Читать книгу Das Geheimnis der Reformatorin - Bettina Lausen - Страница 8
KAPITEL 3
ОглавлениеJonata drehte ihren Becher in den Händen. Ihr Kopf fühlte sich dumpf an, und in ihrem Inneren herrschte diese unendliche Leere. Vater! Sie hatte geglaubt, sich irgendwann von ihm verabschieden zu können, hätte nicht gedacht, dass ihr die Zeit davonlief. Sie hatte mal mit dem Gedanken gespielt, Figen zu bitten, ihm von ihr zu erzählen. Nun war es zu spät.
Wie hatte sie nur glauben können, dass er sie an die Inquisition hätte verraten können? Sie liebte ihn doch! Und er hatte sie geliebt. Sie konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass er nicht mehr im Diesseits weilte.
Hatte er seine Sünden vor Gott bereut? Als sie Köln verlassen hatte, hatte er am Glauben der feigen Gottesmänner festgehalten, dass der Erwerb eines Ablasses einem die Zeit im Fegefeuer verkürzen würde. Anstatt der Lehre Luthers zu folgen und darauf zu vertrauen, dass Gott den Menschen allein aus Gnade vor der Hölle bewahren würde – wenn er dieses Geschenk des Himmels annehmen und daran glauben möge. Ihre Hände zitterten. Wieder einmal quälte sie die Frage, ob der geliebte Mensch, der aus dem Leben geschieden war, in der Hölle den Qualen ausgesetzt war oder im Himmel bei Gott weilte.
Tränen brannten in ihren Augen, doch sie unterdrückte sie mit einem schweren Schlucken, als Mathes’ polternde Schritte auf der Treppe ertönten. Sie hatte ihre Magd Cristina am vorigen Abend geweckt und ihr aufgetragen, ein Lager in der leeren Kammer herzurichten – der Kammer, die irgendwann für das nächste Kind bestimmt war. Jonata hätte es selbst gemacht, doch nach dem Schock hatte sie nicht die Kraft dafür aufbringen können. Und sie hatten Mathes nach der Reise nicht in eine Gaststube schicken wollen. Schließlich hatte der Regen immer noch gegen die geschlossenen Fensterläden geprasselt.
Mathes setzte sich mit einem Becher Dünnbier zu ihr. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, ihm etwas zu trinken anzubieten. »Was bin ich nur für eine Gastgeberin. Warte«, begann sie.
Er griff nach ihrer Hand und schüttelte den Kopf. »Bleib sitzen.«
Sie zögerte, nickte dann. »Hast du gut geschlafen?«
»Viel zu gut!« Er lächelte.
Er musste einen Bärenhunger haben, doch Cristina war nicht da, um das Frühmahl vorzubereiten. Jonata hatte sie zum Markt geschickt, und Simon war mit Ells zum Brunnen gegangen, um Wasser zu holen. Jonata wollte Mathes einen Zuber herrichten, das war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte, wenn er sich so beeilt hatte, nach Sachsen zu kommen.
Er hatte auf die Sicherheit einer Reisegruppe verzichtet und war Tag und Nacht mit seinem Pferd geritten. Sechs Tage hatte er für die Reise benötigt, für die man normalerweise zwei Wochen brauchte. Sie war ihm so dankbar. Nun hatte sie noch die Aussicht, rechtzeitig zur Beerdigung in Köln einzutreffen. Das war jedoch nur möglich, wenn er sich heute mit ihr auf den Rückweg machte – in gleicher Eile. Aber sie musste es versuchen, sie wollte ihren Vater noch einmal sehen und sich von ihm verabschieden.
»Wie sah mein Vater aus?«, fragte sie leise.
Mathes seufzte. »Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn kennst.«
»War es so schlimm?« Ihre Knie wurden weich. Wieso hatte sie ihren Vater all die Jahre allein gelassen und nie besucht? Mathes hatte ihr gestern gesagt, dass ihr Vater durch ein Messer gestorben war, doch nicht, was genau passiert war.
»Es war kein schöner Anblick.« Er nahm sein Fuchsfell vom Lehnstuhl und befühlte, ob es noch feucht war.
»Wie ist er verschieden?«
Mathes legte sich das Fell um die Schultern. »Lass es gut sein.«
»Bitte! Ich muss wissen, wie es mit ihm zu Ende gegangen ist.«
Der Buchführer blickte sie durchdringend an. Die grünen Augen mit den auffälligen goldenen Sprenkeln darin wirkten traurig und besorgt. »Jonata, ich weiß, du machst dir Vorwürfe, aber –«
»Bitte«, flehte sie. Aufsteigende Tränen verschleierten ihren Blick.
Er nickte. »Also gut. Wenn du drauf bestehst!« Er seufzte und strich sich über den Nacken. »Ihm … also … ihm wurde die Kehle durchgeschnitten.«
Jonata schluckte. »Wer tut so etwas Grausames? Warum mein Vater? Das ergibt keinen Sinn.« Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie ihn nicht noch einmal sähe. Und doch wollte sie ihm nahe sein.
Mathes’ Stirn zog sich zusammen, er räusperte sich.
»Was ist los?«, fragte sie irritiert.
»Ich weiß nicht, was Figen dir geschrieben hat.«
»Was meinst du? Was hast du mir verschwiegen?«
Er hob abwehrend die Hände. »Gar nichts! Ich habe erst vor ein paar Tagen davon erfahren. Ich hatte Bechtolt lange nicht mehr zu Gesicht bekommen, und jetzt weiß ich auch, warum.« Nervös fuhr er sich durch die rötlichen Haare. »Er …« Mathes zögerte. »… hat sich wohl … immer mehr zurückgezogen und keine Freunde mehr gehabt.«
Es war, als spräche Mathes von einem anderen Menschen. Ihr Vater war zwar streng, aber bei den Brauern und Mitbürgern geachtet gewesen. »Das glaube ich nicht. Figen hat nie etwas erwähnt.«
»Sie wollte dich nicht belasten. Schließlich hättest du hier aus Sachsen nichts ausrichten können, und sie wusste, dass du niemals nach Köln zurückkehren konntest.«
»Jetzt muss ich hin! Würdest du mich begleiten?«
»Das hast du nicht wirklich vor!« Mathes sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich muss mich von meinem Vater verabschieden! Und herausfinden, wer ihn auf dem Gewissen hat.«
»Was willst du?«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Simon war mit Ells zurückgekehrt.
Ihre Tochter kam auf sie zugerannt, hielt einen Stock mit drei kleinen Zapfen in die Höhe. »Schau, Mama, ein Geschenk für dich.«
Jonata hob Ells auf den Schoß und strich ihr über den Lockenkopf. »Ich muss zurück nach Köln.«
Simon kam zum Tisch, stützte sich mit den Armen ab und beugte sich zu ihr. »Nach Köln? Hast du den Verstand verloren?«
»Simon, ich muss.«
»Du bist kaum durchs Stadttor, schon landest du im Frankenturm! Was glaubst du, wie lange es dauern wird, bis Enderlin Wind davon bekommt, dass du wieder in der Stadt bist?«
»Ich werde vorsichtig sein, keiner wird mich erkennen.«
»Der lauert doch nur darauf, dass du einen Fehler machst!«
Ein Schauer jagte über ihren Rücken. Sie konnte seine Angst verstehen. Schließlich war es ihrem Bruder zu verdanken, dass Simon fast zu Tode gefoltert worden war. Aber Enderlin würde nie erfahren, dass sie in der Stadt war.
»Ich habe Enderlin seit Jahren nicht mehr gesehen«, mischte sich Mathes ein.
»Hörst du? Köln ist kein Dorf, Simon. Hunderte von Händlern und Pilgern kommen täglich in die Stadt, da falle ich nicht auf.«
Simon trat auf sie zu, umfasste ihre Schultern und drehte sie zu Ells um. »Was ist mit ihr, wenn dir etwas zustößt? Unsere Tochter, dein Fleisch und Blut. Willst du sie zur Halbwaise machen, nur um deinen Kopf durchzusetzen?«
»Mein Vater ist auch mein Fleisch und Blut!«
»Natürlich, aber deine Familie ist nun hier.« Er zeigte auf Ells.
»Mathes, würdest du mit mir zurückreiten? Dann wäre mein Ehemann sicherlich beruhigter.«
Simon rollte mit den Augen.
»Ebenso schnell, wie du hergekommen bist?«, ergänzte Jonata.
»Ohne Reisegruppe? Willst du den Wegelagerern direkt in die Arme laufen?«, polterte ihr Ehemann.
»Mathes wird auf mich aufpassen. Oder?« Sie sah den Buchführer flehend an. Dieser blickte zwischen ihr und Simon hin und her, rieb sich über den Nacken, wusste anscheinend nicht, was er antworten sollte.
»Mama, was sind Wegelagerer?«, fragte Ells.
»Gleich, mein Engelchen.« Jonata küsste sie auf die Stirn.
»Jonata, du bleibst hier! Das ist mein letztes Wort«, sagte Simon scharf. Sie hatte noch nie diese Strenge in seinen Augen gesehen.
»Du wirst es mir nicht verbieten.«
»Und ob! Ich bin dein Mann!« Auf diesem Argument hatte er bisher nie beharrt.
»Ich bin es meinem Vater schuldig. Ich hätte schon viel früher mit ihm in Verbindung treten sollen, und jetzt ist es zu spät.«
»Du hättest nicht nach Köln reiten können.«
»Aber er nach Wittenberg. Und jetzt hat er das Zeitliche gesegnet.« Sie sprang auf und sah Simon wütend an.
»Du sagst es. Du kannst nichts mehr für ihn tun.«
»Das kann ich wohl! Ihm die letzte Ehre erweisen.« Sie wandte sich ab und stürmte hinaus in den Innenhof. Dort lehnte sie sich an die Hauswand. Der Wind zerrte an ihrem Kleid. Ihre Kehle schnürte sich zu. Ihr Vater war tot! Ermordet. Sie wusste, dass es ein Wagnis war, nach Köln zurückzukehren, aber die Situation hatte sich geändert. Wieso konnte Simon sie nicht verstehen?
Tränen brannten in ihren Augen und liefen ihr über die Wangen. Die Tür ging auf, und Simon kam heraus. Er stand vor ihr, zögernd, knetete die Hände. Sie sah in seine Augen, die von ein paar zotteligen Strähnen verdeckt wurden. Aus ihnen schwappte tiefe Besorgnis zu ihr herüber. Ihr Herz wurde schwer. In Köln drohte Gefahr, das wusste sie ebenso wie Simon. Und sie würde ihren Ehemann und ihre Tochter schrecklich vermissen, dennoch zog es sie in ihre Heimatstadt. Gott würde auf sie achtgeben.
Sie wischte sich eine Träne von der Wange und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ach Simon, ich wollte doch nicht …«
Er nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. »Ich habe Angst um dich, Jonata! Enderlin wartet nur auf dich. Er will dich brennen sehen. Und ich werde dich nicht retten können, wenn du in Gefahr schwebst.«
»Ich weiß. Trotzdem muss ich hin.«
»Jonata –«
»Pst!« Sie legte Simon einen Finger auf die Lippen. »Hab Vertrauen. Gott wird mich beschützen.«
Er öffnete den Mund, um erneut zu widersprechen, doch schloss ihn wieder. Er schien mit sich zu ringen, sah sie liebevoll und gleichzeitig verärgert an.
»Ich muss mich von meinem Vater verabschieden. Damit habe ich viel zu lange gewartet.« Sie legte den Kopf an Simons Schulter.
***
»Wo willst du hin?«, fragte Elisabeth, als Figen mit dem leeren Korb aus der Vorratskammer trat.
»Zum Markt.«
»Hat Margret dir etwa Geld gegeben?«
Figen ließ den Korb von einer Hand in die andere gleiten. »Nein«, sagte sie. Margret hatte ihr klargemacht, dass sie keine Münzen herausgeben würde. Schließlich hätten sie noch genug Hirse und Hafer, um Brei zu kochen. Doch nach fünf Tagen mit gleicher Kost konnte Figen den Fraß nicht mehr sehen. »Ich werde schon was bekommen.«
»Und wie willst du das anstellen? Wenn sie dich erwischen, hacken sie dir die Hand ab.« Elisabeth klang besorgt. Sie trug wieder ihr blau-rotes Kleid, auf das sie viele Flicken genäht hatte, um die Löcher zu überdecken.
Figen winkte ab. »Ich bin doch keine Diebin, nein, eine Bäuerin schuldet mir noch einen Gefallen.«
Elisabeth zog die Brauen hoch. »Was soll das denn bedeuten?«
»Lass das meine Sorge sein.«
»Bring dich doch nicht in Schwierigkeiten!« Elisabeth wollte nach dem Korb greifen, aber Figen wich zurück.
»Vertrau mir!« Sie wandte sich zum Gehen. »Du kannst schon mal Wasser aus dem Brunnen holen, dann können wir eine Suppe aufsetzen, sobald ich zurück bin.«
»Pass auf dich auf.«
Figen griff nach ihrem Mantel und stürmte hinaus. Sie wollte Elisabeth nicht erzählen, dass sie bei Seitz von Rosenberg in großer Schuld stand. Wie sie ihm den Schilling zurückzahlen sollte, wusste sie noch nicht, aber vielleicht würde sie selbst bald über Geld verfügen. Dafür musste sie mit ihm sprechen. Das war der eigentliche Grund, warum sie das Haus verließ. Ob Seitz ihr bei der Eröffnung der Mädchenschule helfen würde?
Geschwind lief sie die Gassen entlang. An einem Pütz standen fünf Weiber und tratschten. Sie ließen die Jüngste von ihnen den Eimer aus dem Ziehbrunnen hervorholen. Figen wandte sich ab. Eisiger Wind peitschte über die Felder und wirbelte vergilbte Blätter auf. Hätte sie doch den wärmeren Wollmantel aus ihrer Kammer geholt! Sie beschleunigte den Schritt, so würde ihr wenigstens von innen warm werden, aber als der Weg zwischen Häusern hindurchführte, ließ der Wind nach.
Je näher sie dem Rosenhaus in der Spielmannsgasse kam, desto weicher wurden ihre Knie. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Unterleib aus, als sie an den Sohn des Laternenmachers dachte. Sie unterdrückte das Gefühl, sie brauchte bloß seine Hilfe.
Als sie in die Gasse einbog, atmete sie tief durch. Eine Katze steckte den Kopf in eine Kiste mit verfaultem Salat. Sie sprang über einen Zaun und verschwand, als sie Figen gewahr wurde.
Das Haus, in der Familie von Rosenberg wohnte, nannte man das Rosenhaus, da an der vorderen Fassade ein Rosenbusch prangte. Wie gut es zum Familiennamen passte. Sogar jetzt im September verzückten vereinzelte Blüten noch die Vorbeilaufenden. Figen war es schleierhaft, wie Frau von Rosenberg neben den vielen Kindern Zeit für Blumen hatte – zumal sie sich keine Magd leistete, wie Figen gehört hatte. Recht ungewöhnlich für eine gut situierte Bürgersfamilie. Figen sprang die drei Stufen zur Haustür hinauf, doch bevor sie den Türklopfer betätigen konnte, wurde die Tür bereits aufgerissen.
»Oh!«, entfuhr es Seitz’ Mutter, deren Gesichtshaut von den Sorgen der Zeit gezeichnet war. Sie roch nach gebratenem Fleisch und Schweiß, hatte anscheinend in der Küche gestanden. Sie trug ein braunes Kleid mit bauschigen Ärmeln und einem breiten Gürtel, an dem zwei Lederbeutel baumelten, am Arm hing ein leerer Korb. Ihr überraschter Gesichtsausdruck wich einem Lächeln, das Figen zu gut von ihrem Sohn kannte. »Ach, Fräulein Winters.«
Figen presste die Lippen zusammen. Wieso kannte Katharina von Rosenberg ihren Namen? Sie hatte geglaubt, bei den geheimen Versammlungen in der Menge namenlos geblieben zu sein. Hatte sie je ihren Namen Frau von Rosenberg gegenüber erwähnt? Oder hatte Seitz von ihr gesprochen?
»Ich würde gern ein Wort mit Eurem Sohn wechseln.« Figen merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Ist er zugegen?«
Katharina von Rosenberg schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter sich zu. »Er ist zum Alter Markt aufgebrochen. Ich muss auch dorthin. Willst du mich begleiten? Wie ich sehe, ist dein Korb ebenfalls leer.«
Unsicher sah Figen auf ihren Korb. Sie schien für diese Frau ein offenes Buch zu sein und fühlte sich unwohl, doch jetzt konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Was sollte sie schon sagen, wo sie mit ihrem leeren Korb hinwollte? Also nickte sie.
»Dann komm, mein Kind.« Katharina von Rosenberg ging strammen Schrittes voran. Trotz ihrer Leibesfülle war sie schnell und wendig. Figen musste zusehen, dass sie mithielt. »Gibt es einen bestimmten Grund, warum du meinen Sohn aufsuchen willst?«, fragte Frau von Rosenberg.
Was sollte sie erwidern? Sie konnte schlecht von der Mädchenschule erzählen. Nicht, bevor sie mit Seitz gesprochen hatte.
»Du willst doch sicher keine Laterne bei uns erwerben, oder?« Katharina von Rosenberg lachte.
»Nein.« Dafür hatte sie nicht annähernd genug Geld.
»Ist es wegen deines ermordeten Herrn? Schrecklich, was Bechtolt zugestoßen ist. Die arme Jonata. Das hat sie nicht verdient.«
Figen war erleichtert und nickte. Das schien ein guter Grund zu sein. »Nein, das hat sie nicht.«
»Hast du Kontakt zu ihr? Weißt du, wie es ihr ergeht? Wird sie zur Beerdigung kommen?«
»Ihr wisst doch, dass ihr das nicht möglich sein wird.«
Katharina von Rosenberg brummte zustimmend. »Eine Schande! Sie fehlt uns.«
»Uns auch«, sagte Figen und war froh, dass sie nun eine Weile schweigend nebeneinander hergingen.
»Wer soll denn das Haus erben?«, fragte Frau von Rosenberg schließlich.
»Margret, Bechtolts Frau.«
Frau von Rosenberg nickte. »Hat er euch genug hinterlassen, dass ihr euer Auskommen habt?«
Figen schluckte, dachte an die leere Schatulle in der Brauerei. »Der Mörder hat unsere letzten Münzreserven gestohlen.«
»Ach, wie schrecklich! Und die Bruderschaft?«
»Hat uns einen kläglichen Betrag überlassen, der uns vielleicht bis zum Winter über Wasser hält.«
»Bei allen Heiligen, das darf doch nicht wahr sein!«
»Irgendwie wird es schon gehen.« Das musste es.
»Wurde Bechtolt deswegen ermordet? Wegen der Münzen?«
Figen zuckte mit den Schultern, konnte es sich jedoch kaum vorstellen. Wenn man sich bereits in den Schenken erzählte, dass er kein Geld mehr besaß. Hoffentlich würde der Gewaltrichter den Unhold finden. So eine grausame Tat durfte nicht ungesühnt bleiben.
»Sie sollten den Mörder vierteilen«, keifte Frau von Rosenberg.
Figen lief es eiskalt den Rücken hinunter. Auch wenn der Mörder überführt und verurteilt werden würde, würde sie der Hinrichtung nicht beiwohnen. Noch mehr Blut und Tod ertrug sie nicht. »Hauptsache, wir erfahren, warum wir das erleiden müssen.«
Als sie den Alter Markt erreichten, sagte Frau von Rosenberg: »Du findest meinen Sohn sicherlich beim Papierhändler oder bei dem Hornhändler.« Sie zeigte in die Richtung.
»Habt Dank!«, sagte Figen und machte einen Knicks. Sie verschwand im Markttreiben und war froh, weiteren Fragen zu entkommen. Eine eigentümliche Frau, viel zu vertraulich und forsch.
Es roch nach frisch gebackenem Brot und Fleisch. Figen kam an dem Stand mit Konfekt und Pfefferkuchen vorbei, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie ging weiter zum Papierhändler – und da war er. Schien mit dem Händler über den Preis zu verhandeln. Lauthals diskutierten die beiden, erregten damit Aufsehen unter den umstehenden Marktbesuchern. Figen blieb ein paar Schritte entfernt stehen.
Als die beiden sich geeinigt hatten, wandte Seitz sich zu ihr um. Sein Gesicht erhellte sich. »Figen. Wie schön, Euch zu sehen!«
»Eure Mutter hat mich hergebracht«, sagte sie.
»Ihr wolltet also zu mir?« Das Lächeln wurde breiter. »Was verschafft mir die Ehre?« Die Freude in seinem Gesicht wich einer Schwermut. »Seid Ihr etwa hier wegen Jonatas Vater?«
»Woher habt Ihr es erfahren?«, fragte sie.
»Die Vöglein pfeifen es von allen Dächern. Ein Mord in Köln. Und dann ausgerechnet Bechtolt.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Sagt, wie geht es Euch?« Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hände in die seinen. Ihre Haut kribbelte, und ihr wurde heiß.
»Es … ich …« Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, sah auf seine gepflegten Hände, an denen die Schwielen langsam zurückgingen. Zeugnisse der schweren Arbeit auf dem Lande während seiner Verbannung. »Es geht schon.«
Er ließ sie los und wich einen Schritt zurück. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Ihr habt ihn im Haus gefunden, habe ich gehört.«
Auch das erzählte man sich also in der Stadt. Sie sah Bechtolt am Boden liegen, das Blut, das Messer. Saure Galle kratzte ihren Hals. »Nicht ganz. Kuntz hat ihn zuerst entdeckt, aber ich war bei ihm.«
Figens Blick fiel auf das Messer, das an einer ledernen Scheide an Seitz’ Gürtel hing. Seitdem ihre Mutter durch ein Messer gestorben war, konnte sie sich nicht überwinden, selbst eins bei sich zu tragen. Auch wenn das zu Tisch umständlich war, aber wann ging sie schon in einem Wirtshaus speisen? Zu Hause half ihr Elisabeth mit ihrem aus, wenn sie den Schinken oder das Brot schneiden musste.
»Es muss schrecklich für Euch gewesen sein«, sagte Seitz warmherzig.
Sie hätte sich am liebsten an seine Schulter gelehnt, doch das geziemte sich nicht.
»Ich weiß genau, wie Ihr Euch fühlt.« Eine braune Strähne fiel ihm ins Gesicht. Wusste er das wirklich? »Wenn es irgendwas gibt, das ich für Euch tun kann, dann –«
»Das könnt Ihr tatsächlich.«
Er lächelte. »Sprecht es aus.«
»Habt Ihr Eure Besorgungen erledigt?« Sie wies mit dem Kopf zu seinem Handkarren, auf dem Papier, ein paar Hornplatten sowie Tierhäute lagen.
Seitz nickte. »Mehr gute Geschäfte werde ich heute wohl nicht mehr machen.«
»Ich muss noch zur Bäuerin. Begleitet Ihr mich?«, fragte sie.
»Gern.« Er zog den Handkarren hinter sich her.
»Unser Gespräch vom letzten Mal hat mich nachdenklich gestimmt«, begann Figen. Sie wich einem Mann aus, der zwei Schafe vor sich hertrieb.
»Über die Versammlung?«
Sie schüttelte den Kopf, blickte sich verstohlen um, ob irgendjemand sie beobachtete, doch alle um sie herum waren mit ihren Einkäufen beschäftigt oder drängten sich eilends an ihnen vorbei. »Wir hatten über die Mädchenschule der Beginen gesprochen.«
»Richtig!« Eine tiefe Furche bildete sich auf seiner Stirn. »Wisst Ihr, wer meine Schwestern unterrichten könnte?«
Figen schluckte. An seine Schwestern hatte sie nicht gedacht, es würde jedoch von Vorteil sein, wenn sie schon Interessentinnen für die Schule hatte.
»Also … unsere Schenke steht seit Längerem leer, und ich kann lesen und schreiben, und da dachte ich –«
»Ihr wollt unterrichten?«, platzte es aus Seitz heraus.
Wieso glaubten alle, sie wäre dazu nicht fähig? »Ich bin keine Magistra, aber Jonata hat mir das Lesen und Schreiben beigebracht. Es kann nicht so schwierig sein.«
Es war wichtig, dass die Mädchen und Frauen der Stadt es ebenfalls lernten. Hätte sie es früher gekonnt, hätte sie vielleicht ihren Vater vor dem Tod bewahren können. Nach der Ermordung ihrer Mutter hatte ihn in kürzester Zeit die unerhörte Hustenkrankheit dahingerafft. Figen war zuvor mit dem Oktavheft ihrer Mutter zum Pfarrer gegangen und hatte ihn gebeten, daraus vorzulesen. Ihre Mutter hatte als Wehmutter darin ihr Wissen über Heilkunde und die Hebammenkunst festgehalten. Doch der Pfaffe hatte nur gelacht und das Buch in der Kutte verschwinden lassen. »Das geschriebene Wort ist nichts für Frauen«, hatte er gesagt. Wut kochte in Figen hoch, wenn sie an diese Begegnung dachte.
»Habt Ihr je eine Schule besucht?«, fragte Seitz.
Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Nein, aber ich will kein Gymnasium eröffnen, sondern die Mädchen das Lesen und Schreiben lehren. Mein Unterricht soll praktisch veranlagt sein, christlich gestimmt. Sie sollen Flugblätter und christliche Schriften lesen können.« Und nicht auf die Pfaffen angewiesen sein, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ich sehe schon, das Vorhaben ist nicht mehr aus Euch herauszubekommen.« Er lächelte.
»Würdet Ihr Eure Schwestern zu mir auf die Schule schicken?«
»Meine Mutter wird begeistert sein, wenn Ihr ihnen das Lesen anhand von Luthers Schriften beibringt.« Er zwinkerte ihr zu.
Ihr wurde warm ums Herz. Sie hatte ihn überzeugt, dann würde er sie sicherlich unterstützen. »Wenn Eure sechs Schwestern zum Unterricht kommen, lässt sich das einrichten.« Sie lächelte.
»Ich glaube nicht, dass meine Mutter auf alle im Haus verzichten kann, aber ein paar werden sicherlich kommen.« Er grinste. »Ich glaube, die Beginen werden sich noch ärgern, ihre Zöglinge in den Garten geschickt zu haben.«
***
»Wo gehst du hin, Mama?«, fragte Ells.
Jonata umarmte ihre Tochter. »Das habe ich dir doch schon erklärt. Ich muss in meine alte Heimatstadt. Mein Vater ist gestorben, und ich möchte zur Beerdigung.«
»Kommst du morgen wieder?«
»Leider nicht. Es wird ein paar Tage dauern, aber ich werde mich beeilen.«
Ells verzog den Mund, und die traurigen Augen brachen Jonata das Herz. Aber ihre Tochter würde in guten Händen sein. Cristina nahm Ells an die Hand und zog sie zu sich. »Komm, du kannst mir beim Brotbacken helfen.«
»Au ja!«, rief Ells, hüpfte auf und ab und folgte der Magd ins Haus. Jonata schluckte. Sie vermisste ihre Tochter jetzt schon.
Jonata führte ihre Stute zur Druckerei, dort wollte Mathes Roht auf sie warten, nachdem er ein paar Exemplare von Luthers Neuem Testament erworben hatte. Sie konnte es ihm nicht verübeln, auch wenn sie am liebsten schon vor Stunden aufgebrochen wäre. Nun hatte die Sonne den Zenit überschritten. Sie band das Pferd neben Mathes’ Stute an den Pfahl und betrat die Druckerei. Ihr schlugen die vertrauten Gerüche nach Papier und Druckerschwärze entgegen.
Mathes stand mit Michael Lotter neben dem Setzkasten. An der Druckerpresse herrschte geschäftiges Treiben. Ein Mann legte das Papier ein, der spargeldünne Lehrling färbte mit den zwei Farbballen geschickt den Satz mit der Druckerschwärze ein, und ein muskulöser Hüne zog kräftig am Pressbengel. Sie liebte das Geräusch, wenn sich die Holzspindel senkte und das Papier gegen den eingefärbten Druckstock presste. So entstanden Schriften, Wissen und Freiheit.
Dann fiel ihr Blick auf den kleinen Tisch. Und da lag es: »Das Neue Testament Deutsch« von Martin Luther. Jonatas Herz schlug einen Takt schneller. Sie trat näher heran, klappte das Buch auf und fuhr mit den Fingern über die verschnörkelte Initiale. Wie lange hatten die Menschen auf die Heilige Schrift in ihrer Sprache warten müssen. Wie lange hatte sie darauf gewartet!
Sie nahm das Buch in die Hände und überblätterte die Vorrede, bis sie zum »Evangelion Sanct Matthes« gelangte. Am Anfang war ein Holzschnitt eingefügt, der einen Mann zeigte, der in einem Buch schrieb. Vor ihm stand ein Engel mit erhobenem Zeigefinger. Alles war in ein »D« als Anfangsbuchstaben gehüllt. Was für ein passendes Bild. »Djs ist das buch von der gepurt Jhesu Christi der do ist ein son Dauids des sons Abraham. Abraham hat geporn den Jsaac …«
Simon kam ihr entgegengestürmt und schloss sie in die Arme. »Wie kann ich dich noch umstimmen?« Seine Stimme klang belegt.
»Gar nicht.«
Er drückte sie fest an sich. »Ich habe solche Angst!«
»Brauchst du nicht. Vertrau auf Gott«, sagte sie, obwohl ein Teil seiner Angst auf sie übersprang. Sie wusste nicht, was sie in Köln erwartete, doch sie wollte sich nicht einschüchtern lassen. Sie würde findiger sein als ihr Bruder Enderlin und bald wieder nach Wittenberg zurückkehren.
»Wie hat Ells es aufgenommen?«
Jonata löste sich aus der Umarmung. »Sie glaubt, dass ich morgen wieder da bin, und war begeistert, als Cristina mit ihr Brot backen wollte.« Sie sah auf das Buch. »Können wir es uns leisten, Figen ein Exemplar zu schenken?«
Simon nickte.
Jonata strich über den Buchrücken. Sie träumte schon lange davon, das Neue Testament endlich einmal vollständig zu lesen. Bisher kannte sie nur Auszüge. Das Buch sollte eineinhalb Gulden kosten, doch als Arbeiter der Druckerei würde Simon es günstiger erhalten. Nur die wenigsten würden sich das leisten können.
»Bleib nicht zu lange fort.« Simon drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Mathes trat zu ihnen. »Ich bringe dir deine Frau so schnell wie möglich wohlbehalten zurück.«
Simon schlug dem Buchführer freundschaftlich auf die Schulter. »Ich verlasse mich auf dich.«
Mathes zwinkerte ihm zu. »Hauptsache, sie sitzt so geschickt im Sattel, wie du erzählt hast. Denn nur, wenn wir schnell zu Pferde sind, werden wir schnell wieder hier sein.«
»Daran wird es nicht scheitern«, sagte Jonata. »Hast du alle Schriften und Bücher, die du wolltest?«
Mathes grinste. »Ich habe nie alle Schriften, die ich möchte, aber ich habe genug, um damit gute Geschäfte in Köln zu machen. Sollen wir?«
Jonata wandte sich Simon zu, sah in seine verschiedenfarbenen Augen. Eins braun, eins grün. Sie konnte sich immer noch darin verlieren. Sie strich ihm ein paar lockige Strähnen hinters Ohr. »Sorge dich nicht zu sehr. Ells ist bei Cristina in guten Händen, und du wirst in den nächsten Tagen genug zu tun haben, dass die Zeit im Nu vergeht, bis ich wieder zu Hause bin.«
»Wenn du zum heiligen Simon Zelotes nicht wieder hier bist, werde ich dich persönlich holen.«
Das war am achtundzwanzigsten Oktober, also gab er ihr über einen Monat Zeit. Mehr würde sie nicht brauchen. Sie grinste. »Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?«
Er grinste ebenfalls. »Du weißt, dass ich dir niemals drohen würde.« Er senkte den Kopf und küsste sie. Seine Lippen waren warm und weich. Wie sehr sie seine Küsse vermissen würde.
»Ich bin bald zurück«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Sie trat mit Mathes aus der Druckerei, sah noch einmal zu ihrem Mann, der ihr traurig lächelnd nachblickte.
»Dann mal los! Wir sollten keine Zeit verlieren«, sagte Mathes. »Ich habe mir schon überlegt, wo wir heute Nacht rasten, dafür müssen wir uns beeilen.«
Das ließ sich Jonata nicht zweimal sagen, verstaute das Buch in dem Bündel, das sie an den Sattel gebunden hatte, machte ihre Stute los und schwang sich aufs Pferd. Zum Glück war sie mit Simon oft an der Elbe entlanggeritten. Sie hatten eine alte Eiche gefunden, an der sie sich an sonnigen Tagen Texte vorgelesen und darüber diskutiert hatten. Simon hatte ihr gezeigt, wie man richtig im Sattel saß, und sie hatten kleine Wettrennen gemacht. Diese Ausflüge würden ihr nun zugutekommen.
Sie ritten am Rischebach entlang bis zum Schlossplatz, wo er sich mit dem Faulen Bach vereinigte und über die klappernden Mühlräder sprudelte. Sie verließen Wittenberg durch das Schlosstor. Es stank bestialisch nach Kalk und Urin. Zwei Gerber standen im Bachlauf vor schräg gestellten Baumstämmen und schabten Tierhäute ab.
Als sie sich etwas von der Stadt entfernt hatten und frische Luft atmen konnten, blickte Jonata zurück. Das Schloss und die Türme der Stadtkirche erhoben sich hoch über den Häusern. Die Sonne brach zwischen den Wolken durch und brachte den Elbfluss zum Glitzern. Ihre Hände krampften sich um die Zügel. Sie hatte geglaubt, ihrem Vater irgendwann ihr neues Heim zeigen zu können. Diese Schönheit, die Freiheit, ihre Familie, ihr Zuhause.
»Grüble nicht so viel«, sagte Mathes.
»Wie könnte ich nicht!«
»Deine Antworten liegen in Köln. Lass uns so schnell wie möglich dorthin gelangen.«
»Du hast recht.«
Sie ritten im Galopp weiter. Der Wind wehte Jonata ins Gesicht, zerrte an ihrer Haube und befreite ein paar Strähnen. Wie schnell würden sie es nach Köln schaffen? Hatten sie überhaupt eine Chance, rechtzeitig zur Beerdigung dort zu sein, oder waren sie schon zu spät? Dann würde sie zumindest nach dem Mörder ihres Vaters suchen. Auf die Obrigkeit konnte man sich nicht verlassen. Das hatte sie erleben müssen, als ihr Bruder Lucas vor vier Jahren verstorben war. Damals hatten die Stadtdiener nicht herausgefunden, wie er zu Tode gekommen war. Sie hatte es von Simon erfahren. Lucas hatte sich mit Simons Bruder nach dem Besuch einer Schenke wegen einer Frau geprügelt. Lucas war in der Rangelei nach hinten gefallen und hatte sich den Kopf an einer Steintreppe aufgeschlagen. Sie schluckte die Tränen hinunter, wollte sich nicht von der Trauer überwältigen lassen.
Sie ritten an Feldern vorbei und durch einen Wald. Als sie eine Reisegruppe überholten, pfiff ihnen ein breitschultriger Mann auf einem Pferd hinterher. »Ihr da, wollt ihr uns nicht begleiten?« Er grinste breit und entblößte dabei mehrere verfaulte Zähne. Jonata lief es eiskalt den Rücken hinunter, und sie musste an diesen widerlichen Halunken denken, der sie vor Jahren auf der Reise von Köln nach Sachsen hatte schänden wollen.
»Kein Bedarf«, rief sie und trieb ihre Stute mit Druck auf die Flanke zur Eile an. Natürlich wären sie in der Gesellschaft einer Reisegruppe sicherer vor Wegelagerern, aber sie hatte erfahren müssen, dass auch in diesen Gruppen Gefahr lauerte. Sie war froh, nur mit Mathes unterwegs zu sein. Er würde ihr niemals etwas zuleide tun, im Gegenteil, er würde sie beschützen.
***
»Möhren, Sellerie, Lauch, Zwiebeln, einen Weißkohl und fünf Pastinaken«, bat Figen.
Die Bäuerin verzog grimmig das Gesicht. Dieses unhöfliche Weib! Wenigstens ein Lächeln hätte sie sich abringen können, schließlich hatte sie letzte Woche erst einen Schilling bekommen. Figen entschied sich noch für ein paar Zwetschgen und eine Dolde Weintrauben.
»Hab Dank«, sagte sie und nahm den Korb entgegen. Sie schob sich eine Traube in den Mund, schloss die Augen und zerbiss sie. Die Süße ergoss sich wie ein Wasserfall über ihre Zunge. Köstlich! »Ich werde Euch das Geld bald zurückzahlen«, sagte sie zu Seitz.
»Betrachtet es als Geschenk«, sagte er.
»Aber ich kann doch nicht –«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr habt zurzeit weiß Gott andere Sorgen.« Sie kamen an dem Stand mit den Süßspeisen vorbei. Seitz deutete mit einer Kopfbewegung dorthin. »Wenn die Zeit gekommen ist, könnt Ihr Euch gerne erkenntlich zeigen. Ich habe eine Schwäche für Mandelküchlein.«
Sie spürte ein freudiges Kribbeln in ihrem Bauch. Bald würde sie ihm den Schilling zurückzahlen und ihm eine Leckerei spendieren können.
»Mein Vater wartet auf die Hornplatten. Begleitet Ihr mich? Danach bringe ich Euch nach Hause und helfe Euch beim Tragen.«
Sie nickte. »Sehr gern.«
»Der Hornhändler schickt seinen Sohn übrigens auch zu einer privaten Winkelschule«, sagte Seitz, als sie in den Steinweg einbogen. »Er ist sehr zufrieden. Sein Abkömmling kann bereits besser lesen als er.« Er lachte.
»Hat er vielleicht auch eine Tochter?«, fragte Figen und lachte ebenfalls.
»Das weiß ich nicht, aber es wird genug Bürger Kölns geben, die ihre Töchter in Eure Schule schicken. Private Schulen sind beliebt. Da die Klassen klein sind, lernen die Kinder schnell, und die Familien zahlen gut. Ein großer Vorteil.«
Das hörte sich vielversprechend an. »Dann müssen die Bürger Kölns nur noch von meiner Mädchenschule erfahren.«
Seitz grinste breit. »Ich werde auf den Versammlungen Eure Schule anpreisen. Meine Schwestern werden die Ersten sein, die auf Euren Schulbänken sitzen.«
»Ich muss erst mal die Schenke säubern und herrichten«, gab Figen zu bedenken. Sie war froh, dass Seitz sie zu unterstützen gedachte.
»Und Ihr müsst Euch einen Lehrplan überlegen, Bücher kaufen, Wachstafeln, Papier …«
Figen ließ die Schultern hängen. Natürlich! Wie hatte sie so dumm sein können? Sie hatte kein Geld, um all dies zu kaufen. Wie wollte sie ohne Utensilien eine Schule eröffnen?
»Was ist?«, fragte Seitz.
»Bücher und Wachstafeln kann ich mir nicht leisten.«
»Aber Ihr habt doch Schriften, oder nicht?«
Figen nickte. »Luthers Thesen, seine Texte ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹ und ›Von der Freiheit eines Christenmenschen‹. Außerdem die Legende der heiligen Ursula.«
»Nehmt doch ›Ein Sermon von Ablass und Gnade‹. Der Text ist einfach und von lehrreichem Inhalt. Und sobald Ihr über mehr Geld verfügt, kauft Ihr Euch weitere Schriften.«
Figens Stimmung hob sich. Vielleicht konnte sie wirklich damit beginnen.
»Ich empfehle Euch eine Grammatik, die Psalter und das Paternoster. Ihr solltet erbauliche Werke mit den Mädchen studieren. Am besten natürlich die Schriften von Luther.« Er zwinkerte ihr zu. »So werden sie nicht nur Lesen und Schreiben lernen, sondern auch zum rechten Glauben erzogen.«
Luthers Texte – voller Hoffnung und Zuversicht – wären das richtige Lehrmaterial für die jungen Seelen. Figen würde die Mädchen lehren, die Texte zu studieren und den eigenen Kopf zu gebrauchen. Ablassbriefe ade! Den wahren Glauben an Gott sollten die Zöglinge lernen.
Allerdings durfte sie ihr Wirken dann nicht an die große Glocke hängen. Vor zwei Jahren hatten Papst Leo, Kaiser Karl V. und der Kölner Erzbischof Hermann von Wied veranlasst, Luthers Schriften öffentlich auf dem Domhof zu verbrennen. Diesem abscheulichen Ereignis hatte der Kaiser persönlich beigewohnt. Figen war nicht dort gewesen, doch sie konnte sich gut an die Schimpftiraden des Buchführers erinnern. Von ihm hatte die Inquisition drei Schriften konfisziert. Dem HERRN sei Dank war Mathes Roht nicht vors Inquisitionsgericht gebracht worden. Er hatte ihr berichtet, wie er in der Menschenmenge auf dem Marktplatz untergetaucht war. Danach hatte er die Stadt schleunigst verlassen. Ein Vorteil eines fahrenden Buchführers. Auf diese Möglichkeit konnte Figen nicht zurückgreifen, wenn die Inquisition vor der Pforte ihrer Schule auftauchen würde.
»Womöglich kommt mir die Inquisition auf die Schliche«, gab sie auch gleich zu bedenken.
»Die kann ihre Nase nicht überall haben«, sagte Seitz abschätzig, als redete er von einer Kakerlake. »Und Ihr steht nicht auf dem Marktplatz wie ich damals.«
»Was Ihr nur erleiden musstet!« Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Sie sah ihn vor sich, wie er gebückt am Schandpfahl stand, die Hände in Eisenfesseln, das Gesicht vor Pein verzerrt. Bei jedem Peitschenhieb des Scharfrichters hatte er qualvoll aufgestöhnt.
»Der Tag am Kax hat mich nur in meiner Überzeugung bestärkt. Ich lasse mich von ein paar Peitschenhieben nicht kleinkriegen.«
Figen wollte sich die Schmerzen nicht vorstellen, die er hatte ertragen müssen. Sicherlich zeugten noch Narben von diesem Tag. »Ich würde das nicht durchstehen.«
»Das müsst Ihr auch nicht. Dafür verbürge ich mich.«
Eine Flamme loderte in ihr auf. War es Gottes Wille, dass dieser Mann ihr zur Seite stand? Figen wollte sich von den Geistlichen nicht einschüchtern lassen. So wie von dem Dorfpfaffen, der ihr vor Jahren das Buch ihrer Mutter weggenommen und über sie gelacht hatte. Ihre Kiefer mahlten. Nein! Dergleichen würde ihr nicht noch einmal passieren, und sie würde dafür sorgen, dass ihre Zöglinge niemals in eine solche Situation kämen.
»Aber wie sollen die Menschen von meiner Schule erfahren?«
»Ich werde in der nächsten Versammlung davon berichten. Seid versichert, dass nur Anhänger von Luthers Lehre ihre Töchter zu Euch schicken werden.« Seitz lächelte breit.
Sein Lächeln war ansteckend, und Figens Herz machte einen Satz. Sie senkte den Kopf. Wieso spielte ihr Herz nur so verrückt, wenn sie mit ihm zusammen war? Sie sollte sich nicht in ihren Gefühlen verlieren. Es ging um die Schule und darum, Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Mehr durfte sie nicht zu hoffen wagen. Seitz von Rosenberg würde sich niemals auf eine Magd einlassen. Er war nur darauf bedacht, die Lehre Luthers in Köln zu verbreiten und seinen Schwestern eine angemessene Bildung zu bieten. Dennoch fühlte es sich gut an, wenn er an ihrer Seite war.
»Wisst Ihr, wie ich das Problem mit den Wachstafeln lösen kann?«
Seitz strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Das solltet Ihr den Familien Eurer Zöglinge überlassen. Jedes Mädchen, das Euren Unterricht besucht, muss eine eigene Wachstafel mitbringen. Das ist nicht unüblich.«
Ein Vogel flog pfeifend über sie hinweg. Es war wie ein Aufruf zur Tat.
»Jetzt müsst Ihr Euch nur noch überlegen, wie viel Schulgeld Ihr verlangen wollt.«
»Erst mal muss ich die Schenke aufräumen und eine Schulstube daraus herrichten.« Figen lächelte. Sobald sie Geld eingenommen hatte, würde sie beim Buchführer weitere Schriften für den Unterricht erwerben. Eine kribblige Vorfreude breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie würde etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen, dem HERRN dienen und vielen Mädchen helfen.
***
Am späten Nachmittag ritten Jonata und Mathes in einen Wald hinein, doch nach einiger Zeit versperrte ihnen ein umgestürzter Baum den Weg. Die Verästelungen ragten hoch empor, ihre Pferde würden nicht hinüberspringen können. An beiden Seiten war das Unterholz so unwegsam, dass sie nicht drum herumreiten konnten.
»Zum Henker«, fluchte Mathes.
»Was nun?«, fragte sie.
»Wir reiten zurück zur letzten Weggabelung und nehmen den anderen Pfad.« Mathes zog am Zügel und lenkte seine Stute zurück.
Jonata folgte ihm. Als sie bei der Gabelung ankamen, war sie überrascht. Sie hatte die Abzweigung zuvor nicht wahrgenommen. Doch der Weg war eng und holprig, ein besserer Trampelpfad. »Hoffentlich ist das kein Holzweg«, gab sie zu bedenken. Und würde nicht mitten im Wald bei einem Holzsammelplatz enden.
»Nein. Ich bin hier schon mal hergeritten. Ich glaube, es gibt gleich eine Querverbindung, die uns wieder zurück auf den richtigen Weg führt.« Er klang nicht besonders zuversichtlich. Jonata unterdrückte das ungute Gefühl und befahl sich, ihm zu vertrauen. Schließlich war er ein Reisender und auf dem Rücken seines Pferdes zu Hause.
Sie ritten einen Hügel hinauf und wieder hinunter. Das Unterholz zu beiden Seiten wurde eng und undurchdringlich. So würden sie nicht auf ihren ursprünglichen Weg zurückkommen. Die Dämmerung legte sich über den Wald, durch die Baumwipfel drang immer weniger Licht.
»Wir sollten uns beeilen.« Jonata blickte nervös über ihre Schulter. Sie hatte das Gefühl, verfolgt zu werden, aber in den Schemen der Bäume konnte sie nichts ausmachen.
»Hier irgendwo muss es doch eine Abzweigung geben«, brummte Mathes.
Ein Käuzchen schrie durch die anbrechende Nacht, und es raschelte im Unterholz. Jonata sah sich immer wieder um. Vielleicht hätten sie umkehren sollen, als der Baum ihnen den Weg versperrt hatte.
Plötzlich ertönte ein Geschrei, das ihr durch Mark und Bein fuhr. Schattengestalten stürmten Lanzen und Stöcke schwingend von einem Abhang auf sie zu. Mathes blickte sich zu Jonata um. Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das war das Schlimmste: Ihr Beschützer hatte Angst!
Die Gestalten hatten ihn erreicht, und Jonata gefror das Blut in den Adern. Zwei von ihnen schlugen gegen die Beine von Mathes’ Stute, die daraufhin in die Knie ging. Mathes fiel vom Pferd. Jonatas Stute wieherte und bäumte sich auf, warf sie fast ab. Einer der Angreifer trat zu ihr und griff nach den Zügeln. Er war ein großer Mann mit langen Haaren, an seiner rechten Hand fehlten zwei Finger, seine Augen blitzten lüstern, sein Gesicht war dreckig und ungepflegt.
»Absteigen, meine Hübsche«, sagte er.
Jonata zitterte am ganzen Körper. Der Mann hatte trotz der zwei fehlenden Finger an seiner Hand ihre Handgelenke so fest gepackt und auf dem Rücken zusammengebunden, dass sie vor Schmerz aufschrie. Er zog sie hinter sich her. Sie stolperte mehr über den Waldboden, als dass sie lief, denn sie konnte bei dieser Dunkelheit kaum etwas sehen.
Jonata schätzte die Wegelagerer auf mindestens fünfzehn Männer. Mathes lief ein paar Fuß vor ihr mit einem Sack über dem Kopf. Anscheinend wollte man nicht, dass er sah, wo man sie hinbrachte. Wieso hatten sie nicht dasselbe bei ihr getan?
Dort vorne liefen auch ihre Pferde. Jonata presste die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Was hatten diese Halunken mit ihnen vor? Warum hatten sie sich nicht einfach die Bücher und ihre Münzen genommen und waren verschwunden? In ihrem Kopf formte sich ein Gedanke, den sie zu verdrängen versuchte. Zu viele Männer und zu wenige Frauen. Das Zittern in ihrem Leib verstärkte sich. Sie wünschte, sie wäre daheim bei Simon und Ells geblieben.
Ein Licht tauchte in der Finsternis auf. Als sie näher kamen, erkannte Jonata, dass es sich um ein Lagerfeuer handelte, Gelächter war zu hören. Es gab provisorische Unterstände, zwei Karren und mehrere Pferde, die an Bäumen angebunden waren.
Der Mann drückte sie abseits an einem Baum zu Boden und band sie daran fest. »Nicht weglaufen, meine Hübsche«, sagte er grinsend. Sie konnte ihre Hände kaum bewegen.
Mathes verfrachteten sie an einen Baum ein paar Schritte von ihr entfernt. Ein großer Kerl nahm dem Buchführer den Sack ab. Mathes schwenkte den Kopf, um die Haare aus dem Gesicht zu schütteln, und sah sich um.
»Schön hierbleiben, verstanden?«, sagte der Hüne scharf und band Mathes ebenfalls fest.
»Dann lasst uns mal nachsehen, was in dem Gepäck ist«, rief einer vergnügt. Die Männer entfernten sich lachend.
»Was wollen sie von uns?«, fragte Jonata gedämpft.
»Unser Geld«, antwortete Mathes.
»Warum haben sie uns dann mitgenommen?«
»Das werden wir noch erfahren.«
Davor graute ihr. Bang erwartete sie, dass die Männer zurückkamen und über sie herfielen, doch vorerst scherte sich keiner um sie.
Es wurde immer kälter, vor allem die Bodenkälte wurde unerträglich. Zudem war Jonata müde und erschöpft von der Reise. Sie konnte das Zittern nicht mehr kontrollieren, die Kälte fraß sich in ihre Glieder. Sie lehnte sich an den Baumstamm. Wie hatte alles so weit kommen können?
Es wurde immer ruhiger im Lager, anscheinend legten sich die Männer schlafen. Irgendwann fielen ihr die Augen zu, und die Schwärze umfing sie.