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KAPITEL 2
ОглавлениеWährend der Lobgesänge der Terz schielte Enderlin zu den Klosterschülern, die sich in den hinteren Reihen aneinanderquetschten. Viele junge Bengel und zwei Ältere, die wohl zehn Lenze zählten. Einer mit schwarzen Haaren, aufmerksamen Augen und einer kräftigen Stimme. Der andere blond und schmächtig. Er ließ die Schultern hängen, den Blick nach unten gerichtet, hielt den Mund bei den Gesängen geschlossen.
Ja, der Blonde schien ihm geeignet. Sicherlich benötigte er noch ein geistliches Vorbild und würde sich an ein Versprechen und Verschwiegenheit halten, wenn er im Gegenzug in die Gebete eines Mönches eingeschlossen wurde. Bei den Fürbitten bat Enderlin in Gedanken um Gottes Beistand und Führung für sein Vorhaben. Heute war der Tag. Hoffentlich würde der Brief sein Ziel erreichen.
Während des Auszuges aus der Abteikirche behielt Enderlin den Blondschopf im Auge. Der Schwarzhaarige flüsterte ihm etwas zu. Brachte Bruder Gregor seinen Zöglingen keine gottesfürchtige Demut bei?
Enderlin holte die Putzsachen und folgte den Scholaren in das Schulgebäude. Heute war er für die Säuberung des Eingangsbereichs zuständig. Er seufzte. Dicke Lehmklumpen und Stroh klebten am Boden. Die Schüler hatten noch nicht gelernt, ihre Schritte mit Bedacht zu setzen, und trugen den ganzen Morast mit herein.
Enderlin fegte den groben Schmutz zusammen. In der angrenzenden Kammer sangen die Zöglinge den vierten Psalm.
»Irascimini et nolite peccare quae dicitis in cordibus vestris in cubilibus vestris conpungimini diapsalma.« – Zürnet und sündigt nicht! Denkt nach in eurem Herzen und auf eurem Lager und werdet still.
Da sangen sie vom Schweigegebot Gottes. Wieso hielten sie sich nicht daran? Wenn er die Scholaren unterrichten würde, würden sie lernen, Gottes Gebote zu wahren.
Was dachte er da nur? Er war ja kein Magister. Aber alles war besser als das Putzen. Gern hätte er wieder im Brauhaus gearbeitet wie vor fünf Jahren, bevor er als Subprior die rechte Hand des Inquisitors geworden war. Doch auch diese Tätigkeit gedachte ihm der Prior nicht wieder zu übertragen.
Enderlin kehrte den Dreck nach draußen, gab Scheuersand und Wasser auf den Boden und machte sich daran, die Steinplatten zu bearbeiten. Lange würde es nicht mehr dauern. Dann konnte ein anderer Bruder das Putzen übernehmen, und der Prior würde ihm die Füße küssen und ihm jede Tätigkeit zusprechen, die er erbat.
Es wurde still in der Schulstube, wahrscheinlich mussten die Schüler nun den Psalm auf ihre Wachstafeln schreiben. Bald würden sie hier an ihm vorbeikommen. Bruder Gregor ließ seine Zöglinge jeden Tag im Klostergarten arbeiten. Doch heute schien der Ordensbruder die Bengel lange an den Schreibübungen sitzen zu lassen.
Auch als Enderlin mit dem Boden fertig war, hatte sich die Tür noch nicht gerührt. Musste er sein Vorhaben verschieben? Er brachte das Putzzeug in den Schuppen und begab sich zu den zwei Brüdern im Klostergarten. Der süßlich-herbe Braugeruch wehte vom angrenzenden Brauhaus herüber und entführte ihn in vergangene Zeiten, als der Erdkreis noch an seiner richtigen Stelle schwamm.
Enderlin schob die Gedanken beiseite. Mit schnellen Bewegungen zupfte er das Unkraut aus der Erde und hielt dabei die Schule im Auge.
Endlich kam Gregor mit den Scholaren heraus. Die Zöglinge gesellten sich zu ihnen und begannen mit der Gartenarbeit. Der Magister begab sich zur Latrine, während die zwei großen Jungen mit Eimern zum Brunnen schlenderten, der sich zehn Schritte neben dem Abort befand. Enderlin folgte den beiden. In Gedanken bat er Gott um Vergebung für das Brechen des Schweigegebots.
Die Scholaren ließen einen Eimer in den Brunnen hinab. Sie sahen Enderlin überrascht an, als er zu ihnen trat. »Auf ein Wort«, sagte er an den Blonden gewandt. Die zwei tauschten verwirrte Blicke. Enderlin machte dem Schwarzhaarigen mit einer Kopfbewegung deutlich, dass er zurück in den Garten verschwinden sollte. Kurz zögerte er, dann zog er ab. Enderlin half dem Blondschopf, den vollen Bottich hinaufzuziehen.
»Kennst du den Brauer Sebalt Magnus?«, flüsterte er, damit die Brüder im Klostergarten ihn nicht hören konnten. Er schielte zur Latrine, doch Bruder Gregor war noch nicht herausgekommen.
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Kennst du die Schaafenpforte nahe Sankt Aposteln?«
Diesmal nickte der Kleine. Dem HERRN sei Dank.
»Frag nach dem Haus an der alten Eiche. Dort wirst du Familie Magnus antreffen.«
Ob Magnus immer noch im Heim seiner Eltern weilte, war fraglich, doch würde die Nachricht dennoch ihren Empfänger erreichen. Geschwind zog Enderlin den Brief aus der Kutte und hielt ihn dem Jungen hin. Dieser starrte das Papier an und rührte sich nicht.
»Verwahre ihn gut und sprich mit niemandem ein Wort darüber. Dann werde ich dich in meine Gebete einschließen, und Gott wird dich mit Klugheit und Weisheit segnen, sodass dir die Schreibübungen bald zügiger von der Hand gehen als deinem Freund.«
Der Junge schielte zu den anderen Scholaren im Garten, mit einer ungeahnten Sehnsucht in den Augen. Gott hatte Enderlin anscheinend die richtigen Worte in den Mund gelegt.
In dem Moment, als der Junge den Brief an sich nahm und unter sein Wams steckte, trat Gregor aus der Latrine und sah zu ihnen herüber. Hoffentlich hatte er nichts gesehen. Die anderen beiden Brüder waren so in ihre Gartenarbeit vertieft, sie hatten sicherlich nichts von der Übergabe mitbekommen. Geschwind ließ Enderlin den zweiten Eimer in den Brunnen und zog ihn gefüllt wieder nach oben. Das Herz pochte heftig in seiner Brust. Er schielte zu Bruder Gregor, doch der machte sich bereits am Kräuterbeet zu schaffen.
Enderlin arbeitete weiter im Garten, bis die Glocken zur Sext läuteten. Nach dem Mittagsmahl widmete er sich zufrieden dem Buch Daniel, das ihm zum Studium überlassen wurde. Er las von Daniel, wie er zum König gebracht und gebeten wurde, diesem die Schrift zu deuten. Enderlin vergaß sich in dem Wort Gottes, bis die Glocken ihn zur Non riefen. Bevor er die Abteikirche betreten konnte, fing ihn der Prior ab. »Hiernach kommst du zu mir.«
Enderlin schlug das Herz bis zum Hals. Gregor musste doch etwas gesehen haben. Vielleicht hatten sie dem Jungen den Brief abgenommen. Enderlin atmete tief durch, sah bereits die Latrinen vor sich, die er wieder ausleeren und säubern musste. Was hatte er nur getan?
Und doch hatte er mit dem Brief im Sinne des Priors gehandelt, nur sah dieser es wahrscheinlich nicht ein. Enderlins Knie wurden weich, er musste sich während der Lobgesänge an der Kirchenbank abstützen. Er hatte keinen Fehler begangen, redete er sich ein. Die einzige Verfehlung, die der Prior ihm nachsagen konnte, war, dass er einen Bogen Papier und Tinte aus dem Skriptorium entwendet hatte.
Nach der Hore begab er sich mit Prior Jakob Hochstraten zum Priorhaus. Dieser sprach auf dem Weg kein Wort, verbarg die Hände in den Ärmeln der Kutte. Enderlin wagte nicht, ihn anzusehen. Jakob Hochstraten führte ihn in die Kemenate und bot ihm einen Lehnstuhl vor dem Kamin an. »Setz dich«, sagte der Prior und legte zwei Holzscheite nach.
Enderlin nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem ein Schaffell lag und der keinesfalls zur Bescheidenheit eines Klosters passte. Zu den gotteslästerlichen Prunkstücken wie den aufwendig geschmiedeten Kerzenhaltern und dem imposanten Wandteppich mit der Abbildung des Paradieses war ein neues, mannshohes Gemälde hinzugekommen. Es zeigte das Jüngste Gericht und musste ein Vermögen gekostet haben. Enderlin löste den Blick von diesen blasphemischen Gegenständen und wandte sich dem Prior zu. Dessen Miene war ernst und undurchdringlich. Enderlin rieb seine feuchten Hände an dem Habit trocken.
»Ich muss dir was sagen«, begann der Prior. Er faltete die Hände vor dem Bauch. Das große Kreuz um seinen Hals flackerte im Schein des aufflammenden Feuers. Enderlin atmete tief ein, konnte es kaum abwarten, bis Jakob Hochstraten endlich sagte, welche Verfehlung ihm aufgefallen war. Wieso hatte er mit der Maßregelung nicht bis zur Kapitelversammlung gewartet? Wollte er ihn gar in den Klosterkerker werfen? Noch bevor er die Gedanken sortieren konnte, sprach der Prior weiter: »Dein Vater hat diese Welt verlassen.«
Die Nachricht traf ihn wie ein Hammerschlag. Es ging um seinen Vater? Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Hände krampften sich um die Armlehnen.
»Entweder hat er sich selbst gerichtet, oder jemand anders hat ihn dran glauben lassen.«
»Was?« Was ging in der Welt außerhalb des Klosters nur vor sich? Enderlin hatte seinen Vater seit vier Jahren nicht mehr gesehen, und nun sollte es auf ewig so bleiben? Er rief sich das Gesicht seines Vaters ins Gedächtnis. Entschlossen, stolz. Und zu gutmütig, wenn es um Jonata ging.
Der Prior hob die Hände. »Nun, es ist nicht sicher.«
Enderlin ließ sich in den Stuhl sinken. »Was geschieht mit dem Haus und der Brauerei?« Seine Mutter und sein Bruder Lucas hatten das Zeitliche gesegnet, Jonata war verschwunden und sein Halbbruder Kuntz ein Schwachkopf. Außerdem noch viel zu jung, um einen Hausstand zu führen.
»Das weiß ich nicht«, sagte der Prior. Er räusperte sich. »Du hast die geistliche Leitung der Brauerbruderschaft einst innegehabt. Ist es dir ein Wunsch, die Andachtsmesse für deinen verstorbenen Vater zu halten?«
Enderlin lächelte innerlich. Der Prior schien doch noch Vertrauen in ihn zu setzen. Wenn Sebalt Magnus zu der Beisetzung erscheinen würde, könnte er von Angesicht zu Angesicht mit dem Brauerssohn sprechen und ihn von seinem Anliegen überzeugen. Vielleicht würde das Ableben seines Vaters Jonata aber auch von selbst nach Köln zurücktreiben.
»Es wäre mir eine große Freude, meinem Vater die letzten Worte zu sprechen«, sagte Enderlin und entspannte sich. Warum hatte er mit Gott gehadert? Er würde alles zum Guten richten.
***
Margret hatte Bechtolt gewaschen, und zu dritt hatten sie ihn in das beste Gewand gekleidet. Figen hatte ihm nicht ins Gesicht blicken können aus Angst, der Tod würde ihr Herz zu Eis gefrieren lassen. Sie hatten ihn in der Brauerei aufgebahrt, damit sich Freunde und Mitglieder der Bruderschaft von ihm verabschieden konnten, doch kaum jemand erschien, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Selbst die Braumeister ließen sich nur spärlich blicken. Auch für die Totenwache fühlte sich keiner der Brauer verantwortlich, wie es in einer Bruderschaft normalerweise üblich war. Also wechselten sich Margret, Elisabeth und Figen ab.
Nun saßen sie in der Stube, um zu besprechen, wie es weitergehen sollte. Die Bruderschaft hatte Margret einen Gulden aus der Büchse als Witwengeld überlassen. Mehr hatten sie nicht zu erwarten, da Bechtolt zum Schluss sein Gewerk nicht mehr zur Zufriedenheit Mergentheims ausgeführt hatte. Zudem hatte der Meister der Bruderschaft Margret auferlegt, innerhalb eines halben Jahres einen Brauer zu ehelichen, um das Gewerk weiterführen zu können. Ohne Lehrlinge und Gesellen konnten sie selbst sowieso keine Bottiche anfeuern, ganz zu schweigen davon, dass sie zuerst Gerste und Hopfen für den Brauvorgang erstehen mussten.
»Du musst dir schnell einen neuen Gatten suchen«, betonte Elisabeth noch einmal.
Margret schüttelte entschieden den Kopf. »Ich lasse mir keine Vorschriften machen! Und ich werde keinen von den Brauern heiraten.«
»Wie sollen wir sonst über den Winter kommen? Das Witwengeld von der Bruderschaft wird nicht ewig reichen.«
»Dann müssen wir eben sparsam sein«, entgegnete Margret.
Das sagte die Richtige! Sie war doch diejenige, die sich bisher jedes halbe Jahr neue Stoffe kaufte, aus denen sie sich aufwendige Kleider schneidern ließ. Heute trug sie ihr grünes Kleid mit dem kleinen Schulterkragen und den bauschigen Ärmeln. Das Mieder war aus klein gepunkteter Seide, der Rock aus Samt mit einem roten Seidenbesatz. Figen wollte nicht wissen, wie viel es gekostet haben mochte. Vielleicht war das auch ein Grund, warum kein Geld mehr in der Münzschatulle war.
»In diesem Haus sind vier hungrige Mäuler zu stopfen«, widersprach Elisabeth.
»Dann müsste sich eine von euch beiden wohl eine andere Anstellung suchen.«
Figens Knie wurden weich. Wo sollte sie denn hin? Ihre Eltern waren entschlafen, ihre zwei Geschwister im Kindsbett verstorben. Es gab nur noch ihre Base Fronica, doch die Schwester ihres Vaters verdingte sich als Hübschlerin und war ihr nicht wohlgesonnen. Sie hatte Figen vorgeworfen, für den Tod ihres Bruders verantwortlich zu sein, da sie sich nicht um ihn gekümmert habe. Als ob Figen ihren Vater vernachlässigt hätte! Sie hatte vor dem Nichts gestanden, als sie ihn verlor, war froh gewesen, in diesem Haus eine Bleibe gefunden zu haben. Und nun sollte sie sich eine neue Anstellung suchen? Wer würde sie nehmen, wenn sie aus dem Hause kam, in dem der Herr ermordet worden war?
»Wer nimmt mich in meinem Alter noch als Magd?«, jammerte Elisabeth. Sie würde es noch schwerer haben, sie zählte an die fünfzig Lenze. »Außerdem brauchst du Hilfe, wenn dein Kind auf der Welt ist.«
Jetzt war für Figen der Zeitpunkt gekommen, ihre Gedanken mit den beiden zu teilen. »Ich habe mir etwas überlegt.«
Margret und Elisabeth sahen sie überrascht an. »Dann erzähl mal«, forderte Margret sie mit hochgezogenen Brauen auf.
Figen ballte die Hand unter dem Tisch zur Faust. Wie hatte Margret nur so hochnäsig werden können, seitdem sie Bechtolt geheiratet hatte? Schließlich hatten sie früher auf einer Stufe gestanden und zusammen Töpfe geschrubbt oder Wäsche gewaschen.
»Ich habe gehört, dass die Bürger Kölns unzufrieden mit der Mädchenschule der Beginen sind. Unsere Schenke liegt brach, und ich bin des Lesens und Schreibens mächtig. Ich dachte mir …« Sie stockte, wollte die richtigen Worte finden.
»Was? Du willst eine Mädchenschule eröffnen?«, fragte Margret mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie eine verendete Ratte in der Vorratskammer entdeckt.
Figen nickte. »Wenn ich es richtig angehe, können wir viele Schülerinnen gewinnen.«
»Du bist doch keine Magistra!«, widersprach Elisabeth. »Und hast keine Erfahrung als Schulmeisterin.«
Figen drückte den Rücken durch. »Es wird schon nicht so schwierig sein.«
»Und warum sollten die Mädchen das Lesen und Schreiben lernen? Sie müssen nur einen Haushalt führen können«, wandte Elisabeth ein.
»Denkt nur an die Garnmacherinnen und Seidmacherinnen. Ihre Kinder und Lehrlingstöchter müssen die Bücher führen können.«
Elisabeth machte eine abwertende Handbewegung. »Um die paar Mädchen können sich die Beginen kümmern.«
»Auch anderen Frauen kann es das Leben erleichtern. Sie können Flugschriften selbst lesen oder ihre Kinder die geistlichen Texte lehren.«
»Pah!«, sagte Elisabeth.
»Außerdem hole ich mir Hilfe.«
»Bei wem denn?«, fragte Margret scharf.
»Bei Seitz von Rosenberg. Er hat mir erzählt –«
»Bei dem verurteilten Ketzer?«, brach es aus Margret heraus. »Lass dich bloß nicht mit diesem Ungläubigen ein!«
»Er hat seine Strafe bekommen und kann sich wieder frei in der Stadt bewegen«, wandte Figen ein.
»Wenn du mit ihm gesehen wirst, bringst du unser Haus in Verruf«, keifte Margret. »Ich will ihn hier nicht haben.«
»Und was ist mit einem Lehrangebot für Mädchen? Bist du etwa auch dagegen?«
Margret nahm die Haube vom Kopf, strich sich durch die blonden, strähnigen Haare und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Wer braucht schon eine Mädchenschule?«, murmelte Elisabeth.
»Die Schenke steht leer, und solange sich die Bottiche nicht mit frisch gebrautem Bier füllen, wird dies auch so bleiben. Wieso sollten wir sie ungenutzt lassen?«, fuhr Figen fort.
Margret zuckte mit den Schultern. »Wenn die Schule uns Geld einbringt, soll es mir recht sein.«
Figen fiel ein Stein vom Herzen. Hauptsache, Margret war damit einverstanden. Wenn Elisabeth dagegen war, konnte sie damit leben.
»Aber diesen Ketzer will ich in diesem Haus nicht sehen«, sagte Margret und stand auf.
Figen nickte. Trotzdem würde sie ihn aufsuchen, um mit ihm ihren Plan durchzusprechen.
Es klopfte an der Haustür. Wahrscheinlich die nächsten Trauergäste, die sich von Bechtolt verabschieden wollten. Doch als Figen die Tür öffnete, stand vor ihr der Buchführer Mathes Roht. Über seinen Schultern lag das Fuchsfell, seine rötlichen Haare schienen noch länger geworden zu sein.
»Grüß dich Gott«, erwiderte sie seinen Gruß. »Du kommst genau zur rechten Zeit.«
Er kräuselte die Stirn und lächelte. »Was meinst du?«
Figen schluckte. Bald würde ihm das Lachen vergehen. »Das wirst du gleich erfahren.«
»Vielleicht kann ich deine Laune etwas heben!« Er klopfte auf seine Brust. Sie wusste, was das bedeutete. Unter dem Wams trug er einen Brief von Jonata. Figens Herz wurde schwer. Ihr graute davor, die schreckliche Nachricht zu Papier bringen zu müssen.
Sie tat einen Schritt zur Seite und ließ den Buchführer eintreten. Elisabeth hatte sich wieder ans Tagwerk begeben, und Margret war in die Brauerei zu Bechtolt gegangen, um die Totenwache fortzuführen, also bat Figen Mathes Roht in die Stube. Sie brachte ihm einen Krug Bier, Suppe und einen Kanten Brot. Sie hätte ihm gern ein reichhaltigeres Mahl dargeboten, aber ihre Vorratskammer gab nicht viel her. Mathes Roht machte sich dankbar über das Essen her und schob Figen den Brief hin. Sie blickte sich vorsichtig um und ließ ihn schnell unter ihrem Mieder verschwinden.
»Was ist los? Sonst kannst du es doch kaum abwarten.«
Sie seufzte. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Was bedrückt dich?« Roht biss von dem Brot ab.
Figen sammelte Kraft für die nächsten Worte. »Bechtolt ist verstorben. Wahrscheinlich ermordet.«
Er ließ den Löffel in die Schüssel fallen. »Was sagst du da?« Das blanke Entsetzen schwamm in seinen Augen.
»Wir haben ihn in der Brauerei aufgebahrt, wenn du –«
»Ich muss noch heute aufbrechen, zurück nach Wittenberg. Jonata muss es erfahren. Aber zuerst bring mich zu ihm.«
***
Jonata streichelte ihrer Tochter über den Kopf. Ells schlief tief und fest. Dem HERRN sei Dank hatte sie die Nase ihrer Mutter geerbt und nicht die ihres leiblichen Vaters. Jonata hasste es, dass sie immer wieder an ihren Peiniger erinnert wurde, aber Ells’ unschuldiges Lachen entschädigte sie Tag für Tag. Jonata schlüpfte zu Simon unter die Decke.
»Da bist du ja endlich«, hauchte er und zog sie an sich.
»Ich musste noch kurz nach ihr sehen.« Sie war so froh, dass Simon Ells als seine eigene Tochter anerkannte. Und die Bürger in Wittenberg glaubten sowieso, dass es sich um die Tochter ihres Ehegatten handelte. Die zotteligen, welligen Haare, die bei Ells kaum zu bändigen waren und an Simons Frisur erinnerten, machten dies umso leichter.
Sie hatten ihre Sorgen in Köln zurückgelassen und in Wittenberg ein neues Leben angefangen. Hier waren sie angesehene Bürger, keiner wusste von ihrer Vergangenheit und der Anklage der Ketzerei. Zudem hielt Martin Luther seine schützende Hand über sie. Nur ein gemeinsames Kind fehlte noch zu ihrem vollendeten Glück. Jonata betete jeden Tag für die Frucht ihres Leibes, doch bisher hatte sie jeden Monat vergeblich auf das Ausbleiben ihrer Blutung gewartet.
Simon schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und kitzelte sie dabei am Hals. »Weißt du eigentlich, was morgen für ein Tag ist?«
»Nein, was habe ich vergessen?«
Simon lächelte verschmitzt. »Ich werde morgen Luthers Übersetzung des Neuen Testaments mitbringen.«
»Ist es endlich so weit?« Sie kuschelte sich an Simon.
Martin hatte sein Versprechen eingelöst und dem Volk das Wort Gottes in deutscher Sprache geschenkt. Sie war so froh, dass Martin seit dem Frühjahr wieder in Wittenberg weilte. Seitdem er nach dem Reichstag zu Worms im April letzten Jahres verschwunden war, hatten sie das Schlimmste befürchtet. Umso erstaunlicher war es, dass er mit dieser Übersetzung zurückgekehrt war. Und Simon arbeitete in der Druckerei, die mit den Aufträgen Martin Luthers betraut wurde. So hatte Jonata sich als Kind ihre Zukunft vorgestellt – an der Seite eines Mannes, den sie liebte, mit Kindern und einem gesicherten Einkommen. Jonata fuhr über die Brandmale auf Simons Brust, die immer wieder die Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen.
Simon hob ihr Kinn an und strich ihr über die Lippen. »Denk nicht daran.«
Sie lächelte und küsste ihn.
»Wieso trägst du eigentlich noch dieses Gewand?«, fragte er neckisch.
»Heute ist der Tag von Sankt –«
»Was schert es dich?«, fragte Simon und schob die Hand unter das Leinen. Ein wohltuender Schauer erfasste sie. Er hatte recht. Heute war ein guter Tag für eine Empfängnis. Sie sollten ihn nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Oder wurde sie nicht schwanger, weil Gott sie wegen ihrer Vergehen strafen wollte? Vielleicht hätte sie ihren Vater nicht verlassen dürfen, oder war es dem HERRN ein Gräuel, dass sie sich Sebalt hingegeben hatte, um Simon aus der Turmhaft zu retten? Sie schob die Gedanken beiseite. Es mochte andere Gründe haben, die sie nicht verstand.
Sie streichelte Simons Rücken und fuhr mit den Fingern durch seine Haare, zog seinen Kopf zu sich heran. Sie öffnete den Mund und umspielte mit der Zunge seine Lippen, sie wollte ihn spüren und nicht an die Kirchenverbote denken, denen sie sowieso kaum noch Beachtung schenkte. Als es heftig an der Tür klopfte, schreckte sie hoch. »Wer mag das sein?«
Simon richtete sich auf und lauschte. »Zu dieser Stunde. Das kann nichts Gutes verheißen.«
Erneutes Klopfen, lauter und energischer.
»Ich werde nachsehen.« Simon sprang auf, streifte sich Beinlinge und Gewand über und lief die Treppen hinunter.
Als Jonata eine bekannte Stimme vernahm, zog sie den grünen Mantel über und folgte ihrem Mann in die Stube. Dort stand der Buchführer Mathes Roht. Seine Haare und das Fuchsfell um seine Schultern waren klatschnass. Er sah müde und abgekämpft aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Rückkehr nach so kurzer Zeit konnte nur Unheil bedeuten.
»Was ist passiert?« Jonata trat näher. Sie hätte ihren alten Freund gern umarmt, doch seine ernste Miene hielt sie davon ab.
»Setz dich doch erst mal«, sagte Simon und zeigte auf die Bank.
Mathes warf ihr einen traurigen und bemitleidenden Blick zu. Was war nur los? Brachte er schlechte Kunde aus der Heimat? War ihnen die Kölner Inquisition nun auch hier auf den Fersen? Seit Simon der Ketzerei angeklagt gewesen und sie mit ihm aus Köln geflohen war, fühlte sie sich nie ganz sicher.
Sie reichte ihrem alten Freund einen Becher Bier. Mathes nahm ihn dankbar an und setzte sich. »Und?«, fragte sie ungeduldig.
Er wich ihrem Blick aus. Ihr Herz schlug schneller. Sie rechnete mit dem Schlimmsten und war doch nicht auf die Worte gefasst, die auf sie niedersausten wie das unbarmherzige Richtschwert eines Henkers. »Jonata, dein Vater wurde ermordet.«
»Was?«, krächzte sie und musste sich am Stuhl festhalten. Es war, als drückte ihr jemand den Hals zu und nähme ihr die Luft zum Atmen. Ihr Herz versuchte, die Hiobsbotschaft zu begreifen. Das konnte doch nicht, durfte nicht sein!