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5. Kapitel

Der Weg nach Dachau

Der Sommer des Jahres 1937 neigte sich dem Ende entgegen. Martin befand sich seit ein paar Wochen an der Unterführerschule der SS in Lauenburg und wurde dort zum Scharführer ausgebildet. Der Lehrgang war kein Zuckerschlecken. In unzähligen Unterrichtsstunden wurde das Wissen der Lehrgangsteilnehmer in allgemeiner Waffenkunde, der operativen Gefechtsführung und der richtigen nationalsozialistischen Weltanschauung vertieft. Schon bald entsprachen die Männer den Ansprüchen des Reichsführers SS, Heinrich Himmler. Diese jungen SS-Unterführer stellten keine Fragen, sondern führten Befehle aus. Genau diese Art von Treue und Kadavergehorsam wünschte sich die SS-Führung und sie sollte nicht enttäuscht werden. Als Martin im Herbst des gleichen Jahres seine Versetzungspapiere zur SS-Leibstandarte Adolf Hitler erhielt, war er zu einem ideologisch auf Linie gedrillten SS-Mann herangereift. Die Leibstandarte war kurz nach der Machtergreifung im Jahr 1933 aufgestellt worden und bestand zu diesem Zeitpunkt zum allergrößten Teil aus ehemaligen SA-Männern. In den beiden darauffolgenden Jahren wuchs die Truppe auf eine Stärke von 2600 Mann an. Die Leibstandarte, sowie deren Stab, wurde in der ehemaligen Kadettenanstalt des Heeres in Berlin-Lichterfelde einquartiert. Martin traf am frühen Abend in Berlin ein und machte sich auf den Weg in seine Unterkunft. Als man ihm zum Abschluss des Unterführer-Lehrgangs zum Scharführer befördert hatte, ließ man ihn wissen, dass er in die Leibstandarte versetzt werden würde. Der junge Feldwebel freute sich über diese vermeintliche Ehre und konnte sein Glück kaum fassen. „Sie werden es innerhalb der SS noch weit bringen!“, meinte einer seiner Ausbilder und gab ihm zum Abschied die Hand. Der Mann konnte nicht ahnen, wie richtig er mit dieser Einschätzung liegen sollte.

„Scharführer von Amsfeld meldet sich wie befohlen.“ Die Handflächen hatte er an die Hosennähte gepresst und die Habachtstellung eingenommen. „Heil Hitler Scharführer.“ Hinter dem Schreibtisch vor ihm saß ein Obersturmführer, der einen Becher Kaffee in der Hand hielt und offenbar gerade eine kleine Pause machen wollte. „Ihre Papiere“, schnauzte er Martin unwirsch an und streckte seine Hand aus. Martin griff in seine Rocktasche und reichte dem Mann seinen Marschbefehl herüber. „Ach sie sind das.“ Aus der oberen Schublade seines Schreibtisches zog der glatzköpfige Obersturmführer einen roten Aktendeckel heraus. „Sie werden schon erwartet.“ Er öffnete den Aktendeckel und zog ein Formular heraus. „Die oberste Führung sieht in ihnen offensichtlich den Retter des germanischen Abendlandes“, der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich verstehe nicht?“, erwiderte Martin mit fragendem Blick. „Auf Grund ihrer guten Lehrgangsergebnisse hat das SS-Personalamt sie zu uns in die Leibstandarte versetzt. Was hat man ihnen über ihre neue Aufgabe mitgeteilt?“ „Nichts, Herr Obersturmführer.“

Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte amüsiert. „Tja, mein Lieber. Sie haben ganz das große Los gezogen. Wir werden sie in Berlin hinter einen Schreibtisch wie den meinen setzen.“ Martin konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Er hatte fest damit gerechnet, irgendeinem militärischen Verband zugeteilt zu werden, doch jetzt sollte er in einem Büro sitzen und Akten wälzen? „Was genau wird meine Aufgabe sein?“, fragte er seinen gegenüber. „Sie werden sich mit deutscher Gründlichkeit daran machen unsere Poststelle auf Vordermann zu bringen.“ Na toll, dachte Martin. Jetzt spiele ich also den Postboten.

Das kleine Zimmer im Stabsgebäude der Leibstandarte hatte schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die Wände waren vor Jahrzehnten mit hellgrüner Lackfarbe gestrichen worden, die an vielen Stellen rissig war und den darunter liegen Putz frei gab. In die Mitte des Raums waren zwei alte Schreibtische aneinander gestellt worden, auf denen sich Dutzende Stapel unerledigter Post befand. An die Wände hatte man einige Aktenschränke gestellt, in denen sich dicht an dicht hunderte von Aktendeckel drängten. Neben einem Bild des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler hing eine farbige Fotografie Hitlers, ansonsten entdeckte Martin nur noch einen Kalender an den sonst schmucklosen Wänden. Auf einem der beiden klapprigen Stühle hockte ein SS-Rottenführer, der offenbar gerade damit beschäftigt war, irgendwelche Formulare zu sortieren. Der Mann war älter als Martin und schien Kettenraucher zu sein, denn auf seinem Schreibtisch stand sich ein bis an den Rand gefüllter Aschenbecher. Das schwarze Telefon auf einem der Tische klingelte schrill und der Rottenführer hob den Hörer ab. „Poststelle Leibstandarte, Rottenführer Göring“, murmelte der Mann in die Sprechmuschel. Göring? Martin glaubte, sich verhört zu haben. War dieser dicke pockennarbige Mann etwa mit dem Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Herman Göring verwandt? Ehe er die Möglichkeit erhielt, länger darüber nachzudenken, erhob sich der Mann und nahm Haltung an. Offensichtlich telefonierte er mit einem seiner Vorgesetzten. „Jawohl Hauptscharfüher“, sagte er knapp. Dann legte er auf und hob den Kopf. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass er nicht mehr allein war. „Heil Hitler Scharführer, was kann ich für sie tun?“ Martin trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Heil Hitler. Mein Name ist von Amsfeld. Ich bin der Poststelle zu geteilt worden.“ Sie schüttelten sich die Hände und Göring musterte ihn interessiert. „Ist man meinem Ruf nach Verstärkung endlich gefolgt.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Es scheint fast so“, sagte Martin. „Na, dann herzlich willkommen im Reich des arischen Aktengotts. Der Schreibtisch da drüben ist dann wohl der ihre“ feixte Göring, bevor er sich einem neuen Stapel Papieren zu wandte.

Die Arbeit entsprach nicht unbedingt dem, was Martin mit seiner Versetzung in die Leibstandarte erwartet hatte. Die Hoffnung, in einer Eliteeinheit dienen zu dürfen, zerschlug sich unter diesen Umständen schnell. Sein Tagesablauf entsprach mehr dem eines routinierten Verwaltungsbeamten, als dem eines SS-Mannes, dem es nach Heldentaten dürstete. Jeden Morgen brachten Adjutanten, Meldegänger und Sachbearbeiter unzählige schriftliche Vorgänge in die Poststelle. Dabei handelte es sich oft um Personalakten, Befehle, den Schriftverkehr zwischen einzelnen Dienststelle und Dienstanweisungen. Täglich wurde eine Vielzahl von Anordnungen herausgegeben, die abschließend bearbeitet und dann erneut weitergeleitet wurden. Das Volumen der Bürokratie wuchs beständig an und mit ihr der Aufwand an Personal, das versuchte ihrer Herr zu werden. Heinrich Göring stellte sich als ein ausgezeichneter Organisator heraus, dem die tägliche Flut von Akten und Dokumenten nicht das geringste auszumachen schien. Mit stoischer Gelassenheit sortierte er die hereinkommenden Unterlagen, registrierte sie, versah jedes einzelne der Dokumente mit einer Eingangsnummer und sorgte dann für ihre korrekte Weiterleitung.

Martin stellte nach ein paar Tagen fest, dass dieser Dienstposten in der Poststelle auch etwas Gutes hatte. Zum einen ließ man ihn und Göring meist in Ruhe. Niemand wollte dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sich die Zustellung von wichtigen Papieren verzögerte nur, weil man Martin und Göring von ihrer Arbeit abgehalten hatte. Ein weiterer Vorteil war, der ungehinderte Zugang zu Informationen aller Art. Über den Schreibtisch von Martin gingen unteranderem die schriftlichen Laufbahnbeurteilungen von SS-Angehörigen, Berichte aus den Konzentrationslagern sowie tägliche Lageberichte aus den unterstellten Bereichen der SS. Sehr schnell erkannte er die hohe Brisanz einiger dieser Papiere und schon bald verfügte er über ein fundiertes Hintergrundwissen. Sein direkter Vorgesetzter war ein ehemaliger Buchhalter, der den Dienstgrad eines Hautscharführers innehatte. Der Mann war ganz in Ordnung und ließ Martin die Poststelle weitestgehend nach eigenem Gutdünken führen. Nach einigen Wochen der intensiven Einarbeitung hatte Martin die Sache im Griff. Er und Göring kamen gut miteinander aus, nur die zwischenzeitliche Sauferei des Mannes störte ihn, aber so lange die Arbeit nicht darunter litt, deckte Martin die gelegentlichen Eskapaden seines Mitarbeiters. Bei den Offizieren im Stab der Leibstandarte genoss Martin schon bald den Ruf eines zuverlässigen Unterführers.

Seine Vorgesetzten wussten, dass über den Tisch der Poststelle so ziemlich jedes Stück Papier ging, dass von Bedeutung war. Manchmal versuchten Vorgesetzte über Martin herauszufinden, was deren Vorgesetzte über sie zu Papier brachten. Die meisten Offiziere achteten penibel darauf bei Himmler nicht unangenehm aufzufallen. Viele von ihnen nutzten dabei jede Möglichkeit, ihre Karriere auch auf dem Rücken ihrer Kameraden voranzutreiben. Martin erkannte schnell, dass er als „Herrscher der Poststelle“ über eine gewissen Machtposition verfügte und so begann er schon bald sich die wichtigsten Informationen einzuprägen. Irgendwann waren ihm die Stärken und vor allem die Schwächen seiner Vorgesetzten geläufig. Viele dieser Männer hielten es mit der ehelichen Treue nicht so genau, soffen oder hatten Spielschulden. Aus den Personalunterlagen eines jeden dieser Männer kannte Martin nach und nach zahlreiche Details, die ihm deutlich machten, dass bei der Leibstandarte auch nur mit Wasser gekocht wurde.

An einem der nächsten Tage war Martin mal wieder allein in seinen Arbeitsräumen. Sein Untergebener lag nach einer durchzechten Nacht noch in Sauer und würde erst gegen Mittag im Büro erscheinen. Wie immer nach solchen feuchtfröhlichen Nächten, würde Göring sich am Nachmittag hinter einem Berg von Akten verstecken und seinen Kater auskurieren. Martin genoss die Ruhe, die ihm so den ganzen Vormittag erhalten bleiben dürfte. Auf dem Hof vor einem seiner Fenster übte eine Gruppe von SS-Männern den Parademarsch. Er lächelte still in sich hinein, als er die Männer dort unten auf dem Appellplatz beobachtete. Vor ein paar Wochen noch hätte er gern dazugehört. Heute war er froh, die Arbeit in der Poststelle erhalten zu haben. Er schloss das Fenster und wandte sich wieder dem Stapel der neuen Posteingänge zu. Das allermeiste war der übliche Routinekram und Martin überflog lediglich die Überschriften. Doch eine rote Aktenmappe weckte sein Interesse. Diese Art von Unterlagen waren ihm bisher noch nicht oft auf den Tisch gekommen. Auf der Vorderseite des dicken Umschlags aus rotem Leinen war in goldener Farbe der Reichsadler eingeprägt. Die Mappe war hochwertiger verarbeitet und schien für ganz besondere Dokumente gemacht worden zu sein.

Zunächst glaubte Martin, es handelte sich dabei um Beförderungsurkunden oder Belobigungen, aber dann würde die Akte nicht aus dem Büro des Leiters des SD`s (Sicherheitsdienst der SS) Reinhard Heydrich kommen, sondern wie üblich aus dem Personalamt. Martin strich mit der Hand über den feinen Leinenstoff. Das Siegel, das den Inhalt der Akte vor neugierigen Blicken schützen sollte, war schlampig verklebt worden, so dass man sie ohne weiteres öffnen konnte. Martin sah sich um. Er überprüfte, ob sich jemand auf dem Gang vor dem Büro herumtrieb. Als er niemanden ausmachen konnte, ging er zurück zum Schreibtisch und öffnete die Akte.

Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS

SD Hauptamt – Amt II Abt. II / 212

Obersturmbannführer Kubbek

Wilhelmstraße 102

Berlin

An den

Reichsarzt SS und der Polizei

Dr. Ernst-Richard Grauwitzer

GEHEIME REICHSSACHE

Lieber Parteigenosse Grauwitzer,

Ich sende ihnen heute die gewünschten Informationen bezüglich der geplanten Transporte im Rahmen der „Aktion T4“. Die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft (GeKraT), hier vertreten durch ihren eingesetzten Geschäftsführers Herrn Hermann Schwennte, eingetragen im allgemeinen Handelsregister des Amtsgerichts Berlin-Charlottenburg, wird den planmäßigen Transport der dafür vorgesehenen Patienten in die Zwischenanstalten und dann weiter in die vorgesehenen Endanstalten durchführen. Außerdem wird die Firma den anschließenden erforderlichen Schriftwechsel mit den jeweiligen Angehörigen der Patienten und den beteiligten Anstalten erledigen. Die standesamtlich beurkundeten Totenscheine werden ebenfalls durch die GeKrat veranlasst.

Sie werden, wie im Vorfelde bereits besprochen, keinerlei Hinweise auf die tatsächlichen Todesursachen aufweisen. Es ist auch weiterhin unbedingt darauf zu achten, dass die reibungslose und erfolgreiche Durchführung der „Aktion T4“ sichergestellt wird. Die Kanzlei des Führers ist über den Sachverhalt umfänglich informiert und billigt ihn.

Mit kameradschaftlichen Grüßen

Heil Hitler

Kubbek, Obersturmbannführer

Martin starrte auf das Schreiben in seiner Hand. Er las es nochmals und dann nochmal, aber sein Verstand weigerte sich das soeben Gelesene zu begreifen. Worum zum Teufel ging es hier? Was war die „Aktion T4“ und welche Patienten waren hier gemeint? In diesem Moment ging die Tür auf und Göring betrat den Raum. „Kannst du nicht anklopfen!“, ranzte Martin den halbwegs ausgenüchterten Rottenführer an und schob unauffällig einen Stoß Papiere über die geöffnete Akte. Göring blickte ihn mit roten verquollenen Augen an. Dann kratzte er sich am Hinterkopf und ging wortlos auf das kleine Waschbecken in der hinteren Ecke der Poststelle zu. „Ich brauche eine Katzenwäsche.“ Murmelte er dabei und spritze sich etwas Wasser in das verkaterte Gesicht. Martin nutzte die Gunst der Minute und verschloss den roten Aktendeckel wieder.

Dann legte er ihn auf den großen Stapel der bereits erledigten Ausgangspost und widmete sich wieder seiner Arbeit.

An diesem Abend war Martin nicht nach Geselligkeit zu Mute. Seine Kameraden forderten ihn zwar auf, sie wie üblich in die Kantine zu begleiten, aber er hatte keine Lust dazu gehabt. Allein lag er auf seiner schmalen Pritsche und blickte gedankenverloren an die grau getünchte Decke des Zimmers. Immer und immer wieder tauchten vor seinem geistigen Auge die Zeilen des Briefes auf, den er verbotenerweise gelesen hatte. „Aktion T4“ hämmerte es in einem Kopf, was war das für ein geheimes Unternehmen? Offensichtlich ging es um den Transport von Patienten, die am Ende der Reise sterben würden. Aber warum sollten deren Totenscheine gefälscht werden? Was würde die wirkliche Todesursache sein? Martin zermarterte sich sein Gehirn. Er spielte verschiedene Gedankenmodelle durch, die aber alle immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führten. Mit dem Wissen des Führers und Reichskanzlers des Deutschen Reiches sollten hier offensichtlich kranke Menschen mit Hilfe von Ärzten heimlich umgebracht werden.

Martin setzte sich auf und er zog sich seine Decke über die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Das konnte doch nicht sein? Wer würde so etwas tun? Es ist unmöglich, dass der Führer so eine Sache gutheißt! Ja, sicher während ihrer Ausbildung auf dem Unterführerlehrgang war im Rassenunterricht auch über die weniger wertvollen Rassen, wie die Slawen oder Neger gesprochen worden. Man hatte ihnen beigebracht, dass ein Mensch der germanisch Rasse mehr wert war, als einer dieser Untermenschen. Es hatte ihm eingeleuchtet, dass diese Wesen keinerlei wirklichen Wert hatten und das der Arier dazu auserkoren ist sie in der Zukunft zu beherrschen. Aber damals hatte niemand davon gesprochen, kranke deutsche Menschen oder Gebrechliche einfach umzubringen. Martin überkam Übelkeit. Durch das offene Fenster hörte er, wie seine Kameraden in der Kantine feierten. Seine Umgebung erschien ihm plötzlich trostlos und abstoßend.

Plötzlich musst er an seinen Vater denken. Warum das so war, wusste er im ersten Moment selber nicht. Der alte Herr hatte aus seiner Abneigung den Nazis gegenüber nie ein Geheimnis gemacht und Martin erinnerte sich daran, wie häufig ihm das defätistische Gerede seines Vaters in blanke Wut versetzt hatte. Der freigeistige Freiherr und Gutsbesitzer verstand die neue Zeit in der wir Deutschen jetzt leben dürfen einfach nicht. Schon in der Schule hatte man Martin und seine Klassenkameraden gelehrt, dass in der Natur stets nur der Stärkere überlebt, während der Schwächere zu Grunde geht. Sein Vater hatte diese These in Bezug auf den Menschen als unmenschlich und unchristlich abgelehnt.

Martin schüttelte den Kopf. Wenn nun aber diese „Aktion T4“ tatsächlich vorsah kranke deutsche Menschen umzubringen, war es Mord oder eine notwendige Maßnahme, um die eigene Rasse vor schändlichen Erbschäden zu bewahren und zu beschützen? Das Krakeelen der Männer in der Kantine wurde lauter, es wurde wie jeden Abend gesoffen bis keiner von ihnen mehr stehen konnte. Martin schloss das Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor ein paar Monaten angebrüllt und einen Judenfreund genannt hatte, nur weil dieser mal wieder etwas gegen die Nazis gesagt hatte. Plötzlich stieg so etwas wie Scham in ihm hoch und er biss sich auf die Lippen. Er sah die traurigen Augen seines Vaters vor sich, die Fassungslosigkeit in dessen Blick und die Sprachlosigkeit, die seit dem zwischen ihnen herrschte. Sein Vater war nach diesem einen fatalen Wutausbruch Martins zunehmend einsilbiger geworden und hatte seit dem meist geschwiegen, sobald sie zusammen waren. Ich habe ihn gekränkt, beleidigt und belächelt, aber ich habe ihm niemals gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe stets von mir selbst geredet und nie wirklich zugehört. Eine Träne rollte nun über seine Wange. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und zum allerersten Mal in seinem Leben verachtete er sich selbst.

Es war dunkel geworden und die ersten betrunkenen Landser torkelten zurück in ihre Unterkünfte. Martin stand am Fenster seiner Stube und beobachtete wie sie sich in den Armen liegend gegenseitig stützten und über den Kasernenhof führten. Was sollte er nun tun? Konnte er überhaupt noch etwas tun? Sein Blick viel auf die schwarze Uniformjacke, die er wie immer an seinen Spind gehängt hatte. Du gehörst dazu, schoss es ihm durch den Kopf. Er war Teil des Ganzen und man würde ihn nicht so einfach wieder gehen lassen. Es war zu spät, dachte er und rollte sich wie ein Kind in seine Decke und weinte. Das Monster hatte ihn gefressen.

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