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Kapitel 6

Krieg

Der 1. September des Jahres 1939 sollte ein warmer Spätsommertag werden. Die Temperaturen sollten nach Aussage des Wetterberichts tagsüber auf über 30 Grad steigen und die allermeisten Menschen freuten sich darüber. Als gegen 04: 30 in der Früh die ersten deutschen Stukas ihre Bombenlast über dem kleinen polnischen Städtchen Wielun abwarfen, würde es noch etwa 10 Minuten dauern bis auch das deutsche Schulschiff „Schleswig-Holstein“ mit ihren Geschützen die polnische Westerplatte bei Danzig unter Feuer nehmen würde. Der Überfall auf das Nachbarland Polen stellte den Beginn des Zweiten Weltkrieges dar und viele Deutsche ahnten, dass ein neuer großer Krieg nicht viel besser für Deutschland enden konnte, als der vorangegangene. Paul Gerhard von Amsfeld war gerade dabei ein paar Fische auszunehmen, als einer seiner Landarbeiter in die Küche des Hauses stürzte. „Krieg! Herr von Amsfeld, wir haben Krieg.“ Der Mann war völlig außer Atem und stand nach Luft ringend vor seinem überrascht dreinblickenden Arbeitgeber. Der alte Gutsherr legte das Messer und einen halbgeöffneten Fisch auf den Tisch zurück. Dann wischte er sich die Hände in einem Handtuch ab und folgte dem Mann auf den Hof hinaus. Die Frauen und Männer, die sich wie jeden Morgen auf die Feldarbeit vorbereiteten, versammelten sich an dem kleinen Brunnen. Es herrschte eine fast greifbare Stille und die Angst der Menschen war unübersehbar.

Der Blick Paul Gerhards viel auf die kleine Kapelle. Seit über einem Jahr hatte er in der Gruft unterhalb der Kirche immer wieder Menschen versteckt, die vor den Nazis auf der Flucht waren oder die wegen ihres jüdischen Glaubens mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen mussten. Die deutschen Juden waren seit der Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Jahre 1935 immer konsequenter, schärferen Repressalien ausgesetzt gewesen. Nahezu rechtlos fristeten diejenigen von ihnen, denen die Flucht ins Ausland nicht mehr gelungen war, ein erbärmliches menschenunwürdiges Dasein. Paul Gerhard von Amsfeld verstand es als seine selbstverständliche und christliche Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Erst vor zwei Tagen hatte er fünf Männern zur Flucht in das benachbarte Polen geholfen, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu bewahren. „Schnell, der Führer spricht im Radio.“ Helene winkte den beisammenstehenden Männern und Frauen zu. Sie hatte das Radio auf die Fensterbank gestellt und drehte den Lautstärkeregler auf Maximum. „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5: 45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!” Die schrille Stimme Hitlers hallte über den Hof und ein paar der Frauen begannen lautlos zu weinen. Paul Gerhard dachte an seinen Sohn, der als Angehöriger der SS jetzt ganz sicher irgendwo auf seinen Einsatzbefehl wartete, um in den Krieg zu ziehen. Der Freiherr hatte als Rittmeister im Ersten Weltkrieg gedient und war aus diesem fürchterlichen Gemetzel als ein bekennender Kriegsgegner hervorgegangen. Er hatte gehofft, nicht noch einmal miterleben zu müssen, wie sich die Völker Europas daran machen würden, sich gegenseitig abzuschlachten. Nun war es also sein Sohn, der auf das Schlachtfeld treten würde, um zu töten und versuchen würde zu überleben. „Das kann doch unmöglich stimmen Herr von Amsfeld“. Eine der Mägde blickte in fragend an. „Die Polen sind doch nicht lebensmüde geworden und greifen einen Gegner an, der viel stärker als sie selbst ist.“ Paul Gerhard lächelte die alte Frau an und nickte zustimmend. „Das stimmt Herta. Ich glaube auch nicht daran, dass wir angegriffen wurden, sondern das wir die Polen angegriffen haben“. Diesen verdammten Nazis war schließlich jede Schweinerei zu zutrauen. Diese Irren werden uns in den Abgrund stürzen und dieses Mal wird der Rest der Welt solange weiter gegen uns kämpfen, bis es kein Deutschland mehr geben wird. Für Paul Gerhard war es nur eine Frage von Tagen, bis Frankreich und England dem Deutschen Reich den Krieg erklären würden. Helene war an ihn herangetreten und riss ihn aus seinen Gedanken. „Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie leise. „Nichts Liebes, ich werde nichts tun.“ Resignation klang in den Worten mit. „Wir werden darum beten, dass Martin unverletzt bleibt und das dieser Krieg nicht allzu lange dauert.“ Jetzt blickte er ihr tief in die Augen und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann drehte er sich um und schlenderte gedankenverloren zu den Pferdeställen hinüber.

Es kam so, wie es Freiherr von Amsfeld vorausgesagt hatte. Nachdem Hitler das von Großbritannien und Frankreich gestellte Ultimatum für einen Rückzug aus Polen verstreichen ließ, erklärten die beiden Großmächte am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg. Polen hatte der hochgerüsteten und modernen deutschen Wehrmacht nichts entgegenzusetzen. Bereits am 17. September zerschlugen Verbände der Wehrmacht große Teile der hoffnungslos unterlegenen polnischen Armee. Zeitgleich überschritten starke russische Truppenverbände die polnische Ostgrenze und machten sich daran Ostpolen zu besetzen. Die Aufteilung des polnischen Staatsgebietes war nur einen Monat zuvor zwischen Deutschland und der Sowjetunion in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin Pakt vereinbart worden. Jetzt machten sich die beiden Aggressoren daran diesen Plan, in die Tat umzusetzen. Am 27. und 28. September wurde Warschau eingeschlossen und durch deutsche Truppen erobert. Die letzten polnischen Truppen kapitulierten am 6. Oktober und das bedeutete das Ende des Polenfeldzuges.

Etwa 120.000 polnische Soldaten kamen bei den Kämpfen ums Leben und knapp 920.000 traten den Weg in die Gefangenschaft an. Aber auch 10600 deutsche Soldaten kamen während dieses sogenannten „Blitzkrieges“ ums Leben. Für den Polenfeldzug hatte das Oberkommando der deutschen Wehrmacht insgesamt zwei Heeresgruppen aufgestellt. Die Heeresgruppe Nord bestand aus einer Panzer-Division, sowie einer gemischten Wehrmacht- und SS-Panzer-Division. Außerdem waren zwei motorisierten Divisionen, sechzehn Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade an den Kämpfen beteiligt. Die Heeresgruppe Süd hingegen setzte sich aus vier Panzer-Divisionen, vier leichten Divisionen, einundzwanzig Infanterie-Divisionen und drei Gebirgs-Divisionen zusammen. Zwei Infanterie-Divisionen des XVII. Korps waren slowakisch, während zum XIII. Korps das motorisierte SS-Infanterie-Regiment Leibstandarte Adolf Hitler gehörte. Diesem Regiment, dem auch Martin von Amsfeld angehörte, war dem Befehlshaber der 8. deutschen Armee General Johann Blaskowitz unterstellt und nahm an den schweren Kämpfen um Warschau teil.

Insgesamt kamen im Polenfeldzug 108 Männer der Leibstandarte ums Leben und auch sein Kamerad aus der Poststelle in Berlin, Henrich Göring verlor bei den Kämpfen um die polnische Hauptstadt sein Leben. Martin hatte einfach Glück gehabt. Während eines Gefechtes schlug direkt neben ihm und Göring eine polnische Granate ein. „Volle Deckung!“, hatte der Zugführer ihnen noch zu gebrüllt, als auch schon der Einschlag erfolgte. Martin, der sich hinter die Reste einer gemauerten Häuserwand geworfen hatte, spürte, wie die Erde unter der Wucht der Detonation des großen Projektils erzitterte. Staub und Dreck flogen durch die Luft, während Fensterscheiben zerborsten und die Mauern der Häuser um sie herum einstürzten. Als Martin die Augen wieder öffnete und den Kopf aus dem Schutt hob, blickte er in die toten leeren Augen seines Kameraden Göring. Den Rottenführer war durch ein Schrapnell der halbe Kopf weggerissen worden, so dass sein Gehirn über das Geröll verteilt worden war. Dieser Anblick war fürchterlich und Martin würde ihn niemals vergessen. Ihm konnte zu diesem Zeitpunkt nicht klar sein, dass er in den nächsten fünf Jahren noch weitaus schlimmeres sehen würde.

Auch in dem pommerschen Dorf Amsfeld änderte sich das bisherige Leben in diesem September 1939. Der Ortsgruppenleiter Matuschek erhielt durch die Kreisleitung der NSDAP umfangreiche Vollmachten und wurde so quasi über Nacht zum Alleinherrscher des Dorfes. Seinen Anordnungen musste jeder Dorfbewohner uneingeschränkt Folge leisten und die Befehle, die er nun auf die verdutzten Bürger niedergehen ließ, zeigten bereits die ganze Brutalität des Regimes. „Alle Männer des Dorfes haben sich morgen um sechs Uhr auf dem Marktplatz einzufinden, um den Keller des Parteigebäudes zu einem Luftschutzraum auszubauen und das Mauerwerk mit Sandsäcken zu verstärken!“ Matuschek versuchte nicht einmal, zu verbergen, dass diese Maßnahme keinen gesellschaftlichen Wert hatte, sondern nur seine persönliche Sicherheit erhöhen sollte. „Das verdammte Schwein lässt uns buckeln, um seinen eigenen Hintern zu schützen.“ Fluchten einige der Männer hinter vorgehaltener Hand, während sie Sandsack um Sandsack füllten. Zusätzlich wurden an den Fenstern der Häuser Verdunkelungsmaßnahmen angebracht und Dutzende Wassereimer in die Hausflure gestellt, um Brände nach Bombentreffern löschen zu können. „Als ob irgendein feindlicher Flieger einen militärischen Nutzen darin sehen könnte unser Dorf zu bombardieren. Diese schwachsinnigen Maßnahmen sind geradezu lächerlich“, stellte Paul Gerhard eines Abends verbittert fest. Helene und er warteten immer noch auf ein erstes Lebenszeichen ihres Sohnes, der nach dem Abschluss der Kampfhandlungen in Polen zurück in das Reichsgebiet verlegt worden war.

Die Unterkünfte in der alten Kaserne waren miserabel. Die dreistöckigen Gebäude aus der Kaiserzeit hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen. An den Wänden der schmucklosen Stuben hatte sich durch Feuchtigkeit der Schimmel ausgebreitet und zum Teil waren die Fensterscheiben zersprungen, so dass der Regen leichtes Spiel hatte in das Gebäude einzudringen. Kleine Pfützen standen auf dem maroden Holzfußboden, der an einigen Stellen bereits aufgequollen war. „Was für ein Drecksloch!“, zischte einer der Männer wütend. Einige seiner Kameraden nickten zustimmend, andere waren einfach zu müde, um sich noch über den desolaten Zustand der Räume aufzuregen. Auch Martin blickte sich angewidert um. Schließlich legte er seine MP 40 und das Marschgepäck neben eines der klapprigen Betten und ließ sich dann ausgelaugt und müde auf die schmuddelige Strohmatratze fallen. „Wie lange sollen wir hier bleiben?“, fragte er seinen Bettnachbarn. „Wir werden morgen jeder unseren neuen Verbänden zugewiesen. Insofern rechne ich damit, dass es erst in ein paar Tagen weiter geht“, murmelte der Mann. Martin zündete sich eine Zigarette an. „Hast du schon eine Ahnung wo sie dich hinschicken werden?“ „Nein, aber ich vermute, dass man einige von uns in der Leibstandarte nicht mehr benötigt.“ Am anderen der maroden Stube setzte ein Schnarchen ein. Viele der SS-Männer waren praktisch schon im Stehen eingeschlafen. Müde war Martin auch, aber sobald er die Augen schloss, sah er den zerfetzten Hinterkopf seines Kameraden Görings vor sich. Seit ihrer Rückführung aus Polen hatte er nur acht bis zehn Stunden geschlafen und war dementsprechend fertig. Dennoch kam er innerlich nicht zur Ruhe und versuchte es jetzt mit Alkohol. In seiner verdreckten Hand hielt er eine Flasche billigen Branntwein, die er bereits bis zur Hälfte geleert hatte. „Gib mal rüber den Kelch“ Martin reichte die Flasche an seinen gegenüber weiter. Langsam fühlte er, wie sich die angenehme Wärme des Alkohols in seinem Körper ausbreitete und ein beglückender Nebel von seinem Gehirn Besitz ergriff. Vor einigen Monaten hatte er seinen Dienst in der Stabspoststelle der Leibstandarte gegen den eines Infanteristen wechseln müssen. Vorbei war es mit der bequemen Büroarbeit gewesen. Stattdessen hatte er seine Zeit wieder auf Truppenübungsplätzen und Standortschießanlagen verbracht.

In seiner neuen Funktion als stellvertretender Zugführer war er für die militärische und weltanschauliche Ausbildung seiner Soldaten verantwortlich. Seit dem er in der Poststelle ein Schreiben an den SS-Reichsarzt gelesen hatte, das die planmäßige Massentötung von Patienten zum Inhalt gehabt hatte, war sein Weltbild und seine nationalsozialistische Gesinnung in Mitleidenschaft gezogen worden. Der junge Adelige versuchte, jetzt nicht weiter durch überschwängliche Regimetreue aufzufallen. Es kam ihm manchmal so vor, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Wieder dachte er an seinen Vater. Der alte Herr hatte in allem Recht gehabt und er, Martin, war ein Teil des Übels. Die Scham übermannte ihn und er kippte sich eilig den Rest des Brandweins in den Schlund. Vergessen, dachte er. Ich will nur nicht mehr nachdenken müssen.

Am nächsten Morgen wurden die Männer schon früh geweckt. Der Spieß, ein bulliger SS-Hauptscharführer der es im zivilen Leben immerhin zum Vorarbeiter in einer Molkerei in Niedersachsen gebracht hatte, ließ die Männer vor dem Gebäude antreten. Es regnete mal wieder und Martin und die anderen SS-Männer hatten sich ihre Helme tief ins Gesicht gezogen. „Männer!“, brüllte der Spieß gegen den Platzregen an. „Ich verlese nun die Namen derjenigen, die in eine neue Einheit versetzt werden. Merkt euch, dass wir SS-Angehörige dort kämpfen, wo man uns hinstellt. Wir stellen keine Fragen, sondern führen jeden Befehl aus!“ Die Männer schwiegen und er begann die Namen auf seiner Liste zu verlesen. An zehnter Stelle fiel Martins Name. „Scharführer von Amsfeld – 1. SS Totenkopf-Standarte „Oberbayern“. Sie werden mit sofortiger Wirkung nach Dachau versetzt. Im Anschluss an diese Musterung empfangen Sie ihre Marschpapiere beim mir!“ Martin schlug die Hacken zusammen. Er konnte nicht ahnen, was diese Versetzung für sein weiteres Leben bedeuteten würde.

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