Читать книгу Milo von der Straße - Billy Remie - Страница 4

Begegnung

Оглавление

Dieses Gesicht war das erste und einzige, das ihn seit Monaten fesseln konnte. Es stach aus einer schier endlosen Zeitschleife aus grauen und fahlen Momenten hervor und faszinierte auf eine Art und Weise, wie es ein feuriger Sonnenaufgang nach einer stürmischen und kalten Nacht getan hätte.

Nikolai legte einen Schein auf den Tresen und nahm seinen dampfenden Kaffeebecher entgegen, der ihn von dem Mann dahinter gefüllt zurückgereicht wurde. Die Kasse klingelte, Kleingeld klimperte, doch das Wechselgeld winkte er ab und ging weiter.

Der Dampf des Kaffees versprach einen schrecklichen Geschmack, doch er hatte ohnehin keine hochwertige Bohnen an einem Bahnhofsstand erwartet. Er war schließlich in keinem »high society« Viertel unterwegs.

Doch genau deshalb war er hier. Nein, nicht wegen des mittelmäßigen Kaffees. Um der endlosen und trostlosen Glattheit und Makellosigkeit zu entkommen und Kanten und Risse und Dreck zu sehen, hoffend, es möge ihm etwas ins Auge springen, das ihn bewegte.

Und dann sah er dieses Gesicht. Welch Ironie. Nikolai schraubte den Deckel seines Thermobechers zu und blieb auf dem Platz vor dem Bahnhof mitten im alltäglichen Gedränge stehen, um erneut hinüber zu der von Graffitis übersäten Wand zu blicken, wo er den jungen Mann entdeckt hatte. Er hatte ein Gesicht, das man eher auf einer riesigen Reklame erwartete. Androgyn, perfekt symmetrische Linien, dazu volle Lippen, die wie nachgezeichnet wirkten, eine malerische Kieferpartie, die in einem unaufdringlichen Kinn mündete, das eine angemessene Länge und Schmalheit aufwies, ohne zu spitz oder zu klobig zu wirken. Die Stirn weder zu groß noch zu breit, die Nase vielleicht etwas zu spitz und lang, aber das verlieh dem Gesamtbild eine harschere Note. Riesige, grüne Augen mit dichten Wimpern umrandet, die man selbst über ein Viertel des Platzes erkennen konnte.

Nikolai nippte an seinem Kaffee, der verbrannt und sauer schmeckte, und starrte unverhohlen hinüber zu diesem Gesicht. Berufspendler schnalzten mit der Zunge, als sie sich an ihm vorbeidrückten, gestresste Passanten schoben ihn von links nach rechts. All das interessierte ihn nicht, nicht heute. Seit Monaten kam es ihm vor, als wäre um ihn herum die Zeit beschleunigt, nur er stünde auf der »Pausetaste«. Nichts berührte ihn mehr, es war ihm alles gleich, alles zu sinnlos.

Dann sah er dieses Gesicht und zum ersten Mal seit Monaten sehnte er sich danach, den Auslöser zu drücken.

Es besaß Linien, die er durchaus als aristokratisch bezeichnet hätte, irgendwie zu hoheitsvoll, zu makellos, und doch gezeichnet vom harten Leben auf der Straße.

Dieser krasse Kontrast faszinierte ihn. So hübsch und so verloren. Fahle und kränkliche Haut, Augenringe, Flecken, rissige Lippen, ausgerupfte und löchrige Augenbrauen, gelbe Zähne, als er seinen Freund anlächelte, der ihm die Glasflasche mit kristallklarem Alkohol reichte und gegen eine qualmende Zigarette tauschte.

Wie das Leben auf der Straße, wie Alkohol und vermutlich auch Drogen, dieses unglaublich perfekte Gesicht langsam auffraßen, faszinierte ihn.

Selbstverständlich wurde sein Starren bemerkt, der junge Mann schielte durch fettige, schwarzbraune Strähnen zurück, ein paar blasse Sommersprossen zierten wie Schneeflocken seinen Nasenrücken und Wangen. Er lächelte nicht, er starrte provokant mit einem verdächtigen Funkeln in den grünen Augen zurück, trank von der Flasche oder zog an der Kippe, bevor er wieder hinab auf das Buch in seinem Schoß blickte, dessen Deckel schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Nikolai blickte ungeniert zurück und nippte dabei eine Weile an seinem Kaffee.

Auf eine Zigarette hätte er auch Lust, das Nikotin hatte die Eigenschaft, Langeweile und Leere zu füllen, zumindest für die Dauer eines Zugs. Doch genau deshalb hatte er das Rauchen vor Jahren aufgegeben. Deshalb – und weil sein alter Herr die Diagnose Lungenkrebs bekommen hatte und durch die Therapie nur noch langsam dahinsiechte.

Er schüttelte den Kopf und vertrieb die Gedanken, mit denen er längst im Reinen war. Noch nie konnten ihn Dinge quälen, die er nicht ändern konnte.

Bis jetzt. Bis auf diese erschreckende Leere im Alltag, das Grau der Tage, das nichts mit dem hereinbrechenden Winter zu tun hatte.

Winzige Schneeflocken wirbelten durch die Luft, dicke Wolken verhingen den Himmel und sperrten die Sonne aus, sodass der Beton, das Metall und das Glas der Stadt noch mehr tot und erdrückend schienen, als sie es ohnehin schon immer waren.

Ironischerweise war der Winter seine liebste Jahreszeit. Nur die Stadt mochte er nicht, ihre perfekt konturierten Formen und Linien, die Fülle, die perfekt geplanten Kanten. Nur toter Beton.

Selbst die Menschen wurden immer mehr und mehr zu dieser Kulisse. Ernste und gestresste Gesichter, die immergleiche Mode, niemand stach aus der Menge heraus, die immergleichen Frisuren, nur drei oder vier unterschiedliche Haarfarben, die Schminke, die Schuhe. Alles schien wie vorgegeben, als wären sie Sklaven der Vorstellung der Allgemeinheit. Fitnessstudio-Körper in verkackten Designer Mänteln. Niemand lächelte mehr, niemand erlaubte sich mehr einen Makel. Keine Kaffeeflecken auf der Hose, keine Tierhaare auf dem Mantel, kein Lippenstift am weißen Hemdkragen. Nichts. Wir alle wollen aussehen, als wären wir aus dem Katalog.

Sogar Nikolai selbst, er war reingeboren in die Makellosigkeit. In die Tristheit.

Ein Umstand, der ihm erst gewahr wurde, als er auf dieses Gesicht traf. Es war so viel makelloser als die hundert anderen Menschen auf dem Bahnhofsplatz, doch es kümmerte sich nicht darum. Mit provokanter Gleichgültigkeit ließ der Besitzer es verkommen, zerstörte es durch seinen Lebensstil.

Er hatte genau danach gesucht, ohne es zu wissen. Nach diesem Gesicht, nach diesem Motiv. Es war das, was ihm gefehlt hatte, etwas mit Leben in den Zügen. Etwas, das er ablichten wollte, wie es war, ohne es bis zur Perfektion digital überarbeiten zu müssen.

Ein Motiv, das ihn endlich wieder bewegte.

Weil er schlicht und ergreifend unheimlich gelangweilt von den geistlosen Gesichtern der Models war, die in seine Linse starrten.

Deshalb war er hierher geflohen, aus einem Impuls heraus, vom Studio in die Straßenbahn auf direktem Weg ins »echte Leben«, um Dreck und Elend zu sehen. Einen Obdachlosen, dachte er, der an der Flasche hing oder seinen Hund streichelte. Ein Motiv, das etwas aussagte, das mit dem Betrachter sprach.

Und dann entdeckte er ihn. Und er war perfekt.

Nikolai nippte noch einmal an seinem Kaffee, während sein Blick auf dem jungen Mann ruhte. Wie alt mochte er höchstens sein? Vermutlich ließen ihn die violetten Ringe unter seinen Augen, die wie Narben schimmerten, älter wirken als er wirklich war. Doch durch seine schlaksige Statur sah er ziemlich jung aus, sodass er vielleicht nicht einmal die Volljährigkeit erreicht hatte, denn selbst in seiner verschlissenen Kunstlederjacke, die ihm fünf Nummern zu groß schien, konnte er seinen enorm knabenhaften Leib nicht verbergen.

Das Heranfahren einer Straßenbahn ließ Nikolai sich nach dieser umsehen und riss ihn aus seinen Grübeleien. Schulkinder im Teenageralter stiegen aus und eine Flutwelle junger Menschen umspülte ihn kurz, eher die meisten von ihnen im Bahnhofsgelände verschwanden. So viele Atemwolken, die durch die Kälte als weißer Nebel aus Mündern und Nasen traten. So viele stinkende, billige Deos.

Plötzlich kam er sich fehl am Platz vor. Was tat er hier nur? Eine Midlife-Crisis schieben? Das Leben am Limit suchen? Straßenkids fotografieren und hoffen, etwas zu entdecken, das von seiner eigenen Norm abwich? Was sollte der Scheiß?

Er schnaubte über sich selbst, gab sich einen Ruck und wandte sich ab. Doch dann blieb er wieder stehen und konnte hinterher nicht einmal genau sagen, warum. Es kitzelte in seinem Nacken und eine unbegreifliche Neugierde und Faszination ließen ihn nicht los.

Sein Bauchgefühl hatte ihn noch nie getäuscht, er spürte instinktiv, dass er etwas für sich Besonderes entdeckt hatte. Wie ein Sonnenuntergang, der perfekt durch zwei Bäume fiel und genau für drei Herzschläge lang so ideal stand, dass das Bild makellos und unübertrefflich werden würde.

Als er sich wieder umdrehte und gemächlich, aber doch zielstrebig auf die Gruppe an der Graffiti-Wand zuging, drehten sich ein paar von ihnen zu ihm um und musterten ihn mit abschätziger Miene. Er steckte seinen Kaffeebecher in seine Umhängetasche, als er nähertrat.

Hakennasen und übergroße Kehlköpfe stachen ihm unter Kapuzen entgegen, glasige Augen und picklige Gesichter, viel zu dünne Knochengerüste, der Geruch nach Alkoholfahnen, altem Schweiß und kaltem Zigarettenrauch.

Nikolais geruchsempfindliche Nase protestierte, doch er ging weiter.

Als wüssten sie, zu wem er wollte, verzogen sich die meisten nach links und rechts und ließen den jungen Mann in der Kunstlederjacke allein.

Ein frecher Blick blitzte zu ihm auf, der junge Mann lehnte sich zurück und zog provokant an einer schlecht gedrehten Zigarette, deren glühende Spitze in seinen schwarzen Pupillen spiegelte. »Hast bisschen Kleingeld?«, fragte er ohne Einleitung, bevor Nikolai etwas sagen konnte, und deutete mit seinem malerischen Kinn auf die Dose, die vor ihm auf dem Pflaster stand.

Nikolai nutzte die Vorlage. »Ich hätte vielleicht ein bisschen mehr als Kleingeld.« Während er das sagte, kramte er in der Tasche seines schwarzen Wollmantels.

Das Gesicht des jungen Mannes wurde härter, zeigte einen deutlichen Hauch Abneigung, dennoch richtete er sich auf und nickte, seine Stimme wurde geschäftiger und leiser. »Gut. Fünfzig für Blasen. Hundert für Ficken. Im Motel oder Auto, es ist arschkalt. Und ohne Gummi geht nichts, ich mach auch keine speziellen Sachen, kein Natursekt, kein Fesseln, keine Faust. Nur Schwanz, anal oder oral, kein Küssen.«

Nikolai schmunzelte kühl und zog sein Portemonnaie. »Ganz schön hohe Tarife«, entgegnete er.

Der Stricher zuckte locker mit den Achseln und lehnte sich wieder zurück, herausfordernd funkelte er zu ihm auf und nahm noch einen Zug von seiner Zigarette, wobei er den Rauch ebenso provozierend wieder ausstieß. Seine grünen Augen hatten aus der Nähe die Farbe von blassem Pfefferminz. »Nicht verhandelbar.«

»Wie wäre es mit zweihundertfünfzig?« Nikolai zückte seine Karte aus dem Portemonnaie und hielt sie ihm auffordernd entgegen. »Und du gibst mir die Rechte an deinem Gesicht.«

Ein Stirnrunzeln trat auf die ansonsten glatten Züge, die den Stricher so blutjung und begehrenswert machten. Argwöhnend griff er nach der Karte und schielte dann darauf.

»Ich bin Fotograf«, erklärte Nikolai und steckte seine Geldbörse wieder ein, »und nur daran interessiert, dich zu fotografieren.«

»Wie jetzt? Nackt?«, fragte der Stricher sichtlich unsicher und nervös, laut genug, dass seine Freunde aufmerksam wurden und zu ihnen herüberschauten.

Nikolai widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen. »Nein. Angezogen. Es geht mir nur um dein Gesicht.«

»Und… wozu?«, wurde er prompt voller Irritation gefragt.

So genau wusste er das selbst noch nicht, es war lediglich ein Bauchgefühl. Nikolai drückte zuerst den Auslöser, bevor er sich Gedanken über die Verwendung des Bildes machte. Erging es nicht jedem Fotografen so? Der Sinn für ein gutes Motiv konnte ständig und überall ausschlagen, ohne ersichtlichen Grund.

Er hob die Schultern. »Für mich, für Ausstellungen, Kampagnen, ich bin noch nicht sicher, aber ich weiß, dass in deinem Gesicht irgendetwas … steckt!«, erklärte er mit unverhohlener Begeisterung, Besessenheit! »Sieh es als Chance, du könntest von Agenturen entdeckt werden.«

Eine Weile starrte der Stricher zu ihm auf und mit einem völlig verständnislosen Blick in seine Augen, die Karte in der Hand noch erhoben und in der anderen die langsam abbrennende Kippe.

Nikolai wartete, dabei konnte er nicht aufhören, in diese blassgrünen Augen zu starren. Er war sich mit wildpochendem Künstlerherz sicher, dass vor ihm sein perfekter Sonnenuntergang saß. So verrückt es auch schien.

Dann traf ihn ein raues Schnauben und er musste blinzeln, weil er nicht mit einer solch herablassenden Reaktion gerechnet hätte. Normalerweise waren Menschen immer begeistert, wenn er sie für Fotos ansprach.

»Ja, klar.« Ein hartes, humorloses Lachen erklang. »Neee, du. Lass mal.« Der Stricher stand auf und gab ihm die Karte zurück.

Verwundert wie er war, nahm Nikolai sie wieder an sich. »Ähm…«

Der Stricher warf nach einem letzten Zug die Kippe auf den Boden und trat sie aus, dann sah er zu seinen Freunden und rief: »He, Basti, ich geh kurz Kippen holen!«

Basti schien nur zu winken.

Der Stricher umrundete Nikolai nach einem letzten skeptischen Blick.

Nach einem Moment der Überraschung ob der Abfuhr, drehte Nikolai sich um und folgte ihm. »Warte! Hey! Moment, ich glaube, du hast nicht verstanden…«

Der junge Mann drehte sich auf dem Bahnhofsplatz wieder zu ihm um und wirkte genervt. »Denkst du, ich bin bescheuert?«

Nikolai schüttelte irritiert den Kopf. »Wenn du eine solche Gelegenheit ausschlägst, in deiner offensichtlichen Lage-«

»Was für eine Lage?«, drohend kam der Stricher auf ihn zu, doch er war gut einen Kopf kleiner, was er durch seine blitzenden Augen wieder wettzumachen versuchte. »Ich weiß, was für kranker Scheiß erwartet wird, wenn einem jemand einfach mal so das doppelte Geld anbietet!«

Nikolai blinzelte einmal gelassen, er hielt ihm erneut die Karte hin: »Ich bin wirklich Fotograf, du kannst meinen Namen-«

»Mir egal, wer du bist«, antwortete der Stricher, doch es lag plötzlich etwas Unsicheres in seinen Augen und er blickte sich kurz um. »Denkst du, ich wüsste nicht, wie das ausgeht? Die große Chance, ja? Wie viele tausend Mädchen fallen darauf rein? Am Ende lieg ich betäubt auf irgendeinem Hotelbett und werde gefilmt, wie ein Rudel Geschäftsmänner ohne Gummi meinen Arsch besamt. Lass mal, da lutsch ich dem Otto mit den Warzen am Sack lieber die Stange für dreißig hinter der versifften Bar, hier, am Bahnhof.«

Nikolai begriff so langsam, wie sein Angebot klang, er wollte etwas sagen, aber der andere sprach unbeirrt weiter.

»Vielleicht entdeckt werden, pah! Als was? Als Model? Ich?« Er öffnete seine Jacke, um seinen Leib zu präsentieren, und schnaubte. »Neee, von wegen! Ich komme mit dir, unterschreibe irgendwas bezüglich meiner Bildrechte, dann betäubst du mich, machst kranke Sachen mit mir in deinem Keller und fotografierst mich dabei. Und die ganzen, schönen Fotos kursieren dann im Darknet oder so.«

Langsam senkte Nikolai die Karte in seiner Hand. »Düster.« Aber genau das war das gewisse Etwas, das auch in diesem jungen Gesicht lag. Es hätte voller Naivität sein müssen, doch es war voller Erfahrung und Müdigkeit.

»Ja ach was!« Der Stricher sah sich wieder um, fuhr sich mit einer ungewollt verwegenen Geste durchs braunschwarze Haar und trat wieder etwas näher. »Pass auf, du willst ficken? Gut, hundertfünfundzwanzig Euro, ok? Ich komme nicht mit dir in irgendein Haus, wir machen´s im Park oder von mir aus auf der Bahnhoftoilette, mir egal. Aber mehr bekommst du nicht von mir.«

Einen Moment sah Nikolai hinab in diese harten und abgeklärten Augen und konnte sich nicht von ihnen lösen. Je mehr sie ihn durchbohrten, je stärker faszinierten sie ihn.

»Wie alt bist du?«, fragte er scheinbar beiläufig.

Der Stricher schnaubte wieder. »Wie alt immer du mich haben willst«, konterte er und hob die Arme, als wollte er ihn auffordern, endlich einen Deal zu machen.

»Ich möchte dich fotografieren«, blieb er standhaft, »ich habe ein Stadthaus. Ein Fotostudio und darüber ein Loft.«

Der Stricher verdrehte die Augen und sah zur Seite weg, wollte ihm nicht weiter zuhören.

»Nimm Freunde mit«, fuhr Nikolai gleichgültig fort, er wollte nur sein Foto. »Ich mache ein paar Fotos von dir, danach sehen wir sie uns an und du selbst entscheidest, ob ich sie lösche oder damit arbeiten darf.« Wieder streckte er ihm die Karte entgegen. »Überleg es dir.«

Sichtlich verunsichert, griff der junge Mann nun nach der Karte. Zweifelnd blickte er Nikolai ins Gesicht und forschte stirnrunzelnd darin.

»Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe«, gestand Nikolai lapidar und ließ die Karte los, um den riesigen Kragen seines schwarzen Wollmantels gegen die Kälte hochzuschlagen, »aber ich sah dein Gesicht und ich weiß, dass ich dich fotografieren muss. Nenn es verrückt. Und ja, vermutlich wird nichts weiter daraus als ein Beispielfoto auf meiner Website, ganz bestimmt wird dich niemand entdecken, da hast du recht. Aber ich bin bereit, dir eine Menge Bares dafür zu geben, wenn du mir nur erlaubst, dein Gesicht zu fotografieren!«

Sie starrten sich gegenseitig an.

Du bist verrückt, Nikolai. Das sagten die Menschen oft genug über ihn, die mit ihm zu tun hatten. Du bist verrückt! Er wusste, sie hielten ihn für exzentrisch und »seltsam«, und während er das irritierte und unsichere Gesicht des blutjungen Menschen vor sich betrachtete, musste er wohl zustimmen.

Er hob wieder die Schultern, fast bis zu seinen leicht abstehenden Ohren, die er mit seinen etwas zu langen und lässigen blonden Haaren zu kaschieren versuchte. »Meine Nummer und meine Adresse stehen auf der Karte, ruf an oder komm vorbei, bis Weihnachten bin ich noch in der Stadt. Es ist deine Entscheidung.«

Jeder würde ihn für verrückt erklären, einen Stricher seine Adresse zu geben, aber mal ganz ehrlich, die konnte ohnehin jeder auf seiner Website einsehen. Was sollte der Kleine schon tun, ihn mit seiner Bande ausrauben? Das Risiko schien es wert zu sein, wenn er sich dieses Gesicht besah, das ihn einfach nicht losließ.

Schließlich riss er sich jedoch zusammen und drehte sich nach einem letzten Blick um. Verwirrt und zweifelnd starrte der Stricher ihm nach, drehte die Karte grübelnd in der Hand.

»Warte!«

Nikolai drehte sich wieder zu ihm um, etwa sieben Schritte lagen zwischen ihnen.

»Dreitausend!«

Nikolai hob eine Augenbraue. »Frech.«

Langsam kam der Stricher näher, wie ein verletztes Vögelchen, dem man Wasser anbot. Verzweifelt und doch vorsichtig, verunsichert. »Ich wette, die Models, die du sonst so fotografierst, bekommen mehr für ihre Bildrechte«, konterte er dann aber doch recht entschlossen.

Seine Dreistigkeit brachte Nikolai fast zum Lächeln. Fast.

»Die haben auch eine Ausbildung, meistens, oder zumindest schon Erfahrungen, wodurch sich ihr Wert steigert.« Er wartete, bis der Stricher vor ihm stand. »Dreihundert.«

»Tausend.«

»Vierhundertfünfzig, bar, wenn du jetzt mitkommst.«

»Achthundert, bar.« Der Stricher setzte ein verführerisches Grinsen auf, das jedoch seine Augen völlig kalt ließ. »Und ich hol dir noch einen runter.«

Es war dieser Blick, den Nikolai gleichsam schockierte und faszinierte, dieses Schauspiel und die Bereitschaft, sexy zu wirken, obwohl man es innerlich gar nicht wollte.

»Fünfhundert«, betonte Nikolai, »nur Fotos, kein Sex, aber ich spendiere dir ein Essen.«

Die Augen begannen gefährlich zu funkeln, als käme dem Stricher eine geniale Idee. Das gefiel ihm überhaupt nicht, doch er ließ ihn überlegen.

Dann musterte er Nikolai. »Sechshundert«, forderte er und es klang endgültig. Plötzlich sah er in den Himmel und sinnierte auffällig: »Es wird kalt heute Nacht…« Wieder sah er Nikolai an. »Sechshundert, davon Hundert im Voraus. Und ich darf bei dir pennen.«

Erneut starrten sie sich an, wie zwei gegenüberstehende Wände, warteten ab und forschten in den tiefen Augen des jeweils anderen. Augen, in denen der Spiegel zweier Leben stand, die sie gegenseitig kaum begreifen konnten, und doch waren es auch Augen, die ihnen beiden seltsam vertraut vorkamen, als teilten sie Gedanken, die sie trotz aller Unterschiede vereinten. Zum ersten Mal sah Nikolai so etwas wie Leben und Tiefe im Blick eines anderen Menschen. Eine Tiefe, die er sonst nur in sich selbst spürte. Abgründe und Höhen, Kanten, Makel.

Nikolai zuckte schließlich mit den schmalen Schultern. »Deal.« Er zog sein Portemonnaie erneut.

Überrascht blinzelte der Stricher ihn an, denn damit hatte er nicht gerechnet. Nikolai reichte ihm zwei Fünfziger, wie in Trance nahm er sie zwischen die Finger und starrte ihn an, als erwartete er irgendeinen fiesen Trick dahinter. Fast als ob Nikolai gleich »Überfall« brüllen oder ihn festnehmen wollen würde.

»Kommst du?«, fragte Nikolai herausfordernd, bevor der Stricher es sich wieder anders überlegen konnte. Er steckte sein Portemonnaie wieder ein.

Unsicherheit trat zurück in die blutjungen Züge seines Gegenübers, machte ihn verletzlich und strafte seiner taffen Art Lüge. Alles nur Show, um überleben zu können. »Ähm…ja…« Er blickte hinüber zu seinen Freunden.

»Nimm jemanden mit«, sagte Nikolai, es war ihm einerlei, er wollte nur Fotos.

Eine weitere Musterung glitt über ihn, ein weiterer Moment verstrich. Dann gab der junge Mann sich einen Ruck. »Warte hier«, sagte er nur und ging dann hinüber.

Nikolai sah ihm nach, der Wind wehte ihm das blonde Haar in sein – wie seine Bekannten es nannten – ausdrucksloses Gesicht.

Der Stricher griff sich seinen Rucksack, der schon bessere Tage gesehen hatte, schulterte ihn und sprach mit einem jungen Mann mit buntem Irokesen und blutverkrusteten Tunneln im Ohr, Pauspacken und Kälteflecken im Gesicht. Diesem gab er die Karte, sein Freund hörte ihm kurz zu und schien etwas besorgt. Doch der Stricher gab ihm das Geld und flüsterte ihm etwas zu, das diesen wohl über die Bedenken hinaus zustimmen ließ.

Als der Stricher zu Nikolai zurückkam, stand dessen Freund auf und drängte auf einen anderen ein, er zeigte das Geld, kratzte sich am Ohr, der andere nickte.

Es ging um Drogen, ganz bestimmt. Nikolai machte sich nichts vor, er wusste, wozu sein Geld genutzt werden würde, es war ihm egal gewesen. Doch plötzlich überkam ihm ein beengtes Gefühl.

»Gut«, sagte der Stricher wieder mit mehr Entschlossenheit. »Mein Freund hat deine Karte, wenn ich morgen nicht bei ihm auftauche, wird man mich suchen.«

So viel Sicherheit hätte Nikolai Strichern wirklich nicht zugetraut, er witterte mehr hinter den Vorsichtsmaßnahmen als reinen Argwohn. Es stand in den Augen des jungen Mannes, Schmerz und Wut.

Er nickte über die Schulter. »Wir fahren mit der Straßenbahn.«

Milo von der Straße

Подняться наверх