Читать книгу Täterland - Binga Hydman - Страница 8
Оглавление2. Kapitel
Abschied des Gewissens
Schon aus der Ferne war der Schriftzug über dem hölzernen Eingangstor gut zu erkennen. Unter den ausgebreiteten Schwingen eines Reichsadlers gab ein Schild Aufschluss über den Zweck der dahinter liegenden Baracken. „Reichsarbeitsdienst – Abteilung 3/77 – Eduard Jungmann“ stand dort geschrieben. Während der langen Anreise aus Rummelsburg hatte der zukünftige Reichsarbeitsmann von Amsfeld genügend Zeit gehabt, sich über seinen neuen Dienstort informieren. Eduard Jungmann, der Namensgeber der Abteilung 3/77, war ein preußischer Offizier gewesen, der während des deutsch-dänischen Krieges als Hauptmann eine Festungsbatterie in der Stadt Eckernförde befehligt hatte. Als am 5. April 1849 vier feindliche Kriegsschiffe einen Angriff auf die Stadt wagten, um den in Flensburg stationierten deutschen Truppen in den Rücken zu fallen, scheiterte dieses militärische Manöver an der herausragenden Leistung des Festungskommandeurs Jungmann. Während des Gefechts wurden alle dänischen Schiffe stark beschädigt. Zwei von ihnen liefen auf Grund und kapitulierten anschließend. Obwohl der Sieg kaum eine strategische Bedeutung hatte, stärkte er doch den Kampfgeist der deutschen Truppen. Jungmann wurde aufgrund seines beispielhaften Einsatzes an vorderster Front, für seine Tapferkeit und Umsichtigkeit zum Major befördert und mit dem sächsischen Hausorden mit Schwertern ausgezeichnet.
Seit einigen Wochen hatte die Männer des Reichsarbeitsdienstes damit begonnen auf der Insel Sylt mehrere Barackenlager zu errichten. Um die kleinen Dörfer Tinnum, Keitum und Morsum wurden primitive Unterkunftsgebäude gebaut, in denen dann nach und nach insgesamt 7 00 Arbeitsmänner untergebracht wurden. Das Lager „Eduard Jungmann“ war das bis her das Größte und war in dem Örtchen Archsum errichtet worden. Am Tor des Lagers angekommen zeigte Martin der Wache seinen Einberufungsbescheid. Einer der Posten deutete auf die größte der sieben Baracken. „Dort melden sie sich beim Oberfeldmeister.“ Martin bedankte sich und betrat das kleine Lager. Die Gebäude wirkten verlassen. Nur vor dem Stabsgebäude standen einige uniformierte Männer herum, die ihn neugierig musterten. Vor einer Tür, auf die man ein Schild „Geschäftszimmer Abtl 3/77“ montiert hatte, blieb er stehen. Dann klopfte er und trat ein. Ein kleiner Tresen trennte den größten Teil des Zimmers ab, so dass ein Besucher lediglich einen knappen Meter in den Raum hereintreten konnte. Hinter dieser etwa 1,50 hohen Wand aus Sperrholz saßen ein Obertruppführer und ein Vormann an ihren Schreibtischen und waren damit beschäftigt einige Akten zu sortieren. „Entschuldigen Sie bitte, ich soll mich hier melden“, sagte Martin und nahm Haltung an. Der Kopf des Obertruppführers fuhr herum. Das wenig freundlich wirkende Gesicht verfinsterte sich noch, soweit das überhaupt möglich war. „Schau mal Schulz, Frischfleisch!“ Der angesprochene Vormann betrachte den strammstehenden Martin sichtlich gelangweilt. „Noch so ein Babyface“, murmelte er und wandte sich wieder seinen Akten zu. Der Obertruppführer hatte sich erhoben und war an den Tresen herangetreten. „Also Jüngchen, ich will ihre Papiere sehen.“ Martin griff in seine Hemdtasche und reichte dem Vorgesetzten seinen Einberufungsbescheid. „Mensch Schulz, was haben wir doch für ein Glück. Der Herr ist vom alten Adel“. Der Sarkasmus in der Stimme des Unteroffiziers war unüberhörbar. „Also Jüngchen. Mein Name ist Stachelhaus. Für sie heißt es Obertruppführer Stachelhaus.“ „Jawohl Herr Obertruppführer“. Auf dem Gang der Baracke waren jetzt Schritte und Stimmengewirr zu hören. „Schulz bewege deinen Hintern und setzte einen Kaffee auf. Der Oberfeldmeister ist zurück.“ Der Angesprochene erhob sich und verschwand in einem der Nebenzimmer. „Also Arbeitsmann von Amsfeld..“. In der Anrede hatte Stachelhaus die Betonung auf das „Von“ gelegt „..sie gehen jetzt in die Kleiderkammer und lassen sich ihren Drillich und eine Uniform verpassen. Danach melden sie sich bei ihrem Stubenältesten.“
Martin schlug die Hacken zusammen und machte sich auf den Weg zum zuständigen Versorgungsunteroffizier.
Als Martin am nächsten Tag auf das Barackenvorfeld hinaustrat, trug er wie alle anderen Arbeitsmänner seinen cremefarbigen Drillichanzug. Der Himmel über dem kleinen Lager war wolkenverhangen und düster, Regen kündigte sich an. Zwischen den mit Schilf überwachsenen Dünen, die die Baracken umgaben, entdeckte Martin ein paar Kameraden, die gerade dabei waren einen Stacheldrahtzaun zu ziehen. Nach wenigen Minuten waren alle Arbeitsmänner der Abteilung 3/77 angetreten. Wie Gewehre hatten sie ihre blank polierten Spaten geschultert und warteten auf den Abmarschbefehl. Die ersten dicken Regentropfen platschten vereinzelt, dann vermehrt auf den eben noch trockenen feinen weißen Sand. Wieder grollte es laut und schwarze Gewitterwolken vereinten sich über ihren Köpfen zu einem gewaltigen Festival aus Blitz und Donner. Sturzbachartig ergoss sich nur einen Atemzug später ein Platzregen, der den Appellplatz in Sekundenschnelle in morastigen Schlamm verwandelte. Die Arbeitsmänner verharrten regungslos an ihrem Platz. Ihre nassen Drillichanzüge klebten an den Körpern, als der Obertruppführer endlich den Befehl zum Abmarsch gab. Die Männer stampften durch das Tor hinaus in die karge Dünenlandschaft der Insel. Nach einer halben Stunde, in der es weiterhin und ununterbrochen regnete, erreichten sie die Baustelle. Martin staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass es dort keinerlei schweres Arbeitsmaterial gab. Nirgendwo entdeckte er einen Bagger oder wenigstens einen Traktor, die die Männer bei der harten Arbeit unterstützen hätte können. Tag und Nacht wurden die Arbeitskolonnen hauptsächlich für die Errichtung eines 5,2 Kilometer langen Damms eingesetzt, der nur mit Schaufel und Spaten auf eine Höhe von fast sechs Meter aufgeschüttet werden sollte. Die Arbeitsbedingungen waren hart und meist wurde bis zur völligen Erschöpfung gearbeitet. Martin fiel nach der Rückkehr in das Lager vor Müdigkeit fast um.
An seinen Händen und Füßen hatten sich unzählige blutige Blasen gebildet, die wie Feuer brannten. Die Muskeln der Oberarme und seine Schultern fühlten sich taub und ausgelaugt an. Als er sich erschöpft auf einen der Stühle in seiner Stube fallen ließ, vermutete er, dass er sich nie wieder richtig bewegen würde können. „Martin, beweg deinen adeligen Arsch hier her und polier deinen Spaten. Der Oberfeldmeister wird gleich zur Stubeninspektion erscheinen.“ Einer seiner Zimmergenossen hielt ihm auffordernd den verschmutzten Spaten hin. „Nun mach schon!“ Martin tauchte den Putzlappen in einen der Eimer mit Politur.
Der Schmerz, als das scharfe Reinigungsmittel auf die offenen Wunden an seinen Händen gelangte, war höllisch. Er stöhnte auf und das Wasser schoss ihm in die Augen. Wenige Minuten später brüllte der Stubenälteste „Achtung“, und die anwesenden Arbeitsmänner nahmen die Habachtstellung ein. Im selben Moment betrat ein Riese die mit sechs Männern belegte Stube. Der Oberfeldmeister Jochen Meinhard war mindestens 2,10 Meter groß und hatte die Statur eines Preisboxers. Die Oberarme waren so dick wie Baumstämme, die Oberschenkel so muskulös wie die eines Rennpferdes. Meinhard musste sich ducken, um durch die Tür in das Zimmer zu treten. Sein markantes Gesicht war im Gegensatz zu seinem muskulösen Körperbau einer fast edlen Schönheit. Seine wachen blauen Augen musterten die Anwesenden und blieben dann auf Martin gerichtet. „Arbeitsmann von Amsfeld, wenn ich mich nicht irre?“ Die Weichheit der Stimme wollte für Martin so gar nicht zu diesem riesenhaften Körper passen, der sich da vor ihm aufgebaut hatte. „Jawohl Herr Oberfeldmeister“. Der Riese lächelte freundlich und deutete auf den Spaten. „Lassen sie mal sehen!“ Martin reichte den Spaten an den Vorgesetzten weiter. Der helle neue Holzstiel war an einigen Stellen durch das Blut der verletzten Hände dunkel eingefärbt. Meinhard bemerkte das schmerzverzerrte Gesicht seines gegenüber. „Das wird schon wieder mein Lieber“, sagte er und reichte Martin den Spaten zurück. „Sie haben sich heute gut geschlagen. Weiter so!“. „Jawohl Herr Oberfeldmeister“ Martin schlug die Hacken zusammen und empfand tatsächlich so etwas wie Stolz. Meinhard warf einen flüchtigen Blick auf die Spaten der anderen fünf Arbeitsmänner. Dann schob sich sein hünenhafter Körper durch die Türöffnung und war verschwunden. „Du bist wohl sein neuer Liebling.“ Martin schaute sich um. Kurt Knutzen, ein Hafenarbeiter aus Hamburg, grinste amüsiert und zündete sich dann eine Zigarette an. Knutzen war der Stubenälteste und Martin mochte diesen schlichten Geist, der das Herz an dem richtigen Fleck zu haben schien. Überhaupt hatte Martin bei der Stubenzuteilung Glück gehabt. Alle seine neuen Kameraden hatten ihn freundlich aufgenommen. Nachdem sie den abendlichen Revierdienst erledigt hatten, fielen die erschöpften Männer in ihre schmalen Kojen. Nur noch Schlafen, dachte Martin und war schon Sekunden später eingeschlafen.
Die Tage und Wochen vergingen wie im Fluge. Irgendwann hatte es begonnen zu schneien und die karge Dünenlandschaft, für die die Insel Sylt bekannt war, wirkte seltsam unwirklich und fremd. Durch den ständig anhaltenden Westwind überzogen schon bald riesige Schneeverwehungen die einsame winterliche Landschaft der Nordseeinsel. Die Temperaturen fielen zum Teil unter -20 Grad und die harte körperliche Arbeit wurde durch den starken Bodenfrost noch zusätzlich erschwert. Die Männer fluchten und einige brachen nach den wochenlang andauernden Anstrengungen einfach zusammen. Martin, jung genug und mit einer guten körperlichen Konstitution versehen, hatte sich schnell an die Schwerstarbeit gewöhnt. Die Tagen und Wochen glichen sich. Tagsüber wurde geschaufelt und am Abend wurde gesoffen. Monotonie und Langeweile lagen wie ein undurchdringlicher Nebel über dem tristen Lagerleben der Männer. Häufig kam es zu alkoholischen Exzessen, die nicht selten schon mal in einer wilden Prügelei endeten.
Oberfeldmeister Meinhard, der als der verantwortliche Lagerkommandant auch für die politische Erziehung seiner Arbeitsmänner verantwortlich war, ließ an manchen Abenden Lesungen durchführen, in dem er Textstellen aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ rezitierte oder aktuelle Berichte aus der deutschen Presse vorlas. Fast immer ging es dabei um die Überlegenheit der germanischen Rasse und die Verabscheuungswürdigkeit des Judentums. Martin, dem der Nationalsozialismus bis dahin immer fremd geblieben war, begann sich plötzlich für Politik zu interessieren. Einmal während eines Vortrages, in dem über die allgegenwärtige jüdische Gefahr für Europa referiert wurde, erinnerte er sich an zu Hause. Er sah Ursula Kleinow vor sich, die erst als Jüdin beschimpft und dann verhaftet worden war. Bis jetzt hatte er Mitleid und sogar Scham empfunden, wenn er an die alte Haushälterin und ihr Schicksal zurückdachte. Doch plötzlich gingen ihm Fragen durch den Kopf, die er sich bisher nie gestellt hatte. Waren die Juden nicht selber schuld daran, dass man sie nicht mochte? Hatten sie nicht vorgehabt das deutsche Volk zu versklaven? Wie ein schleichendes Gift setzten sich ganz allmählich die nationalsozialistischen Wahnideen in Martins Kopf fest und er entfernte sich zusehends von dem liberalen Gedankengut seines Elternhauses. Ursula Kleinow war für Martin Stück für Stück vom Opfer zum Täter geworden. Die ständige Indoktrinierung und Propaganda der Nazis zeigte nicht nur bei ihm ihre Wirkung. Viele seiner Kameraden waren schon vor ihrem Arbeitsdienst Mitglied in der Hitlerjugend gewesen und daher weltanschaulich bereits gefestigt. In Martin wuchs der unbedingte Wunsch, unbedingt dazu zu gehören. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, wurde ihnen immer und immer wieder eingebläut und Martin glaubte irgendwann daran. Als im März der Schnee schmolz und die ersten warmen Sonnenstrahlen den hartgefrorenen Boden begannen aufzutauen, sollte Martins Dienstzeit auf Sylt nach sechs Monaten zu Ende gehen. Ein halbes Jahr nationalsozialistischer Dauerpropaganda und die Isolation in einer schäbigen Barackenlagers hatten ausgereicht, um aus dem einst liberalen und weltoffenen Jungen einen überzeugten Nationalsozialisten zu machen.
Der D-Zug nach Danzig war wieder einmal völlig überfüllt. Martin erhob sich und verließ das Abteil und drängelte sich auf die geöffnete Waggontür zu. Gerade noch rechtzeitig erreichte er sie und sprang auf den Bahnsteig hinaus. Nur Sekunden später schlugen die Türen hinter ihm zu und die große Dampflok ächzte und schnaufte, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. „Martin!“ Er drehte sich um und erkannte seinen Vater, der nur wenige Meter vor ihm auf dem Bahnsteig stand. „Hallo Vater.“ Die beiden Männer reichten sich die Hand. Paul Gerhard von Amsfeld lächelte und die Freude über die Heimkehr seines Sohnes stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Deine Mutter erwartet uns pünktlich zum Essen. Es gibt Kartoffelpfannkuchen und Schokoladenpudding“ Martin nickte und grinste. „Das klingt gut. Die letzten Monate gab es bei uns nur Kommissfraß!“ Der Vater schlug seinem Sohn auf die Schulter und die beiden machten sich auf den Weg. Vom Bahnhof in Rummelsburg bis nach Amsfeld benötigten sie eine knappe Stunde. Der altersschwache Ford T, Baujahr 1921 quälte sich über die holperige Landstraße und Martin war froh, als sie endlich das Wohnhaus des Familiensitzes erreichten. Sobald der Wagen vor der großen Eingangstreppe zum Stehen gekommen war, öffnete sich die Haustür und seine Mutter stürzte hinaus und schloss ihn in ihre Arme. „Oh mein lieber Junge. Ich bin so froh, dass du wieder bei uns bist.“ Tränen der Freude liefen ihr über das Gesicht und während sie Martin fest an sich drückte, trug sein Vater bereits das Gepäck in das Haus.
Als Eltern und Sohn wenig später am gemeinsamen Esstisch platzgenommen hatten, war der Raum mit dem Duft frischer Pfannkuchen erfüllt. Martin erinnerte sich daran, dass es in seiner Kindheit immer Ursula gewesen war, die diese Leckereien für ihn gemacht hatte. Er sog den Duft ein und hörte, wie sein Magen knurrte. „Lang zu“, grinste sein Vater verstehend und deutete auf die Pfannkuchen. In den nächsten Minuten sprach niemand. Nur das Geräusch von schabendem Besteck auf der Keramik eines gefüllten Tellers erfüllte für eine Zeitlang die Stille des Raums. „Also..“, eröffnete Helene das Gespräch „Wie ist es Dir ergangen?“ Martin legte die Gabel auf den Teller und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er war so satt, wie lange schon nicht mehr. „Gut Mutter. Die Kameradschaft und die enge Gemeinschaft, die dort herrschten haben mich von der Richtigkeit dieses Dienstes überzeugt. Die Volksgemeinschaft und der Glaube an den Führer werden Deutschland schon sehr bald wieder groß und mächtig machen.“
Paul Gerhard warf seiner Frau einen erstaunten Blick zu und zündete sich dann schweigend eine Zigarre an. „Hört, hört!“, murmelte er und blies den Rauch an die Zimmerdecke. „Wir haben einen Deich angelegt und damit ein Becken geschaffen in dem das Wasser, von den Gezeiten unabhängig, immer die gleiche Tiefe hat. In diesem Becken sollen zukünftig Wasserflugzeuge der Kriegsmarine landen können.“ Der Stolz, der in der Stimme Martins mitschwang, als er von den harten Arbeitsbedingungen berichtete, war unüberhörbar. „Viel freie Zeit blieb da natürlich nicht. Abends haben wir dann häufig zusammengesessen und unser Oberfeldmeister hat uns etwas über die Lebensgeschichte des Führers und aus der Kampfzeit der Partei berichtet.“ Helene zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und betrachte ihren Sohn über den Rand ihres Weinglases. „Du hast dich verändert mein Junge“. Martin meinte in den Worten einen vorwurfsvollen Unterton herauszuhören. „Ja das habe ich Mutter. Ich bin erwachsen geworden und ich habe erkannt, dass deutsch zu sein wieder etwas zählt. Ehre, Treue und Gehorsamkeit sind die Tugenden auf denen sich ein neues Deutschland aufbauen lässt!“, erwiderte er etwas torzig. Der Zigarrenqualm hing wie ein dicker Nebel über ihren Köpfen und für einen Moment beobachten sie gemeinsam, wie sich die Schwaden nach und nach im ganzen Zimmer ausbreiteten. „Man scheint euch politisch auf Linie gebracht zu haben“, stellte der Freiherr und ehemalige Offizier mit nüchterner Stimme fest. Martin nippte an seinem Glas und schwieg. Er ist nie in dem neuen Deutschland angekommen, dachte er und stellte einmal mehr fest, dass sein Vater mehr denn je ein alter Mann war. „Man hat uns nur gezeigt, worum es geht und warum es richtig und so wichtig ist sich in die deutsche Volksgemeinschaft einzubringen“. „Ihr redet von Volksgemeinschaft“, die unverhohlene Verachtung in der Stimme seines Vaters machte Martin wütend. „Mein Junge, dieses neue Deutschland von dem du da sprichst wird Europa in einen neuen Krieg stürzen. Die Nazis spielen Gott und ihr seid ihre gläubigen Jünger“. Bevor Martin etwas erwidern konnte, fuhr seine Mutter dazwischen
„Ach lassen wir doch die Politik aus dem Spiel. Es ist schön, dass du wieder zu Hause bist“ Martin biss sich auf die Lippen und lächelte sie an. „Du hast recht Mutter. Entschuldigt mich bitte. Ich werde mich hinlegen und etwas Schlaf nachholen. Den gab es beim RAD tatsächlich viel zu wenig“. Nach diesen Worten erhob er sich und verabschiedete sich. Einige Minuten saßen Helene und Paul Gerhard schweigend nebeneinander und ein jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach. Dann räusperte sich der alte Gutsherr und füllte sein halbleeres Glas auf. „Helene, ich glaube wir haben jetzt einen kleinen Nazi im Haus“, sagte er trocken. Seine Frau starrte ihn wortlos an und er erkannte die Hilflosigkeit in ihrem Blick. „Was haben sie mit ihm gemacht?“, flüsterte sie leise. „Sie machen aus unseren Kindern Monster, die schon sehr bald für sie morden oder sich am Ende sogar selbst opfern werden.“ „Aber wofür?“ Helene blickte ihren Mann fragend an. „Für eine Bande von Verbrechern!“ Paul Gerhard erhob sich und schüttelte den Kopf. „Wir sollten in Zukunft etwas vorsichtiger mit unseren Worten sein. Zumindest solange Martin dabei ist“. Helene nickte stumm. Ihr Sohn war zu einem Nazi geworden, dieser Tatsache musste sie wohl ins Auge schauen.
Martin erwachte früh. In den letzten sechs Monaten waren er und seine Kameraden beim Arbeitsdienst stets um 4: 45 Uhr geweckt worden. Danach hatte der Oberfeldmeister die müden Männer eine halbe Stunde lang im Laufschritt durch die Sylter Dünenlandschaft gejagt. Vielleicht sollte er aufstehen und eine Runde Laufen gehen, überlegte er. Der Regen schlug an die Fensterscheibe seines Zimmers und er zog die Bettdecke hoch, so dass nur sein Kopf herausschaute. Nein, bei dem Sauwetter würde er noch ein paar Minuten liegen bleiben. Draußen auf dem Hof waren die alltäglichen Geräusche eines landwirtschaftlichen Betriebes zu hören. Ein Trecker wurde angelassen, Pferde wieherten und das Klappern ihrer beschlagenen Hufe drang an sein Ohr. Die Landarbeiter riefen sich einen morgendlichen Gruß zu und der alte Hahn kündigte an, dass er ausgeschlafen hatte. Es klopfe an seiner Tür und seine Mutter trat herein. In der Hand hielt sie einen Becker mit frisch aufgebrühtem Kaffee. „Guten Morgen mein Junge.“ Sie kam herüber an sein Bett und reichte ihm das heiße Getränk. „Hast du gut geschlafen?“ Martin setzte sich auf und nickte. „Ja, Mutter.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und strich ihm mit der Hand durch das blonde Haar. „Haben wir keine Haushälterin?“ Martin nippte an der Tasse. Seine Mutter hatte ihm früher nie einen Kaffee in das Zimmer gebracht. „Nein. Nach dem man Ursula verhaftet hatte, wollte dein Vater keine neue Kraft mehr einstellen.“
„Aber warum das denn nicht? Es gibt bestimmt viele deutsche Mädchen, die diese Aufgabe gern übernehmen würden.“ Helene von Amsfeld schüttelte den Kopf „Dein Vater besteht darauf, auf die Rückkehr Ursulas zu warten.“ „Wo ist sie denn jetzt?“ Martin betrachtete seine Mutter neugierig. Er bemerkte die plötzliche Traurigkeit in ihrem Gesichtsausdruck. „Sie soll in einem Konzentrationslager in der Nähe von München sein. Ich glaube der Ort heißt Dachau.“ Ursula Kleinow hatte der Familie von Amsfeld über viele Jahre gedient und gehörte praktisch mit zur Familie. Sie hatte den kleinen Martin sein Leben lang umsorgt und ihm in seiner ganzen Kindheit zur Seite gestanden. Sie brachte ihm bei, wie man eine Schleife macht oder wie man Papierflieger baut. Er hatte sie gemocht, doch das war, lange bevor er erfuhr, dass sie eine verdammte Jüdin war. Er erinnerte sich daran, wie geschockt er damals gewesen war, als der Ortsgruppenleiter Matuchek die alte Frau beschimpft und anspuckt hatte. Heute sah er die Sache anders. Ursula hätte damals damit rechnen müssen eine solche Reaktion des Mannes zu erfahren. Schließlich gehörte sie einer Rasse an, die seit Jahrhunderten alles daran setzte das deutsche Volk zu versklaven. Sie selbst hatte vielleicht nichts Unrechtes getan, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie einem Volk angehörte, das andere Völker ausbeutete und unterdrückte. „Ein Konzentrationslager dient der Umerziehung. Dort wird sie zu einem besseren Menschen gemacht“ Helene starrte ihren Sohn entgeistert an. Das konnte er doch nicht ernsthaft behaupten, dachte sie. „Trink deinen Kaffee aus und dann komm herunter.“ Helene erhob sich und zog die Vorhänge auf. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schloss sie die Zimmertür hinter sich.
Martin von Amsfeld legte die Striegelbürste zurück in das Regal. Die beiden Stuten waren zwar schon alt, aber sie sahen frisch gestriegelt immer noch ausgesprochen gut aus. Einer der Stallburschen reichte Martin einen Krug Bier und der junge Mann dankte es ihm mit einem freundlichen Lächeln. Es war schön, wieder zu Hause zu sein, auch wenn es nicht für allzu lange Zeit sein würde. Zwei Tage bevor seine Dienstzeit im RAD zu Ende ging, war er zu Oberfeldmeister Meinhard gerufen worden. Der Kommandant des Lagers saß wie immer hinter seinem blitzblanken Schreibtisch und stürzte eimerweise frischen Kaffee in sich hinein, den ihm einer seiner Untergebenen brachte, sobald er einen lauten Pfiff ausstieß. „Nehmen sie Platz von Amsfeld“ Martin trat einen Schritt vor und setzte sich. „Ich mache es kurz. Sie sind mir während ihrer sechsmonatigen Dienstzeit positiv aufgefallen. Als sie hier eintrafen dachte ich zunächst, dass sie einer dieser üblichen verzogenen liberalen Bübchen aus gutem Hause sind, die harte körperliche Arbeit meiden.“ Er steckte sich eine Zigarette an und fuhr dann fort. „Aber, ich habe mich getäuscht. Sie haben sich hier gut geschlagen. Obertruppführer Stachelhaus hat sich ebenfalls sehr lobend über sie geäußert. Sie sind hier in kurzer Zeit zu einem wahrlich treuen und überzeugten Nationalsozialisten herangereift. Das Deutsche Reich braucht junge Männer wie sie.“ Martin war bei so viel Lob regelrecht warm ums Herz geworden und er lächelte verlegen. „Aus diesem Grund habe ich mich dafür eingesetzt, dass sie ihren zweijährigen Wehrdienst in der SS ableisten können. Herzlichen Glückwunsch!“ Meinhard wuchtete seine hünenhaften Körper aus dem verschlissenen Bürostuhl, der schon einmal deutlich bessere Zeiten gesehen haben musste, und reichte dem verdutzten Martin die Hand. Der war aufgesprungen und hatte automatisch die Grundstellung eingenommen. „Danke Herr Oberfeldmeister.“ Als er etwas später in seine Stube zurück gekehrt war, beglückwünschten ihn seine Kameraden und freuten sich mit ihm. Nur Kurt Knutzen schien die Neuigkeit kaum zur Kenntnis zu nehmen. Wie so häufig in der Vergangenheit, hatte es sich der Hamburger auf seiner Koje bequem gemacht und band aus einem Stück Tau die unterschiedlichsten Seemannsknoten. Martin vermutete, dass der Hafenarbeiter an Politik kein Interesse hatte, und seine Zeit beim RAD nur ohne anzuecken hinter sich bringen wollte. Nie verlor er ein Wort über den Nationalsozialismus oder den Führer. Er schwieg und galt bei seinen Kameraden deshalb schon bald als politisch unzuverlässig. Martin und seine Kameraden konnten zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass der schweigsame Knutzen ein paar Jahre später durch ein Urteil des Volksgerichtshofes zum Tode verurteilt werden würde, weil er mehreren Hamburger Juden in seinem Keller Unterschlupf gewährt hatte.
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