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2. Die Hütte

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Als Mathida zuhause ankam, war noch niemand da. Sie holte den Haustürschlüssel aus der Hosentasche und sperrte auf. Sie betrat den großen Windfang, setzte ihren Schulranzen ab und stellte ihn auf den Boden. Dann wollte sie ihre Schuhe ausziehen und bückte sich. In diesem Moment kam ihr ein Gedanke und sie hielt inne.

Kurz vor Schulschluss hatte es aufgehört zu schneien. Jetzt war draußen herrliches Wetter, die Sonne schien und der Schnee glitzerte verlockend. Genau richtig, um den Garten zu erkunden!

Seit dem Umzug waren ihre Eltern und sie im Haus beschäftigt gewesen. Zuerst hatten sie die Möbel nach und nach wieder zusammengebaut und an den richtigen Platz gestellt. Dann mussten sie die unzähligen Umzugskartons auspacken und alles an den richtigen Ort räumen. Sie hatten kaum Zeit für irgendetwas anderes gehabt. Und es standen immer noch jede Menge Kartons im Flur herum.

Wenn sie eine Pause brauchten, erkundeten sie zu Fuß die Stadt. Sie übten Mathidas Schulweg ein und suchten nach Geschäften. Und sie waren zum Rathaus gegangen, um sich in Herlesgrün anzumelden. Das war nämlich Pflicht, das wusste Mathida jetzt.

Jeder Einwohner musste gemeldet sein, dafür gab es im Rathaus ein eigenes Zimmer. An dessen Tür hing ein Schild: „Einwohnermeldeamt“. Mathida begriff zwar nicht so genau, warum jeder Mensch sich dort „melden“ musste, aber das wollte ihr Vater ihr noch erklären.

Nun also steckte sie den Haustürschlüssel zurück in die Hosentasche und schlüpfte hinaus. Sie zog die Türe zu und sah sich um. Dies war ein großer Garten. Bevor sie hierher gezogen waren, hatten sie in einer Mietswohnung in einem großen Haus gelebt. Zu dem Gebäude dort gehörte zwar eine kleine Grünfläche, aber die durfte von allen Mietern gemeinsam benutzt, jedoch nicht verändert werden. Dies hier hingegen war etwas ganz anderes: Es war ihr eigener Garten, wo sie tun und lassen konnte, was sie wollte.

Das Anwesen grenzte zu beiden Seiten des Hauses jeweils nach wenigen Metern an die Nachbargrundstücke, aber hinter dem Haus erstreckte sich der Garten in die Tiefe. Die Laubbäume, die in ihm standen, erschienen Mathida so ohne Blätter und voller Schnee wie aus einer anderen Welt und weckten ihre Neugier. Sie stapfte los, um ihre Erkundung bis zum rückwärtigen Ende auszudehnen.

Nach hinten wurde das Grundstück immer breiter. An beiden Seiten befanden sich Sträucher und Büsche, die zu einer dichten Hecke gewachsen waren. Jetzt, da sie kahle Äste hatten, erkannte Mathida dahinter jeweils einen Maschendrahtzaun.

In nahezu rechtem Winkel zu diesen beiden Gebüschen stand parallel zum Haus ebenfalls eine Hecke, die den Garten in zwei Bereiche unterteilte. Die Hecke war an mindestens vier Stellen unterbrochen, so dass man in den hinteren Teil des Gartens gelangen konnte. Ihre Höhe entsprach ungefähr der Körpergröße von Mathidas Vater. Und der war ein sehr großer Mann.

Noch bemerkenswerter jedoch war, dass die Hecke jetzt im tiefsten Winter immer noch ihre Blätter trug. Damit verbarg sie auch in dieser Jahreszeit den hinteren Bereich des Grundstücks vor jedem Blick. Da, wo sich in der Hecke Durchgänge befanden, waren, drei bis vier Meter zurückgesetzt, ebenfalls kleine blickdichte Heckenstücke gewachsen.

Deshalb konnte Mathida auch hier nicht zum rückwärtigen Gartenzaun schauen. Was versteckte sich hinter der Hecke? Sie musste dorthin, egal, wie mühsam der Weg durch den tiefen Schnee auch sein mochte.

Mathida lief durch das unberührte Weiß auf eine der Öffnungen zu, um in den dahinter liegenden Gartenabschnitt zu gelangen. Sie durchquerte den Durchlass und stapfte um das kleine zurückgesetzte Buschwerk herum. Dann stieß sie einen Schrei des Entzückens aus.

Weit hinten, nahe beim Zaun, erhob sich eine schiefergedeckte Holzhütte. Eine kleine, überdachte Veranda erstreckte sich über ungefähr zwei Drittel der Hüttenfront. Auf der rechten Seite schloss sich an das Verandageländer die vordere Wand an.

Die Kate hatte wohl schon bessere Tage erlebt, denn mehrere Bretter waren morsch, einige hingen herunter. Auch die Schiefer auf dem Dach waren nicht vollständig. Teilweise fehlten nur Ecken oder Nägel, so dass sie schief auf dem Dach hingen. zum Teil fehlten sie auch ganz und hatten Lücken hinterlassen, die die Sicht auf eine rissige Dachpappe freigaben.

Eines der beiden Fenster, die rechts und links der Eingangstür angeordnet waren, stand einen Spalt breit offen, die Scheibe war voller Sprünge und Risse. Trotzdem fand Mathida diese Hütte wunderschön. Sie hatte sogar einen kleinen Schornstein, der mitten auf dem Dach thronte.

Vor dem Holzhäuschen lag der Schnee über die gesamte Breite noch höher. Er sah aus wie ein kleines Mäuerchen, das die Hütte schützen wollte. Dieser Wall bestand aus dem Schnee, der, durch die Sonne erwärmt, vom Dach heruntergerutscht war.

Mathida rannte zu dem kleinen Gebäude, watete ohne Zögern durch die Schneemauer, stieg die drei Stufen zur Veranda hoch und ging eilig zur Tür. Sie drückte die Klinke herunter. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen.

„Och“, murmelte sie enttäuscht vor sich hin. Sie machte einen Schritt zur Seite, um durch das geschlossene Fenster ins Innere zu spähen. Aber hinter der Glasscheibe war es finster. Mathida, deren Augen sich auf das helle Sonnenlicht eingestellt hatten, konnte nichts erkennen. Das zweite Fenster stand zwar einen Spalt breit offen, doch auch hier gelang ihr kein Blick ins Innere. Sie hätte es weiter aufstoßen können, ließ es aber bleiben aus Angst, sich am zerbrochenen Glas zu verletzen oder das Fenster noch mehr zu beschädigen.

Mathida setzte sich auf das Geländer der Veranda und stellte sich vor, dies hier wäre ihre Spielhütte. Sie wäre eingeteilt und eingerichtet wie ein kleines Haus und sogar mit einem Ofen, auf dem sie kochen konnte. Na gut, Wasser hatte sie natürlich nicht, das musste sie dann eben mitbringen. Oder einen Brunnen graben. An die Fenster würde sie bunte Gardinen in den leuchtendsten Farben hängen, auf die Fensterbretter könnte sie ein paar schöne Blumentöpfe stellen. Doch gab es in einer Holzhütte überhaupt Fenstersimse? Sie wusste es nicht. Wenn sie doch nur irgendwie hineinkäme, dann könnte sie es herausfinden.

Gedankenverloren stand Mathida auf. Sie wollte um die Hütte herumlaufen und nachschauen, ob es noch eine andere Möglichkeit gab, das Holzhäuschen zu betreten. Oder wenigstens einen Blick ins Innere zu erhaschen.

Langsam ging sie über die feuchten, glitschigen Verandabohlen zurück zu den Stufen und begab sich wieder in den Schnee. Sie begann ihre Umrundung zur linken Seite hin, so dass sie zunächst um die Verandaecke stapfte.

An der Wand, die sie hier sah, waren weder Tür noch Fenster zu erkennen. Stattdessen war eine rechteckige Stelle mit ungleichmäßig zugesägten Brettchen verunstaltet worden. Möglicherweise hatte es hier früher ein Fenster gegeben. Mathida lief weiter und gelangte zur Rückseite der Hütte.

Hier bot sich das gleiche Bild sogar doppelt: zwei zugenagelte Rechtecke, und auch da war kein Fachmann am Werk gewesen. Eine Tür gab es nicht. Zwischen den beiden geflickten Stellen lehnten lediglich große Spanplatten an der Wand, die aber eher wellig als plan waren. Sie trugen kleine Schneehäubchen.

Erstaunt sah Mathida, wie viel Platz sogar hinter der Hütte noch bis zum Ende des Grundstücks war. Und sie entdeckte ein Türchen im Gartenzaun.

Wie interessant! Hinter dem Zaun befanden sich weder ein Weg oder Pfad noch eine Straße, sondern nur ein weiteres Privatgrundstück. Darauf gab es einen gemauerten Flachbau mit großen Fensterflächen. Dieser erinnerte Mathida an eine alte Schreinerwerkstatt oder ähnliches. Viel weiter vorne in dem Anwesen erhob sich ein zweistöckiges Wohnhaus, das jedoch auf diese Entfernung nicht gut zu erkennen war, vor allem, weil die Sonne genau über dem Gebäude hell am Himmel stand und blendete.

Mathida drehte sich wieder um und setzte ihren Weg fort.

Sie erreichte die andere rückwärtige Ecke und somit die vierte Seite der Hütte. Auf dieser Wandfläche gab es keine zugenagelten Fenster, aber dafür eine schmale Tür, die von einem Riegel zugehalten wurde. Und an dem Riegel hing kein Schloss! „Juhu!“ Mathida vollführte einen Freudensprung.

Jetzt konnte sie ihr zukünftiges Spielhaus besichtigen! Sie öffnete den Eisenriegel, der mit Raureif überzogen war und sich nur schwer bewegen ließ. Ihre Hände wurden eiskalt und steif bei dieser Tätigkeit. Sie achtete nicht darauf. Stattdessen zog und zerrte sie, bis der Riegel Zentimeter für Zentimeter nachgab. Schließlich ging die Tür knarrend auf und Mathida betrat das Innere.

Doch sie befand sich nicht in dem Zimmer mit den Fenstern, sondern in einem kleinen, finsteren Nebenraum ohne Durchgang zur restlichen Hütte.

„Och, schade“, murmelte sie und sah sich in dem Raum um.

Er erstreckte sich über die gesamte Seitenlänge der Hütte, war aber nur ungefähr eineinhalb Meter tief. Er war komplett leer. Die Innenwand schien stabil zu sein. Nur ziemlich weit links war ein kleines Stückchen aus einer Latte herausgebrochen und ließ etwas Licht herein. Mathida musste sich bücken, um durch die Öffnung lugen zu können. Dahinter erkannte sie die Veranda. Es war wie verhext! Es wollte ihr einfach nicht gelingen, in den „Wohnraum“ ihrer Spielhütte zu blicken. Sie seufzte, wandte sich um und verließ den Raum.

Achtsam schloss Mathida die Tür und den Riegel. Dann begab sie sich erneut vor das kleine Holzgebäude und sah sich den hinteren Teil des Gartens näher an. Eine große Delle im Gelände erinnerte sie an einen Teich, aus dem man das Wasser abgelassen hatte. Da der Schnee alles zudeckte, konnte sie jedoch nur raten. Vielleicht war es ja auch einfach eine natürliche Vertiefung, denn ganz eben war der Boden unter ihren Füßen nicht.

Zur Hälfte um diese Mulde herum ragte eine kleine Steinmauer in die Höhe, die zwar eine Schneehaube trug, von vorne jedoch gut zu erkennen war. Die Steine sahen aus wie gewöhnliche Feldsteine: Da gab es helle und dunkle, größere und kleinere, mit glatten und mit rauen Stellen in den verschiedensten Formen.

Als Mathida ihre Erkundungstour fortsetzen wollte, ertönte Geschrei von der Einfahrt her. Sie schreckte auf. Das war eindeutig ihr Bruder Max, der anscheinend wieder einmal anderer Meinung war als die Mutter. Schnell lief Mathida zurück zur Hecke, schlüpfte durch eine der Öffnungen hindurch und rannte dann nach vorne zum Haus.

Ihre Mutter hatte die Haustür bereits aufgesperrt, aber ihr Bruder dachte offenbar nicht daran, das Gebäude zu betreten. Er hatte im Schnee schon unzählige Spuren hinterlassen. Er probierte gerade, sich der Mutter zu entwinden, die ihn fest an der Hand hielt und hinter sich her zog. Er stemmte sich dagegen und begleitete seine Anstrengung mit lautem Gebrüll.

Flink eilte Mathida auf die beiden zu und rief: „Hallo! Ich habe mir eben den Garten angeschaut!“

Als Max sie sah, war er augenblicklich still. Er stand nicht mehr im Mittelpunkt. Außerdem wollte er unbedingt alles mitbekommen, was sie zu erzählen hatte. Kleine Brüder wie Max waren nämlich sehr wissensdurstig und neugierig. Er lief jetzt auch brav an der Hand ihrer Mutter auf die Haustüre zu und lauschte, was sie, Mathida, außer Atem berichtete.

Mathida erzählte aufgeregt von dem Holzhäuschen hinter der großen Hecke. Sie erklärte ihrer Mutter, dass sie die Hütte gerne als ihr Spielhaus nutzen würde. „Sie muss aber repariert werden! Und wir müssen den Schlüssel finden, weil die Tür abgesperrt ist! Waren da nicht irgendwo im Haus ganz viele Schlüssel?“

Die Augen von Max wurden immer größer. Auch er wollte diese Hütte unbedingt sehen. „Gehen wir jetzt gleich zu der Hütte?“, bettelte er. „Du willst sie bestimmt auch anschauen, Mams! Bitte, bitte!“

Doch die Mutter schüttelte lachend den Kopf. „Ich habe sie aus dem Fenster im ersten Stockwerk gesehen, als wir das Haus besichtigten. Vom Obergeschoss aus könnt ihr das gesamte Grundstück überblicken. Ihr könnt den Garten von oben betrachten, sobald wir mit der Reparatur der Treppe fertig sind“, meinte sie.

Daran hatte Mathida noch gar nicht gedacht. Natürlich war die Hecke nicht annähernd so hoch wie das Haus! Und solange die morschen Stufen der alten, großen Holztreppe nicht erneuert waren, wohnte die Familie ausschließlich im Erdgeschoss, wo man aus dem Fenster nur die dichte Hecke sah.

„Ich will aber jetzt die Hütte angucken!“, quengelte Max.

„Nein. Wir gehen rein und essen eine Kleinigkeit“, bestimmte ihre Mutter auf die geöffnete Haustür zeigend. „Danach macht Mathida ihre Hausaufgaben. Und dann können wir alle drei den Garten erkunden. Mathidas Schulhefte kaufen wir eben erst abends ein, wenn die Sonne untergegangen ist.“

Max brummte noch einmal tief, gab sich aber mit der Aussicht auf die nachmittägliche Erforschung des Anwesens zufrieden. Zudem erklärte er nun, dass sich sein Bauch ganz leer anfühle und knurre. Auch, wenn er es nicht zugab, war er bestimmt froh, erst etwas essen zu können, dieser kleine Vielfraß!

Als Mathida ihre Hausaufgaben fertig hatte, schneite es wieder. In der Einfahrt wuchs die Schneeschicht rasch.

„Ich räume erst einmal die Einfahrt frei“, verkündete Mathidas Mutter, „du kannst mit Max schon auf Entdeckungstour durch den Garten gehen! Und, Mathida, pass auf ihn auf!“

„Zeig mir die Hütte!“, schrie Max voller Begeisterung und Vorfreude.

„Komm mit!“ Mathida hüpfte durch den Schnee auf die Hecke zu. Max folgte ihr ohne Umwege. Die beiden durchquerten die Öffnung im Buschwerk.

Als Max das Häuschen entdeckte, rief er zutiefst entzückt aus: „Ja, ja, ja! Jaaa! Ich komme und erobere dich! Ich nehme die Burg ein!“ Lachend und kreischend rannte er auf die Hütte zu. Er stolperte über die Schneemauer vor ihm, rappelte sich wieder auf und galoppierte, weiß wie ein Schneemann, die Stufen zur Veranda hoch. Oben angekommen rutschte er auf den glatten Holzbohlen aus und landete auf dem Gesäß. Er unterbrach augenblicklich sein wildes Gejohle und sah etwas verdattert aus.

„Du Spinner!“, kommentierte Mathida sein Gebaren und musste einfach nur lachen. Kleine Brüder waren manchmal wirklich urkomisch!

Max schnitt ihr eine Grimasse und stand wieder auf. Er ging auf die Tür zu und rüttelte daran. Nichts passierte.

„Ich hab doch gesagt, dass sie abgeschlossen ist“, erklärte Mathida belehrend.

„Ich will aber da rein“, antwortete Max ihr in vorwurfsvollem Ton, „und das schaffe ich schon irgendwie.“

Mathida wollte ihm antworten, da fiel ihr ein, dass sie am Mittag etwas vergessen hatte. Nämlich nachzuschauen, ob das Gartentürchen hinten am Zaun, das in den Nachbargarten führte, auch ein Schloss besaß.

Also ließ sie ihren Bruder auf der Veranda allein zurück und ging um die Hütte herum direkt auf das Türchen zu. Erstaunt bemerkte sie, dass es einen Spalt breit offen stand. Dass ihr das vorhin nicht aufgefallen war! Nein, heute Mittag hatte es nicht in den Garten hereingeragt, das wusste sie auf jeden Fall. Oder doch nicht? Mathida war sich nicht mehr ganz sicher.

Aber als sie näher kam, wuchs ihre Verwunderung noch. Da waren eindeutig Fußspuren im Schnee, die vom Gartentürchen zur Rückseite des Häuschens führten und dann wieder zurück. Sie endeten genau vor den Spanplatten, die an der Wand lehnten.

Hatte sie diese Spuren am Mittag ebenfalls übersehen? Da sah sie, dass die Platten keine Schneehäubchen mehr trugen. Der Schnee auf ihnen glich jetzt eher einer dünnen Puderzuckerschicht. Auch lehnten die Platten nicht mehr so ordentlich hintereinander an der Hütte, sondern jeweils um ein paar Zentimeter versetzt. Mathida zählte vier Spanplatten.

Es war eindeutig! Hier war seit dem Mittag jemand gewesen! Wer schlich sich da heimlich in ihren Garten? Und was wollte derjenige vor der Holzhütte? Hatte er vielleicht eine Spanplatte geholt?

Sie schaute sich die Fußstapfen im Schnee noch einmal genauer an. Diese Spuren waren zwar leicht zugeschneit, aber eben nur leicht. Deshalb konnte sie deutlich erkennen, dass es sich um zwei verschiedene Schuhabdrücke handelte. Die einen waren größer als die anderen und auch die Muster der Schuhsohlen wichen deutlich voneinander ab. Es mussten also zwei Personen hier gewesen sein. Und das am helllichten Tag!

Langsam drehte Mathida sich um die eigene Achse und kontrollierte mit ihrem Blick das Nachbargrundstück. Niemand war zu sehen, alles war ruhig. Aus dem Schornstein des Wohnhauses, das weit vorne stand, stieg eine dünne Rauchsäule senkrecht in die Höhe. Das Haus war folglich bewohnt, so wie sie es ohnehin vermutet hatte.

Ob sie den Spuren durch den Nachbargarten folgen sollte, um herauszufinden, wohin diese führten? Aber nein, ihr Bruder Max stand ja nach wie vor lärmend auf der Veranda und würde sie bestimmt verpetzen. Außerdem hatte sie bei dem Gedanken ein mulmiges Gefühl. Immerhin handelte es sich um einen fremden Garten, der sie nichts anging.

Mathida verweilte noch einen Augenblick unentschlossen am Gartentürchen. Da fiel ihr Blick auf die Sonne, die sich im Westen schon ganz tief am Himmel befand und sich rötlich färbte. Ihr Licht war bereits schwächer geworden und die Dämmerung stand kurz bevor. Damit war es für Mathida klar: Es hatte keinen Sinn, den Spuren nachzugehen. Die untergehende Sonne hatte ihr die Entscheidung abgenommen. Wieder lief Mathida um das Häuschen herum.

Max rüttelte und zog immer noch erfolglos an der Tür.

„Max, es wird dunkel. Wir gehen jetzt zurück zu Mutti“, erklärte sie so sachlich und energisch wie Eltern ihrem Kind.

„Aber ich will da rein!“, kreischte Max und schüttelte noch fester, doch die Tür hielt ihm stand.

„Ich möchte auch gerne in die Hütte schauen, aber du merkst doch selbst, dass die Tür sich nicht öffnen lässt“, entgegnete Mathida. „Und obendrein würden wir drinnen ohne Licht gar nichts mehr erkennen.“ Sie drehte sich um und stapfte einfach los in Richtung der Hecke.

Max beobachtete das und quietschte noch einmal laut, um dann widerwillig hinterher zu trotten. Als die beiden zur Einfahrt kamen, war diese bereits gründlich vom Schnee befreit. Am Haus war die Außenleuchte eingeschaltet und die Haustür stand einige Zentimeter weit offen.

Mathida lief mit großen Schritten zur Tür und rief ihrer Mutter.

Diese hatte schon auf sie und Max gewartet und kam mit der großen Einkaufstasche heraus. „Jetzt kaufen wir die Schulhefte“, sagte sie und schloss das Auto auf.

Als sie mit ihren Einkäufen zurückkamen, war Mathidas Vater zuhause. Statt einer Begrüßung bestürmte Mathida ihn sofort mit Fragen: „Hast du die Hütte im Garten schon gesehen, Paps? Da ist die Tür abgesperrt. Hast du einen Schlüssel dafür? Oder liegen irgendwo hier im Haus Schlüssel herum, die wir mal ausprobieren können? Ich möchte so gerne in die Hütte schauen! Kann ich sie als Spielhaus einrichten?“

„Ich auch! Ich will da auch rein!“, rief Max aufgeregt dazwischen.

Ihr Vater lachte. „Na, das ist ja eine komische Art, seinen Vater zu begrüßen! Zuerst einmal sagt man hallo! Ja, ich habe die Hütte schon gesehen, aber ich weiß auch nicht, wo der Schlüssel für die Tür ist.“ Er wandte sich der Mutter zu, die in diesem Moment hereinkam.

Sie trug die große Einkaufstasche herein sowie einen Plastikkorb mit Lebensmitteln, die die drei gerade im Supermarkt geholt hatten. Die Eltern umarmten sich, dann mischte sich Mathidas Mutter in das Gespräch ein:

„Steht nicht im Keller eine Kiste mit allerhand Kleinkram, in der auch Schlüssel liegen?“

Noch bevor der Vater antworten konnte, stürmte Max schon zur Kellertür, riss sie auf und wollte die Treppe hinunterrennen. Doch seine Mutter erwischte ihn rechtzeitig am Arm und hielt ihn fest. „Du bleibst hier“, bestimmte sie. „Erst probieren euer Vater und ich die Schlüssel hier im Haus an den Zimmertüren durch, danach dürft ihr meinetwegen diejenigen, die nirgends gepasst haben, bekommen und bei der Hütte weitermachen!“

„Fangt ihr bitte gleich damit an! Bitte, bitte!“, bettelte Max und sah erst den Vater und danach die Mutter mit flehendem Blick an.

„Nein, heute nicht mehr. Wir essen nun zu Abend, dann beschriftet Mathida ihre neuen Hefte und überträgt die Hausaufgaben. Solange darfst du dann spielen. Und danach geht es für euch beide sofort ab ins Bett!“, antwortete ihre Mutter unbeeindruckt.

„Och, Manno“, knurrte Max beleidigt. „Immer müsst ihr erst irgendetwas anderes machen! Ihr seid gemein! Blöde Erwachsene!“

Auch Mathida war enttäuscht, aber sie schwieg. Sie wusste, dass Gejammer im Moment zu gar nichts führen würde. Außerdem war es draußen stockfinster und damit unsinnig, die Schlüssel zu testen. Vielleicht konnte sie ja ihren Vater beim Zubettgehen doch davon überzeugen, die Schlüssel noch am selben Abend auszuprobieren. Wenn sie ganz brav war und auf ihre Eltern hörte, hatte sie möglicherweise mehr Erfolg. Denn sie wollte unbedingt morgen das Innere des Holzhäuschens inspizieren. Und zwar am besten allein, bevor Max nach Hause kam und sie ständig störte.

Als sie im Bett lag, kam ihr Vater wie so oft noch einmal zu ihr, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Max schlummerte schon friedlich in seinem Bett.

„Paps“, begann Mathida müde und rieb sich die Augen.

„Ach Mathildchen“, unterbrach ihr Vater sie, „du brauchst jetzt nicht wieder von den Schlüsseln anzufangen. Heute hatte ich einen anstrengenden Tag. Ich möchte mich einfach noch ein wenig mit deiner Mutter zusammen hinsetzen, bevor ich zu Bett gehe. Heute probiere ich keinen Schlüssel mehr aus.“

„Schade, Paps! Ich würde so gerne in die Hütte hineinkommen und sie mir genau anschauen. Kannst du die Schachtel wirklich nicht raufholen, und die Schlösser durchtesten?“ Mathida blickte ihren Vater freundlich bittend an.

„Nein, mein Schatz“, erwiderte er und strich ihr zärtlich über den Kopf.

Mathida seufzte tief und wiederholte: „Schade, Paps. Das ist so schade!“ Dann seufzte sie ein zweites Mal steinerweichend.

Ihr Vater lächelte. „Na gut. Ich suche die Schlüssel heraus und gebe sie deiner Mutter. Dann könnt ihr sie morgen Nachmittag alle ausprobieren, falls ihr Zeit dazu habt. Ist das in Ordnung?“

„Danke, Paps!“, rief Mathida begeistert aus. Sie hatte es ja gewusst! Ihr Vater war der beste Vater auf der ganzen Welt! Sie freute sich schon so auf die Erkundung der Hütte. Sie musste es nur so hinbekommen, dass es morgen schon dunkel war, bis sie die Schlüssel alle geprüft haben würden. Dann konnte sie zwar erst übermorgen in ihr Spielhaus, aber dafür ohne Max. Zufrieden räkelte sich Mathida noch einmal und kuschelte sich dann gemütlich in ihre warme Decke.

„Gute Nacht, Paps! Danke!“

„Gute Nacht, mein Mädchen.“ Ihr Vater stand vom Bettrand auf und ging zur Tür.

Für Mathida endete ein ereignisreicher Tag mit vielen neuen Eindrücken. Sie spürte die Müdigkeit in sich und genoss diesen Augenblick vor dem Einschlafen im warmen Bett.


Mathida und das Geheimnis des Russen

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