Читать книгу Milo von der Straße - Billy Remie - Страница 7

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Der Morgen dämmerte gerade erst am Horizont, ein schmaler Streifen roter Schliere im aufklarendem Himmel. Diffuses Licht fiel durch die Fenster, weil er die automatischen Jalousien abgeschaltet hatte, um den Schneefall in der Nacht von seinem warmen Bett aus zu beobachten, während ihm ein knackiger Arsch in die Lenden gedrückt wurde.

Müde blinzelte Nikolai und tastete nach dem verlassenen Kissen, das direkt vor seiner Nase lag, er konnte noch den Kopfabdruck darauf erkennen und grub einem Drängen nachgebend das Gesicht hinein, um den Duft einzusaugen. Die Seife hatte sich mit Milos Körpergeruch vermischt – und der Geruch verursachte ihm ein Prickeln auf der Kopfhaut.

Nikolai richtete sich auf und rieb sich mit dem Handballen ein Auge. Das Zimmer wirkte so verlassen, dass ihn die Leere darin angähnte.

Stirnrunzelnd warf er einen Blick auf die leuchtenden Zahlen seines Weckers. Das Ding war nicht mehr als ein modernes Kunstwerk, eine winzige Glasplatte, die die Zeit anzeigen konnte.

Und sie sagte, dass es zu früh war, nicht einmal ganz acht Uhr. Er hätte erwartet, dass der Kleine länger schlafen würde, angesichts der Tatsache, dass er sonst wohl kaum die Gelegenheit auf ein solches Bett bekam.

Ein unbehagliches Gefühl überkam Nikolai und er stand auf. Die Badezimmertür war angelehnt und dahinter brannte Licht, doch als er die Tür sanft aufstieß, war der Raum dahinter leer, nur der Klodeckel stand offen und ein paar Rollen Papier fehlten. Dass der Stricher ein paar seiner Duschcreme-Flaschen mitgehen gelassen hatte, war ihm am Abend schon aufgefallen, doch er hatte nichts gesagt. Bei Gott, er wusste, Milo konnte es gebrauchen, es war kein großer Verlust, wenn er sich etwas neukaufen musste. Doch auch der Spiegelschrank stand offen, in dem er seine Medikamente aufbewahrte. Schmerzmittel, darunter auch verschreibungspflichtige Arznei, die er vor einem halben Jahr genommen hatte, nachdem man ihm die Weisheitszähne entfernt hatte. Sie fehlten, der ganze Schrank war ausgeräumt.

Das unangenehme Gefühl, verarscht worden zu sein, nahm zu.

Nikolai drehte sich um, griff nach seinem seidenen, schwarzen Morgenmantel und warf ihn über, bevor er aus dem Schlafzimmer trat.

Wie erwartet, entdeckte er ein paar leere Stellen zwischen den Flaschen an der Spiegelwand seiner Bar. »Mh«, grummelte er, »den guten Wein hat er hiergelassen, der Banause.« Nein, der Stricher hatte sich nur an den harten Sachen bedient und seinen Rucksack vollgestopft. Auch ein Blick in den Kühlschrank zeigte, dass er ein wenig Essen mitgehen gelassen hatte. Wobei Nikolai beinahe schon froh darüber war, dass er nicht ausschließlich ans Saufen gedacht hatte.

Er warf den Kühlschrank zu und fühlte sich trotzdem dumm. Ausgenutzt. Hätte Milo ihn gefragt, er hätte ihm selbstverständlich seine gesamten Essensvorräte und warme Kleidung geschenkt. Aber das hatte er nicht, er hatte Nikolais Geld genommen und ihn ausgeraubt.

Tz, Stricher. Was hatte er erwartet?

Trotzdem, der Stachel des Verrates saß tief, er hatte in der Nacht wirklich für ein paar Augenblicke das Gefühl gehabt, dass die Begierde, die er für den fremden Kleinen empfand, erwidert wurde. Doch es schien, als ob der Stricher schlicht ein verdammt guter Schauspieler war.

Natürlich hatte Nikolai es geahnt, war aber trotzdem erschöpft vom vielen Rumgeficke eingepennt, statt aufzupassen.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, wieder runzelte er die Stirn. Von der Küche ging er ins Wohnzimmer, schon von weitem sah er, dass die Kamera nicht mehr neben dem Puzzle lag, wo Milo sie am Abend zuvor liegen gelassen hatte. Dafür hatte er die Zeit gefunden, ein paar Lücken im Puzzle mit den richtigen Teilen zu füllen, während Nikolai nichtsahnend im postkoitalischen Koma gelegen hatte.

Nikolai hatte so eine Ahnung, dass seine Kamera nun für immer verschwunden blieb.

Sein Blick fiel auf den Zettel, den Milo am Abend zuvor unterschrieben hatte. Er lag auffällig umgedreht unter die Puzzlematte geklemmt und er zog ihn einer weiteren Ahnung folgend hervor.

Er konnte nicht anders, als über sich selbst zu schnauben.

Dort, wo er eine Unterschrift erwartete, entdeckte er bloß die mehr oder weniger detaillierte Zeichnung eines ejakulierenden Penis´.

Kopfschüttelnd zerriss er das Blatt. Da die Kamera mit Milo verschwunden war, hatte er ohnehin keine Fotos mehr.

Alles, was ihm von der Begegnung geblieben war, war der fremde Duft auf seinem Kopfkissen.

*~*~*

Zum wiederholten Male klopfte Milo an die abgeplatzte und zugeschmierte Tür, dieses Mal unterbrach er jedoch nicht für eine Pause, sondern hämmerte gereizt dagegen, um die wummernde Musik dahinter zu übertönen. Seine Finger taten weh, vom stundenlangen in der Kälte stehen, er war müde und durchgefroren und hatte ewig gebraucht, um mitten in der Nacht zurückzufinden, weil kein beschissener Bus aus der Bonzengegend zum Bahnhof fuhr.

Er war also einen verfickt langes Stück durch die Eiseskälte marschiert.

Dann hatte Basti nicht wie abgesprochen am Treffpunkt auf ihn gewartet. Was sollte der Scheiß? Milo hatte sich auf die Bank im nächtlichen Park gesetzt, wo sie verabredet gewesen waren. Basti hätte auf ihn warten sollen und nach spätestens einer Stunde, wenn Milo nicht auftauchte, zu der Adresse kommen sollen, die auf der Karte stand. Deshalb hatte Milo sie ihm gegeben. Tatsächlich war Milo sogar nur zehn Minuten zu spät gekommen, weil er Basti nicht beunruhigen wollte, war er sogar ein Stück gerannt und hatte sich auf dem vereisten Gehweg übel hingelegt.

Als er Basti nicht sah, war er davon ausgegangen, dass dieser im Busch mit einem Freier war oder einfach die Zeit verschwitzt hatte. Das war ok, das kam vor, vor allem bei Basti.

Eineinhalb Stunden hatte Milo auf ihn gewartet. Vergebens. Und die Zeit dort allein im schneeverwehten Park war nicht nur verdammt kalt und langweilig gewesen, auch hatte er dadurch genug Gelegenheit gehabt, sich richtig mies zu fühlen. Mit jedem Schluck aus der teuren Wodkaflasche, hatte er sich schuldig gefühlt. Nikolai war nett gewesen, doch Milo hatte ihn dreist ausgeraubt. Für Basti. Der ihn sitzen ließ.

Hatte er wirklich so viel mitgehen lassen müssen? Hätte das ehrlich verdiente Geld nicht gereicht?

Doch die Wahrheit war, dass das Geld nicht lange reichen würde. Nein, er kannte es aus Erfahrung, je mehr sie besaßen, je mehr warfen sie es raus. Für Alkohol, für Drogen, ein oder zwei Nächte in einem warmen Zimmer und eine Dusche. Milo hatte langfristiger gedacht, er könnte die Kamera bestimmt verkaufen, sie sah teuer aus. Außerdem hatte er so seine Fotos gerettet. Die Alkoholflaschen würden zumindest für ein oder zwei Tage dafür sorgen, dass sie dafür kein Geld ausgeben müssten. Es blieb also mehr für Drogen. Wenn die wieder ausgingen, hätte er noch die Schmerzmittel im Vorrat. Oder wenn mal wieder einer der Freier zu grob vorging, was nicht seltenvorkam, es bluteten ständig mal ein paar Ärsche auf dem Strich, denn normalerweise hatte bezahlter Sex nichts mit dem zu tun, was Milo mit dem Fotografen gehabt hatte.

Zumindest nicht auf dem Strich.

Er war noch in Gedanken, als die Tür plötzlich aufgerissen und zwei blutunterlaufene Augen ihn durch eine dichte Rauchwolke anblinzelten. »Alter, Milo, was machst du für einen Terz?«, lallte Sunny verschlafen. Er kratze sich an einem löchrigen, dunklen Bartschatten. »Mach mal halblang!«

»Ich klopfe und schreie mir seit zehn Minuten die Seele aus dem Leib!« Milo schob den halbnackten Körper beiseite, trockene Hitze und Zigarettenrauchschwaden empfingen ihn in der winzigen, versifften Wohnung dahinter. »Basti!«, rief er wütend und folgte der Musik durch den Flur in das karg eingerichtete Wohnzimmer, wo statt eines Sofas nur verschlissene Polster auf Paletten lagen, Tische aus Kartons und ein uralter Fernseher und Boxen standen.

Sunny – eigentlich Aleksander, alias Sander – war ein alter Kumpel von ihnen. Deutlich älter als sie, arbeitslos, vom Staat abhängig, und wenn er sich mal wieder mit seiner Alten verkracht hatte, durften sie bei ihm schlafen. Selbstverständlich wenn sie ihm was von ihrem Zeug abgaben. Basti hatte mit Milo hier übernachten wollen, er hatte ja die hundert Tacken am Tag zuvor genommen, um wenigstens Koks zu besorgen.

Als Milo um die Ecke bog, sah er ihre Clique. Alle waren da. Sam, der große Schrank, Jacky, die Goth-Braut, Moe, der Emo, ein paar andere, die Milo schon öfter gesehen hatte, aber mit denen er nicht enger bekannt war, ein paar gänzlich Unbekannte und natürlich Basti mit seinem Irokesen und dem Nasenring aus Nickel. Es war so warm bei ihnen, dass sie alle in Tops und T-Shirts dasaßen, der Heizstrahler brummte lautstark. Basti trug sein zu weites, schwarzes Tanktop, dazu seine graue Jeans, den Nietengürtel, seine dicke Bomberjacke lag hinter ihm und er hatte den langen, tätowierten Arm um ein Mädchen gelegt, das ihn anlächelte. In seinem Mundwinkel hing eine Kippe, ihre Hand lag auf seinem Bein. Keine Spur mehr von dem zitternden Nervenbündel, der Frust und das Elend waren aus Bastis Gesicht verschwunden, stattdessen lag ein Glitzern in seinen braunen Augen, das Milo nur zu gut kannte.

Seine Wut war einer Starre gewichen, mitten im Raum blieb er stehen, Sunny drängte sich an ihm und seinem vollgestopften Rucksack vorbei. Milo starrte stumm hinüber zu Basti, der mit einem schiefen Schmunzeln etwas zu der blonden Kleinen sagte, die daraufhin keck lachte und ihn verspielt den Ellenbogen in die Rippen stieß. Basti zog die Kippe aus dem Mundwinkel, beugte sich herab und schob ihr die Zunge tief in den Hals.

Beißende Eifersucht kroch Milos Kehle hinauf, aber noch mehr als das. Er fühlte sich verraten und im Stich gelassen.

Jacky bemerkte ihn zuerst, nachdem Sunny zurückgekommen und sich in einen knarrenden Drehstuhl gesetzt und ein Bier aufgemacht hatte. Sie presste missbilligend die Lippen zusammen und trat Basti gegen das Bein, bis er sich genervt von der blonden Bitch losriss und sich zu ihr umdrehte.

Auffällig deutete Jacky mit ihren stark dunkel geschminkten Augen hinüber zu Milo.

Als Basti ihn entdeckte, grinste er breit und sprang überschwänglich auf. »Milo! Mann, das ging ja schnell!« Er kam auf ihn zu, stieg über Beine und Füße von einem Dutzend Menschen, die sich zu ihnen umdrehten, packte Milo dann an den dünnen Armen und wollte sich hinabbeugen.

Milo zog den Kopf zurück und fragte bissig: »Wo warst du?«

Basti blinzelte, als verstünde er die Welt nicht mehr. Und niemand konnte so scheinheilig und unschuldig dreinblicken wie dieser Mistkerl. »Was meinst du?«

»Wie, was mein ich?« Milo blickte ihn entsetzt an. »Wir haben doch abgemacht, dass du im Park auf mich wartest! Du hast es versprochen! Du wolltest gucken kommen, wenn ich nicht auftauche!« Seine Stimme überschlug sich mit jedem Wort mehr vor Entsetzen.

Verständnislos schüttelte Basti den Kopf, schien ihm kaum folgen zu können, seine glasigen Augen verrieten auch, wieso. Er grinste. »Ich wäre doch noch gekommen!«

»Wann?« Milo stieß ihm gegen die Brust. »Ich habe fast zwei Stunden in der verfickten Kälte auf dich gewartet, du Arsch! Ich hab mir den Arsch abgefroren, während du hier an sonst wem rumleckst!«

Basti blickte hinter sich, die anderen sahen neugierig zu ihnen rüber, vor allem diese blonde Göre. Dann packte er Milos Arm und drängte ihn aus dem Raum in den Flur. »Mann, mach doch nicht so ´ne peinliche Szene!«

Im Flur riss Milo sich los und blickte ihm wütend ins Gesicht. »Du hast es versprochen!«

So etwas wie Reue trat auf sein hübsches Gesicht. »Fuck, Milo. Ich… ich hab wohl die Zeit vergessen! Okay? Es war keine Absicht! Es tut mir leid, ich mach es wieder gut, ja? Okay?« Mit einem gewitzten Lächeln, dem Milo noch nie hatte widerstehen können, drängte er ihn gegen die Wand und legte die Hand an sein Gesicht. »Ich hab dich vermisst, hab mir echt Sorgen gemacht!«

Milo schnaubte. »Ja, sieht man!« Doch so sehr die Eifersucht auch schmerzte, Bastis Nähe und sein vertrautes Funkeln in den braunen Augen nahmen ihn wieder ein. So dumm es auch war.

Basti stöhnte gespielt genervt. »Du bist doch nicht wieder eifersüchtig, oder?« Er zog eine Augenbraue hoch und stieß ihn mit der Nase an. »Das bedeutet doch nichts, nur bisschen Spaß. Verstehst du doch, oder? Hab ich dir doch schon oft erklärt!«

Es gefiel ihm trotzdem nicht, aber er konnte Basti eben nicht ändern. Das konnte niemand. Er verzog unglücklich den Mund und seufzte. »Ja, ich weiß.«

»Jetzt schmoll nicht, war nur Sex, okay?« Bastis Daumen zog zärtliche Kreise auf Milos Wange, er überragte ihn, beugte sich aber hinab. »Okay?«, flüsterte er noch einmal und küsste ihn beinahe um Verzeihung bittend.

Milo seufzte, saugte die zärtliche Berührung in sich auf, wollte sich nur an ihm schmeißen und an ihn gekuschelt einschlafen. »Ja, okay«, gab er gehaucht zurück. »Bin einfach müde.«

Nachsichtig lächelte Basti, das Glitzern in seinen Augen blieb jedoch, aufgeweckt und irgendwie irre, sodass Milo genau wusste, was er von dem Geld geholt hatte. Crack. Danach war er grundsätzlich immer dauergeil und es wunderte Milo, dass er ihn nicht in einer Orgie vorgefunden hatte.

Noch einmal küsste Basti ihn, drückte ihm hart und einnehmend den Mund auf die Lippen, besaß ihn, raubte Milos Wut die Kraft, besänftigte und versprach mehr heiße Action.

Dabei hatte Milo nur noch Lust, zu schlafen. Doch das würde Basti nicht zulassen, das kannte er schon. Nur n´ bisschen Liebe, Milo, würde er betteln, geht ganz schnell, ich bin auch vorsichtig.

Mit einem Schmatzen löste er sich wieder, legte die Stirn an Milos und seufzte. »Alles in Ordnung, ja? War der Typ zu grob?«

Durch die Erinnerung an Nikolai fühlte Milo sich wieder richtig mies. »Nein, er… er war schon ok.« Untertrieben, doch aus irgendeinem Grund konnte er Basti nicht die Einzelheiten erklären, fühlte sich plötzlich auf mehr als eine Art schuldig. »Hat mir ganz schön viel gegeben für die Nacht.«

Bastis Augen leuchteten sofort auf, Gier stand in seinem Gesicht, das er nun anhob, um ihn besser ansehen zu können. »Echt? Wie viel?«

Milo stockte kurz, als er Bastis irren Blick bemerkte, das hoffnungsvolle Funkeln darin, das Unersättliche, das nichts mit Sex oder Leidenschaft oder Liebe zu tun hatte, außer vielleicht mit der Liebe zum Rausch. »Ähm… sieben… sieben Hundert, genau wie abgemacht!«

Er wollte Basti nicht anlügen, er hielt es nur für klüger, ein wenig Geld zurückzuhalten, für den Notfall. Falls es wieder so knapp würde wie in den letzten Tagen, wenn Basti wegen einem blutendem Arsch nur noch blasen konnte.

Basti grinste breit. »Echt? Sau krass! Oh Mann ey, Milo!« Er packte ihn enthusiastisch an den Armen und lachte ihm ins Gesicht. »Wir werden die nächsten Tage leben wie die Könige, ha! Mein Kleiner Goldesel, ich sag´s ja!«

Seine Freude war ansteckend, sodass Milo selbst lachen musste. Und er fühlte sich stolz, ganz genau wie erhofft, denn er hatte Basti glücklich gemacht und zumindest für ein paar Tage waren ihre Sorgen erst einmal auf Eis gelegt.

*~*~*

Der Verlust der Bilder wog schwerer als der Verlust der Kamera, auf der sie sich befanden. Vermutlich auch deshalb, weil die Kamera seine Private und nicht die Arbeitskamera war, außerdem war all sein Zeug versichert. Eine Kamera war schnell neu gekauft, aber die Bilder… die waren verloren.

Verdammt, er fühlte sich so leer und schwermütig wie am Tag zuvor, bevor er sein perfektes Motiv getroffen hatte. Als ob ihn die Liebe seines Lebens verlassen hätte, nach nur einer aufregenden Nacht. Und so schmerzhaft war es auch, nur dass es sich bei der Liebe seines Lebens nicht um eine Person handelte, sondern um Bilder.

Bilder, die mehr sprachen als so manches Gesicht, das ihm begegnete.

Dieses eine Bild mit Milo auf dem Sofa, der Schneefall hinter der großen Fensterfront, die nächtliche Stadt, der Umriss des schmächtigen Strichers in der Luxuswohnung, das Glitzern in den blassgrünen Augen, zwischen Gier, Verführung und Geheimnissen. Jugend, Elend, Kontrast. Es hatte alles gehabt.

Alles, was er in seinem Leben nicht hatte. Tiefe. Kerben.

Gedankenverloren stand Nikolai in seinem Wohnzimmer vor dem Fenster und starrte durch den dichten und heißen Nebeldampf seiner Teetasse hinaus in die winterkalte, graue und feuchte Stadt. Der Schneesturm hatte sich gelichtet und die Abgase verwandelten die weißen Massen in schwarzen Matsch und Wasserfälle. Darunter wartete Beton und Glas, ohne Raffinesse, ohne Charme, ein Gebäudekomplex nach dem anderen, selbst die Villen in seinem Viertel wirkten anspruchslos, oberflächlich. Leer.

Er fragte sich, ob seine Bilder schon gelöscht waren. Der Gedanke tat mehr weh, als er sollte. Aber er freundete sich damit an, dass sie bereits nicht mehr existierten, so wie Milo es offensichtlich verabscheut hatte, zu posieren. Bis auf die letzten Augenblicke, als er Nikolai durch die Linse verführt hatte.

Nicht, dass viel dazu nötig gewesen wäre.

Und unter all dem Selbstmitleid sorgte er sich auch, so verrückt es war.

Nein, nicht um die Bilder, die er bereits gedanklich verabschiedet hatte, sondern um den kleinen Stricher, der noch in der Dunkelheit mit dem Diebesgut geflüchtet war. So viel Alkohol, so viele Pillen… Nikolai würde sterben. Dann die Kälte draußen in den Straßen. Beinahe erwartete er, in den Nachrichten, die auf dem riesigen Flachbildschirm in seinem Rücken liefen, Milos Bild zu sehen, eingefroren auf einer Parkbank, weil er sich ins Koma gesoffen und mit Schmerzmitteln betäubt hatte. Weil er die Kälte unterschätzt hatte.

Weil Nikolai ihm Geld gegeben hatte, um es ihm zu ermöglichen.

Wie hart muss es sein, zu dieser Jahreszeit auf der Straße zu leben? Nikolai hatte sich darüber nie viele Gedanken gemacht, er lebte ja nicht draußen, und wenn ihm kalt wurde, drehte er die Heizung auf. Etwas, das Milo nicht tun konnte.

Wo er wohl war? Was er gerade machte?

Es war für Nikolai kaum vorstellbar, wie es war, mittellos zu sein. Und wie es hatte dazu kommen können, dass so junge Menschen auf der Straße landeten.

Warum? Wieso? Was war passiert und warum fanden sie sich damit ab?

In all diese tiefen Grübeleien vertieft, nippte Nikolai an seiner Tasse. Der Tee war eine Mischung aus dem exklusiven Teelädchen um die Ecke und schmeckte nach Bratapfel. Sein Ex hatte ihm davon immer eine Dose mitgebracht, als sie noch zusammen und in der Stadt gewesen waren, weil Nikolai immer mürrisch gesagt hatte, dass dieser Teeladen das einzige Gute wäre, was die Stadt beinhaltete.

Verdammt, er vermisste das Land, wollte über Weihnachten wieder rausfahren.

Um ihn herum wuselten die Helfer und seine »Inneneinrichterin«, die sein Loft für die bevorstehende Weihnachtszeit schmückten. Die Vorhänge wurden durch glänzende Stoffe mit silbernen Sternen eingetauscht, ein künstlicher Weihnachtsbaum aufgestellt, weil er sich dahingehend äußerst direkt durchgesetzt hatte. Keine abgesägten, lebenden Bäume in seiner Wohnung, nur weil es »Tradition« war. Ein Bild von einem Weihnachtsbaum hätte es für ihn auch getan, eine Leinwand, aber bei allem weiteren hatte er sich nicht mehr eingemischt, weil es ihm schlicht völlig egal war. Sein Baum bestand aus hundert Prozent recycelten Materialien, das beruhigte sein Gewissen. Die Dekoration war nur für die Menschen, die unterhalb seiner Fenster vorbeiliefen, oder für Besucher. Nicht für ihn. Er brauchte den Kram nicht.

Alles nur zum Schein, alles nur weil es erwartet wurde.

»Was ist denn hier los?«, erklang eine Stimme von der Tür her, die ihm nur allzu bekannt vorkam.

Mit hochgezogenen Augenbrauen drehte er sich zu Sergej um. Die Verwandtschaft war ihnen auch nach all den Jahren nicht anzusehen, sein großer Bruder hatte dunkelbraunes Haar und eine Augenfarbe wie Akazienhonig, er war relativ maskulin gebaut, wenn auch nicht so aufgepumpt wie diese Fitnesstypen, die sich am liebsten selbst den Schwanz in den Arsch schieben würden, weil sie sich so affengeil fanden. Nein, alles an seinem Bruder war elegant, die kurze Frisur, der gewollte Bartschatten, der Mantel, die Hose, die Schuhe, seine Statur und sein Gang, ebenso die Art, wie er die Handschuhe von den Fingern zog und charmant lächelnd hereinkam. Jemand, der sofort positiv ins Auge fiel, dem man sein Wohlhaben ansehen konnte, der attraktiv war, den man unbedingt ansehen musste.

Nikolai drehte sich gänzlich um und ging ihm entgegen, dabei wichen ihm fleißige Dekorierer aus, die Krimskrams umhertrugen, während ihnen eine herrische Frauenstimme durch die Knopfkopfhörer Befehle erteilte. Er winkte den Männern lapidar nach und antwortete: »Der übliche, alljährliche Weihnachtswahnsinn.«

Sein Bruder bedachte ihn mit seinem üblich neckischen, mitleidigen Blick. »Du bist der einzige Schwule, der sich nicht auf den ganzen Kitsch freut!«

»Sagte der Hetero, der hinter seinem Assistenten steht und schreit: Mehr pinke Girlanden!«, konterte Nikolai und äffte seinen Bruder mit übertrieben erhobenem Arm nach.

Dieser schnaubte. »Das war zu Valentinstag und ich wollte eine Frau beeindrucken!«

»Ich erinnere mich, für drei Monate fiel sie auf dich rein, oder?« Er ging an ihm vorbei und überließ es seinem Bruder, in die Küche zu folgen. »Tee?«

»Kaffee«, antwortete dieser.

»Natürlich.« Hätte er nach Kaffee gefragt, hätte Serg Tee erwartet, einfach aus Prinzip.

Nikolai trat in die Küche und stellte seine Tasse auf der Theke ab, während er sie umrundete und eine weitere Tasse aus dem Schrank nahm. Die Maschine lief schon, denn Tanja – seine Assistentin – betete Kaffee an wie eine Gottheit. Und sie durfte sich bei ihm oben in der Küche stets so viel von ihrer Droge holen, wie sie wollte.

Es war ja nicht so, als ob er aufs Kleingeld achten müsste.

»Ich wette, du hast einen Weihnachtsbaum so groß wie der Eifelturm in deinem Salon«, vermutete er gelangweilt. »Selbstverständlich von dir persönlich in Auftrag gegeben. Ich bitte dich, wir wissen alle, wie sehr du dich jedes Jahr darauf freust, uns mit deinen Dekorationen zu überwältigen. Ich lass hier auch nur schmücken, damit du mir nicht wieder deinen dreistündigen Vortrag hältst.«

»Letztes Jahr war etwas übertrieben«, gestand sein Bruder mit einem Glucksen ein und öffnete seinen Mantel. »Dieses Jahr gibt es aber kein Baum im Haus, Inés wollte das nicht, wegen Umwelt oder so. Wir haben einen im Garten schmücken lassen. Zugegeben, er ist größer als das Haus, und ja, das macht es fast noch besser, als ihn drinnen aufzustellen, die Decke ist immer so ein lästiges Hindernis.«

Die Kaffeemaschine brummte. »Wer ist Inés?«, fragte Nikolai desinteressiert, denn er hörte dem Gerede seines Bruders nur mit einem Ohr zu, war mit den Gedanken ganz weit weg und hielt ihn nur am Reden, weil er ahnte, welchen Umständen er diesen Besuch zu verdanken hatte.

War es wieder so weit?

Er konnte förmlich Sergejs entsetzten Blick spüren, er riss ihn aus seinen Grübeleien und ließ ihn sich zu diesem umdrehen.

»Ist das dein Ernst, Lai?« Sein Bruder hatte sich gerade auf einen Hocker setzen wollen, war aber mitten in der Bewegung erstarrt. »Ich rede seit Wochen von dieser Frau!«

Stirnrunzelnd schob Nikolai ihm die Tasse zu und versuchte, sich zu erinnern.

Sein Bruder sah ihn fassungslos an, dann schnaubte er pikiert und setzte sich endlich. »Unfassbar!«, kommentierte er und schüttelte den Kopf. »Du bist einfach nur unfassbar! Hörst du auch nur ein Wort von dem, was man dir erzählt?«

»Sicher.« Meistens. »Ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren, wie du dir denken kannst.«

Er versuchte, sich dezent aus der Affäre zu ziehen, doch vor ihm saß sein Bruder, der ihn besser kannte als jeder andere.

Ein skeptischer Blick traf ihn. »Du hörst doch nie zu, Lai! Das ist dein Problem, du bist so sehr mit dem Kopf in deinen anderen, düsteren Welten, dass du vergisst, dass um dich herum echte, lebende Menschen wandeln, die mehr brauchen als einen gelangweilten Blick.«

Genau diesen schenkte er Serg nun mit aller Deutlichkeit. »Vielleicht bin ja nicht ich das Problem, sondern die Menschen, die immerzu erwarten, dass alle Aufmerksamkeit auf ihnen liegt.«

Sich in Gedanken zu flüchten war seine einzige Möglichkeit, nicht ständig mit den Augen zu rollen oder genervt zu seufzen. Oder zu sagen, was er wirklich dachte.

Gott, er hasste Menschen. Nein, er hasste sie wirklich, nicht nur so wie diejenigen, die nur behaupteten, sie würden Menschen hassen und insgeheim doch nach jedweder Aufmerksamkeit und Anwesenheit anderer lechzen. Nikolai hätte sein ganzes Leben allein auf einer Berghütte verbringen können und wäre glücklicher als jetzt gewesen. Aber obwohl sein Vater ihm das Jagen beigebracht hatte, war er am Ende doch zu weich, um Wild auszunehmen und würde nach ein paar Wochen elendig verhungern.

Sein Bruder wirkte ob der offenen Worte irritiert, für gewöhnlich kommentierte Nikolai Angriffe auf sein Wesen nicht, er nahm sie hin, so wie alles.

In letzter Zeit war er diesbezüglich jedoch etwas gereizt. Vielleicht war er allein ja gar nicht das Problem, so wie es ihm alle weißmachen wollten. Nur weil er nicht so offen und bedürftig war wie der Rest der verfickten Welt, war mit ihm noch lange nichts falsch!

Vielleicht kannte er einfach nur die falschen Leute.

Gedanken, die ihn schon seit Monaten im Kopf herumgingen und ihn letztlich aus dem Studio zum Bahnhof getrieben hatten, auf der Suche nach etwas, das anders war.

Sergej ging in die Defensive und schüttelte leicht den Kopf, doch die beleidigten Züge glätteten sich etwas. »Du ziehst dich immer mehr in dich selbst zurück.«

»Sag nicht, du sorgst dich.« Nikolai griff nach seinem Tee und trank, dabei verschwamm das Antlitz seines Bruders durch den heißen Dampf aus der Tasse. Die Hitze öffnete die Poren auf seiner Nase.

Sergej schob seine Kaffeetasse zwischen seinen Händen hin und her und schien – wie immer wenn er mit Nikolai sprach – herumzudrucksen. »Du machst mir langsam echt Sorgen, Lai…«

Nikolai starrte an ihm vorbei an die Wand, doch er sah seine Wohnung wie am Abend zuvor. Gedimmtes Licht, gefüllt mit prickelnder Erwartung.

»Hattest du je das Gefühl, dass du etwas … Bedeutsames machst, Serg?«

Verwirrt hob sein Bruder den Blick und legte den Kopf schief. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Ich meine, wir haben so viel, seit Geburt an«, sinnierte er mit einem bedrückenden Gefühl in der Brust, das er nicht in Worte kleiden konnte. »Wir haben mehr als wir brauchen im Überfluss, aber es gibt so viele, die so wenig haben…«

Sergej sah ihn an, als könnte er nicht ganz folgen. »Ist das jetzt so eine… vorweihnachtliche Selbstlosigkeits-Sache?«

Nikolai starrte gelangweilt auf ihn herab. »Ich meine es ernst. Hattest du je bei deiner Arbeit das Gefühl, du würdest etwas Besonderes tun? Etwas… das jemand anderem hilft?«

Mit hochgezogener Augenbraue legte sein Bruder den Kopf schief. Sein Blick sagte: »Willst du mich jetzt verarschen?«

Er hatte Recht, es war dumm gewesen, das ausgerechnet Serg zu fragen. Gewiss half er mit seiner Arbeit mehr Leuten als Nikolai. Ganz bestimmt sogar. Und doch kam es nicht oft genug vor, denn meistens scheffelte er mit seiner Arbeit nur noch mehr Reichtum.

»Du weißt, dass ich viel für dritte Weltländer spende!« Sein Bruder schien den gleichen Gedanken zu hegen und begann, sich noch deutlicher zu rechtfertigen.

»Ich spreche nicht von Spenden ins Ausland!«, zischte Nikolai gereizt und ging um den Tresen herum. »Ich meine, hast du nie über den Hunger in unseren eigenen Straßen nachgedacht?« Er deutete nach draußen, während Sergej sich auf seinem Hocker zu ihm umdrehte und ihn noch verwunderter ansah.

»Hat dich ein alkoholsüchtiger Penner dumm angemacht oder woher kommt das jetzt?«

Nikolai ließ die Arme fallen. »Nein. Aber…«

Ach Mist, er wusste ja selbst nicht, was für einen Scheiß er da redete. Frustriert atmete er aus und blickte nach draußen.

»Spende doch an die Tafel, wenn das dein Gewissen beruhigt.« Sergej schien zu spüren, dass etwas im Gange war, er wollte einfühlsamer wirken. »Du weißt, ich fliege einmal im Jahr in bedürftige Länder, um vor Ort zu helfen, du könntest ja selbst etwas auf die Beine stellen. Oder dich schlau machen, ob es Organisationen gibt…«

Er sprach und sprach, doch Nikolais Gedanken schweiften bereits wieder ab. Nachdenklich blickte er nach draußen in die Kälte.

»Es ist, als ob wir sie nicht sehen«, flüsterte er, »als wären es Geister oder … wie Flecken und verblasstes Graffiti in der Unterführung, an denen wir tagtäglich vorbei gehen. Wir sehen sie, aber wir sehen sie nie wirklich. Wer sie sind, was sie waren, dass sie leiden und Sorgen haben.«

Sergej legte den Kopf schief und verzog das Gesicht. »Manchmal bist du echt seltsam. Lai.«

Nikolai sah seinem Bruder wieder in die Augen, die ratlos zu ihm blickten. »Hast du dich denn nie gefragt, wer all diese Menschen sind, die vor unseren Türen auf der Straße leben? Wieso sie dort sind? Warum hunderte von Jungen auf den Strich gehen? Hast du nie-«

Ein herablassendes Schnauben seines Bruders unterbrach ihn. »Lai… Oh bei Gott, ist das dein Ernst?« Er lachte humorlos und rieb sich das Gesicht.

Verwundert starrte Nikolai seinen Bruder an.

»Drogen«, betonte dieser eindringlich. »Alkohol. Das ist der Grund, warum diese Menschen auf der Straße sind! Sie sind süchtig und sie würden ihre Organe für den nächsten Schuss verkaufen!« Wieder schnaubte er. »Stricher! Arbeitslose Faulpelze, Lai, die sich dem System entziehen, weil sie kein Bock haben, auch nur einen Finger krumm zu machen, so ist es nämlich. Sie lutschen alten Säcken lieber im Park den Harten, als ehrlich zu arbeiten, um sich zu besaufen und zuzudröhnen!«

Alten Säcken im Park… oder in der Luxuswohnung, dachte er zynisch bei sich.

Hatte Sergej Recht?

»Sie würden alles für den nächsten Schuss tun, nur nicht richtig arbeiten.«

Nikolai runzelte düster die Stirn. »Oder vielleicht brauchen sie den nächsten Schuss, weil sie vor etwas weglaufen.«

Skeptisch betrachtete Sergej ihn. »Ach komm, hör doch auf! Mach das nicht wieder-«

Nun war es an Nikolai, verwirrt zu sein. »Was meinst du?«

Sergej ließ seufzend die Schultern hängen und betrachtete ihn mitleidvoll. »Das ist doch immer so, Lai! Alle paar Jahre kommt dir eine fixe Idee, der du plötzlich nachjagst, in die du dich voll verrennst, bis es dich nicht mehr berührt. Als du klein warst, waren es Cowboys, du wolltest unbedingt nach Amerika auf irgendeiner Farm arbeiten! Dann war es das rebellische Schwulsein, als du provokant im pinken Netzshirt an Weihnachten die Verwandten begrüßt hast und besonders betont auf schwul gemacht hast! Damit auch wirklich jeder weiß, dass du auf Männer stehst! Dann das Land, das du dir gekauft hast, um den armen Milchbauern zu retten! Die Kampagnen für den Umweltschutz!« Er stand auf und sah ihn besonders intensiv an, und da Nikolai ahnte, mit welchem Punkt er fortfahren würde, wandte er den Blick grimmig ab. »Und deine letzte Besessenheit hieß Max, richtig?«

Nikolai schielte ihn mit schneidenden Blick ab. »Spar dir diese Schadenfreude…«

»Wir haben alle gesagt, das geht nicht gut.«

»Es ging zehn Jahre lang gut!«, warf er ein und spürte wieder den alten Trotz, den er gegenüber seiner Familie immer verspürte. Und der Grund für viele trotzige und dumme Entscheidungen gewesen war.

Sergej seufzte, es klang einlenkend und versöhnlich. »Ich meine ja nur, dass ich dich eben gut genug kenne. Du bist mein Bruder! Aber wenn du es unbedingt brauchst, dann bitte, dann geh und … mach irgendetwas Wohltätiges! Doch mach´s in dem Wissen, dass du mit jedem gespendeten Scheinchen vermutlich einen goldenen Schuss spendierst.« Sergej legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte zu. »Du rennst doch nur wieder von der einen kopflosen Sache in die nächste, auf der Suche nach etwas Bedeutsamen, das dich wieder nur für ein paar Momente deines Lebens erfüllt, statt mit dem zufrieden zu sein, was du schon hast!«

Leere machte sich wieder in ihm breit und er blickte erneut nach draußen. In gewisser Weise hatte Sergej recht. Ging es ihm wirklich um die Stricher – oder ging es nur um ihn? Wollte er sich nur ablenken von der Tristes des Alltags? Sich selbst wie jemand fühlen, der etwas bewirkte?

Er dachte an Milo und ihm wurde wieder seltsam eng in der Brust. Er fühlte sich ausgenommen und verraten und gleichzeitig… hatte er das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben.

Wieso? Er schuldete diesem Fremden doch nichts. Außer, dass ihm der kleine Stricher die besten Blowjobs seines Lebens verpasst hatte – und er doch tatsächlich die unbestimmte Angst verspürte, nie wieder etwas so Erfüllendes zu erleben. Als ob ab jetzt nichts mehr so tiefreichend befriedigend sein könnte.

Als ob die schönste und höchste sexuelle Erfahrung bereits hinter ihm läge und ab jetzt ohnehin nur noch vergleichsweise Fade Erlebnisse auf ihn warteten.

»Hast du je das Gefühl gehabt«, sagte er wie in Trance genau das, was er schon die ganze Zeit hatte sagen wollen, »für jemanden etwas Bedeutendes zu tun?«

Sergejs Hand lag noch auf Nikolais Schulter. Als Nikolai das Gesicht zu ihm wandte, blickte sein Bruder ihn tiefgrübelnd an. Er konnte ihn einfach nicht richtig verstehen, aber immerhin war er immer bereit, es zu versuchen. Diese Eigenschaft hatte sie all die Jahre zusammengehalten.

»Nicht für die ganze Welt oder eine ganze Gruppe, sondern einfach… für eine einzelne Person?«, fragte Nikolai beinahe verzweifelt. »Hast du je für jemanden außer der Familie etwas Bedeutsames geleistet? Jemandes Leben verändert?«

Langsam nahm Sergej die Hand zurück und zwang sich zu einem nachsichtigen Lächeln. »Deine Midlifecrisis ist für uns alle langsam sehr anstrengend.«

Dumpfe Enttäuschung machte sich in Nikolai breit, er atmete aus und sah weg.

»Aber ja«, gestand sein Bruder dann entschuldigend. »Oft genug arbeite ich in meiner Freizeit kostenlos. Und ich finde schon, dass ich damit das Leben eines Einzelnen verändere.«

Überrascht forschte Nikolai in seinen Augen. »Ich wusste nicht, dass du sowas tust.«

Ein mitleidiges Schmunzeln. »Du hörst eben nie richtig zu, Lai.«

Vielleicht hatte er recht.

»Vielleicht ist es das, was du ändern solltest.« Sein Bruder zwinkerte ihm zu. »Danke für den Kaffee.«

»Du hast ihn nicht angerührt.« Nachdenklich schaute Nikolai seinem Bruder nach, als dieser sich abwandte und seine Handschuhe wieder überstreifte. Er floh, wie so oft, hatte mehr als genug verrückte Gedanken ertragen und brauchte eine Portion Realität.

»Ach…« An der Tür fiel ihm wieder ein, dass er aus einem bestimmten Grund gekommen war, er drehte sich noch einmal zu Nikolai um. »Er weiß es, Lai. Er weiß von der Trennung und er will dich sehen.«

Da war er wieder, der Trotz, der Nikolai auch jedweden Anruf diesbezüglich ignorieren gelassen hatte.

Doch Sergej hatte eine Weisheit für ihn, der er sich nicht entziehen konnte. »Du kannst ihm nicht ewig davonlaufen, irgendwann wird er selbst vorbeikommen, also bring es hinter dich!«

Familie, dachte Nikolai bei sich, waren auch nur Fesseln, die ewig währten.

Milo von der Straße

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