen nicht sehr behagte, da er keine echten Argumente für seine Meinung vorweisen konnte.
Mathida, der seine Beklommenheit nicht entging, wechselte das Thema. „Was ist unter den Planen bei Tom versteckt?“, erkundigte sie sich anstatt auf Michels anklagende Frage einzugehen.
Sofort änderte sich Freds Gesichtsausdruck und er zeigte einmal mehr sein breites Grinsen. „Das würdest du wohl gerne wissen“, erwiderte er schelmisch. „Das soll dir Tom schon selbst erzählen. Am besten kommst du heute ohne den Gartenzwerg in unser Hauptquartier.“
„Kennst du das Geheimnis denn überhaupt? Ab wann seid ihr in der Hütte?“, hakte sie nach.
„Na klar weiß ich‘s. Ich war mit Tom schon einmal in der Werkstatt. Und was glaubst du, haben wir dort zuallererst gemacht?“ Fred blickte Mathida mit einem leicht überheblichen Lächeln selbstzufrieden an.
„Ich nehme an, ihr habt nachgesehen, was unter den Planen steckt“, kombinierte sie.
„Genau richtig! Der Kandidat hat hundert Punkte und gewinnt eine Käseglocke“, gab Michel grinsend zurück.
„Was?“ Mathida kicherte leise. „Den Spruch kenn ich gar nicht! Dabei bringt Max ständig neuen Quatsch vom Kindergarten mit. Ich werde allein kommen, wenn es irgendwie geht. Oft muss ich ihn aber beaufsichtigen – dann hab ich ihn wohl oder übel im Schlepptau.“
„Oh nein! Tu uns das bloß nicht an!“, heulte Fred gespielt und verdrehte die Augen. „Mir reicht schon Artur!“
„Der ist doch erst zwei. Der ist bestimmt so richtig süß und putzig“, verteidigte sie Michels kleinen Bruder. „Ich würde ihn gerne mal kennenlernen.“
„Ich kann ihn dir ja vorbeibringen, wenn ich das nächste Mal auf ihn aufpassen soll. Dann wirst du schon merken, wie nervig so ein zweijähriger Pimpf ist! Er will alles mitmachen und hat doch keine Ahnung. Andauernd plappert er unverständliches Zeug und wird wütend, wenn es nicht nach seinem Kopf geht. Dann verfolgt er mich brüllend und fällt mich an!“
Mathida lachte herzhaft bei der Vorstellung, wie ein ach so cooler Fred von einem zweijährigen Stöpsel attackiert wurde. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen und japste nach Luft, bevor sie erwiderte: „Das möchte ich mal mitbekommen! Das ist bestimmt urkomisch.“ Sie schüttelte sich vor Lachen.
Sogar Fred musste grinsen. „Na ja, manchmal ist Artur auch zum Grölen witzig! Und ab und zu ist er sogar richtig lieb und süß“, gab er endlich zu, „aber für echte Abenteuer ist er noch nicht zu gebrauchen.“
„Ja, das begreife ich. Ich hätte die Hütte gestern eigentlich lieber alleine erkundet, aber Max war nicht zu bremsen.“
Sie erwähnte wohlweislich mit keiner Silbe ihre Ängste angesichts der verdächtigen Spuren im Schnee. Sie wollte vor Michel nicht als hasenfüßiges Mädchen dastehen. Dann hätte sie wahrscheinlich ihre Chance verspielt, sich mit Tom und Fred an den Nachmittagen draußen herumzutreiben. Und das wollte sie auf gar keinen Fall. Kurz bevor Mathida in ihre Straße abbiegen musste, blieb Fred stehen.
„Ich wohne dort drüben“, erklärte er und zeigte auf einen von zwei großen Häuserblocks, die sich in einiger Entfernung halb rechts zwischen niedrigeren Gebäuden erhoben. „Ich gehe durch dieses Gässchen.“ Er wandte sich nun nach rechts, wo ein schmaler Pfad, der auf beiden Seiten von Häuserwänden begrenzt war, von der Durchgangsstraße weg führte. „Bis später“, sagte er und verschwand.
Mathida lief das letzte Stück ihres Weges allein und in Gedanken versunken. Zuhause begann sie sofort mit ihren Hausaufgaben, um so schnell wie möglich die beiden Buben treffen zu können. Sie arbeitete rasch und ordentlich und hatte bald alle Aufgaben erledigt. Anschließend bestrich sie noch eine Scheibe Brot mit etwas Butter, belegte sie mit Wurst und Käse und klappte eine zweite Brotscheibe darauf.
Sie zog sich warm an, schrieb für ihre Mutter auf einen Zettel: „Bin bei der Hütte. Treffe Fred und Tom.“, nahm dann ihre Stulle und ging nach draußen. Sie marschierte schnellen Schrittes durch den Garten. Unterwegs kam ihr jedoch der Gedanke, dass Fred ja genauso erst Hausaufgaben machen musste und dass er einen weiteren Weg zum Häuschen hatte als sie. Sie konnte sich also Zeit lassen.
Dennoch musste sie sich regelrecht dazu zwingen, langsamer zu laufen. Die Neugier und die Ungeduld trieben sie an. Beim Gehen biss sie vom Brot und angelte in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel, den sie sicherheitshalber gestern dort gelassen hatte. Wenn man einen kleinen, vorwitzigen Bruder hatte, war es besser, vorsichtig zu sein.
Sie erreichte die Kate und betrat die Veranda. Alles war noch still. Sie schloss auf und begab sich ins Innere des Raumes, davon ausgehend, dass er leer sein würde. Doch weit gefehlt!
Auf dem Tisch thronte bereits Fred. Er hielt ein Buch in seinen Händen und blätterte lustlos darin.
„Du bist schon da!“, stellte Mathida erstaunt fest. „Da hast du ja die Hausaufgaben im Eiltempo gemacht!“
Fred sah halb belustigt, halb verständnislos auf. „Hausaufgaben? Nö, dazu war ich vorhin nicht in der Stimmung. Hausaufgaben sind doof.“
Mathida sah ihn entsetzt an: „Heißt das, du hast noch gar nicht damit angefangen? Und da spazierst du einfach schon durch die Weltgeschichte!“ Mathida war es gewöhnt, stets zuerst die schulischen Pflichten zu erfüllen, um anschließend mit einem guten Gefühl bis zum Abend ihren persönlichen Interessen nachzugehen. Wie sollte sie ruhig und entspannt spielen können, wenn sie wusste, dass noch Hausaufgaben auf sie warteten? „Stört dich das nicht?“, fragte sie Fred deshalb jetzt.
„Was soll mich stören?“ Er schaute sie irritiert an.
„Dass du die Hausaufgaben noch machen musst. Du weißt doch gar nicht, wie lange du dazu brauchen wirst. Wann also willst du nach Hause gehen und damit anfangen?“ Sie blickte Fred besorgt an.
Er lachte höhnisch: „Du hast vielleicht Probleme. So wichtig ist der ganze Schulkram auch nicht. Ich mach sie schon irgendwann. Notfalls morgen früh.“ Er grinste siegesgewiss.
Mathida traute ihren Ohren kaum. „Morgen?“, wiederholte sie ungläubig. „Meinst du das ernst?“ Dann fiel ihr ein, dass Michel an den drei Schultagen, die sie nun hier erlebt hatte, jeden Morgen auf die allerletzte Minute im Klassenzimmer aufgetaucht war. Immer hatte er laut geschnauft, so als sei er zuvor gerannt. Möglicherweise, weil er vorher zu lange über den Hausaufgaben gesessen hatte. Dieser Michel war wirklich unglaublich!
„Wann kommt Tom?“, wollte Mathida wissen.
„Oh, der ist artig und brütet bestimmt gerade über seinen Hausaufgaben. Tom ist ein ganz braver Junge!“ In Freds Stimme schwangen Ironie und Bewunderung gleichermaßen mit.
„In welche Klasse geht er? Mir ist er in den Pausen noch gar nicht aufgefallen“, fuhr sie fort.
„Oh, er ist nicht in unserer Grundschule. Er geht schon in die Fünfte. Gymnasium. Ein ganz schlauer Bursche eben, unser Tomchen.“
Mathida glaubte, etwas Neid in Freds Worten zu bemerken und griff das Thema Schularten lieber nicht auf. „Was ist das für ein Buch?“, fragte sie stattdessen.
„Ach, das hat mir der alte Sticht vorhin geschenkt. Der ist ein bisschen wirr, aber sonst ganz okay.“
„Wer ist ‚der alte Sticht‘?“, erkundigte sich Mathida neugierig.
„Ein Nachbar. Jedenfalls fast.“ Fred sah sie nachdenklich an. „Du kennst hier noch niemanden, stimmt‘s? Sollen Tom und ich demnächst eine Stadtführung für dich machen, damit du die Leute hier in der Gegend kennenlernst?“
„Oh, ja!“, rief sie erfreut aus. Sie mochte Geschichten über andere Leute und das Ausplaudern derer Eigenheiten und Schwächen. Das war meist sehr interessant und oft gab es Erstaunliches zu entdecken.
„Das lässt sich bewerkstelligen“, brummte Fred gönnerhaft. „Nur nicht gerade heute bei diesem Ostwind. Da bekommen wir Tom bestimmt nicht vor die Tür. Wir wollen doch nicht, dass etwas aus seinem Superhirn weggeblasen wird. Das wäre schade für Tom“, frotzelte Michel vergnügt vor sich hin.
„Welche Schauermärchen erzählst du gerade über mich?“, ertönte eine Stimme von draußen her. Dann folgte ein Kratzen an der Rückwand, die Decke hob sich und Tom kroch herein zu ihnen. „Puh, ist das ungemütlich heute. Nur gut, dass ich es nicht so weit habe!“ Tom schüttelte sich kurz und heftig wie ein nasser Hund und öffnete den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig, so dass sein Hals zum Vorschein kam. „Freiheit für die Kehle“, kommentierte er sein Tun.
Michel grinste frech und zwinkerte Mathida zu. „Wie ich es vorhergesagt habe!“
Mathida musste unwillkürlich mitgrinsen.
„Was hast du vorhergesagt?“, fragte Tom.
„Dass du heute lieber am warmen Ofen bleibst“, unkte Fred.
Tom fing an zu lachen. „Ja, natürlich! Ich bin schließlich kein streunender Kater, so wie manch andere. Nur um niemanden anzuschauen“, betonte er und starrte Fred herausfordernd an.
Mathida lachte, dass ihr der Bauch wehtat. Die beiden Jungen waren echt zwei urkomische Gesellen! Sie wischte sich eine Freudenträne aus dem Auge und erklärte dann: „Fred hat mir eine Ortsbesichtigung mit Informationen über die Einwohner angeboten, aber er meinte, heute würde es dir wohl nicht passen.“
Sie lachte wieder und setzte mit leichter Ironie hinzu: „Ihr müsst euch aber lieb haben, so wie ihr euch neckt.“ Ihre Augen sprühten vor Vergnügen. Sie genoss diese Unterhaltung unendlich.
„Oh, sie hat uns durchschaut! Tom, sie hat es gemerkt! Ich gestehe, wir sind ein Liebespaar“, säuselte Fred leise und zog daraufhin seine Stirn in Falten. „Aber verrate uns nicht, wir sind nämlich noch minderjährig.“ Er rutschte zu Tom heran, der sich neben ihm auf dem Tisch niedergelassen hatte, und umarmte ihn flüchtig.
„Oh, du mein Angebeteter! Oh, du mein Anisgewürz, mein alter Kartoffelsack“, hauchte er, dann brachen beide Jungen in schallendes Gelächter aus. Fred wieherte wie ein Pferd, Tom gluckste, als hätte er einen sich überschlagenden Schluckauf, und auch Mathida kicherte unentwegt weiter.
„Ihr seid besser als Kino“, stammelte sie zwischen zwei Lachsalven, „Ich glaub, ich mach mir gleich in die Hose vor Lachen! Wo ist denn hier das WC?“
„Oh, Madame benötigt ein W – C! Da werden wir sie wohl nach Hause schicken müssen. Liebster, dann sind wir wieder in trauter Zweisamkeit“, witzelte Fred und probierte einen betörenden Augenaufschlag in Richtung Tom, was jedoch gründlich misslang.
Tom gluckste ausgelassen: „Ja, dann sind wir nicht mehr in zwauter Treisamkeit“, und alle drei prusteten erneut los.
Mathida spürte tatsächlich ihre Blase. „Ich flitz mal schnell nach vorne, bin gleich wieder da. Und dass ihr mir keine unerlaubten Dinge tut, meine liebestollen Minderjährigen! Wenn ich wieder da bin, möchte ich endlich Toms Geschichte über das Ungetüm in der Werkstatt hören. Oder ist das am Ende euer heimliches Liebesnest?“ Sie drehte sich um und verließ mit lautem Gekicher die Hütte.
Sie spürte kaum den kalten Ostwind, so warm war ihr vor Freude und Ausgelassenheit. Sie rannte mit offener Jacke durch den Garten und ins Haus. Ihre Mutter und ihr Bruder waren noch nicht da, alles war leer. Ihr Zettel lag unberührt im Windfang. „Was für ein Glück, liebes Fräulein Glück“, flüsterte sie sich selbst zu. Also würde niemand sie aufhalten! Und kein kleiner Bruder konnte dumme Fragen stellen!
Nur zwei Minuten später flitzte sie bereits wieder zurück zur Hütte. Ihre Backen glühten trotz der eisigen Luft und sie fühlte sich frei und glücklich. Es war wunderschön hier in Herlesgrün. Sie riss die Tür auf und rief: „Hier bin ich wieder!“
Tom und Fred hatten sich mittlerweile beruhigt und sahen sie erstaunt an.
„He, du bist ja schneller als ein getunter Blitz“, meinte Fred anerkennend und Tom nickte bestätigend.
„Da staunt ihr, was?“, protzte Mathida und wandte sich dann an Tom: „Also, was ist jetzt mit eurer Werkstatt? Was ist das da drinnen? Habt ihr das dort reingestellt und zugedeckt?“
„Nein, wir haben gar nichts versteckt. Das war alles schon so, als meine Eltern das Haus gekauft haben. Aber jetzt setz dich erst einmal. Das ist nämlich eine ziemlich lange Geschichte.“ Tom rutschte etwas näher an Fred heran, so dass Mathida neben ihm noch Platz fand.
Erst jetzt bemerkte sie, dass seine Jacke am Rücken ausgebeult war, so als hätte er einen Buckel. „Was ist da unter deiner Jacke?“, wollte sie wissen.
„Oh, gut dass du mich daran erinnerst.“ Er schlüpfte aus den Jackenärmeln und aus den Trägern eines kleinen Rucksacks, die sich darunter befanden. „Ich habe Tee mitgebracht.“ Er holte den Rucksack geschickt nach vorne, öffnete ihn vorsichtig und zog gleichzeitig seine Jacke wieder an. Es wirkte so, als habe er dies schon tausendmal geübt. Er griff in den Rucksack und nahm zunächst drei Edelstahlbecher heraus, anschließend eine Thermoskanne.
Fred rief: „Du hast sogar an eine Tasse für Mathida gedacht! Wow!“
Tom nickte und goss schweigend etwas von dem dampfend heißen Tee in jeden Becher. Ein verführerischer Duft nach Zimt und weiteren, für Mathida nicht identifizierbaren Gewürzen breitete sich in dem kleinen Raum aus. Tom teilte die Becher aus, dann fragte er: „Soll ich von Anfang an beginnen und alles erzählen?“
„Ja! Los jetzt!“, stimmte Mathida zu.