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1. Kapitel

Die neue Zeit

„Martin! Das Essen steht auf dem Tisch!“ Der Ruf der Hauswirtschafterin hallte über den sonst menschenleeren Hof. Der sich auf der Treppe des alten Herrenhauses sonnende bereits betagte Schäferhund hob schläfrig den Kopf, bevor er ihn wenig später auf die warmen Steinplatten zurückfallen ließ. Es war kurz vor Mittag und die meisten der Mägde und Knechte, die auf dem Gut der Familie von Amsfeld arbeiteten, waren zu dieser Zeit entweder noch auf den Feldern oder in den Stallungen beschäftigt. Wo steckt der Junge bloß wieder, dachte Ursula Kleinow und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Eine Sekunde später entdeckte sie den Knaben. „Ich komme schon“, rief er und winkte ihr dabei zu. Er trat aus einem der Pferdeställe heraus und die alte Haushälterin wunderte sich einmal mehr, wie erwachsen der Junge bereits wirkte. Martin von Amsfeld war vor sechs Tagen siebzehn Jahre alt geworden. Wie er da so vor ihr stand, das blonde Haar in das gerötete Gesicht hängend, die Striegelbürste in der Hand, machte er auf die Haushälterin eher den Eindruck eines zweiundzwanzigjährigen Mannes, als den eines siebzehnjährigen Knaben. Martins stahlblaue Augen hatten einen warmen, aber dennoch harten Glanz und sein muskulöser, sportlicher Oberkörper strahlte Kraft und Stärke aus. Martin war 1,88 m groß und durch die Arbeit auf dem Hof von sportlicher Statur. Martin zog sich das Hemd an, dass er während des Striegelns der Pferde ausgezogen hatte. Dann legte er die Bürste auf den Rand eines Wasserfasses und machte sich auf den Weg zum Haupthaus. Mit leichten, schnellen Schritte stieg er die sieben Stufen zur Empfangshalle hinauf. Ursula Kleinow trat einen Schritt zur Seite und hob dabei drohend ihren Finger in Richtung der Zimmerdecke. „Händewaschen nicht vergessen, junger Mann!“ Martin überlegte, ob er der Haushälterin eine sarkastische Antwort geben sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Ursula Kleinow war die gute Seele des Haus von Amsfeld und Martin kannte sie schon sein ganzes Leben lang. Daher wusste er, dass jede Widerrede zwecklos war.

Die alte Frau lebte nun schon seit 45 Jahren auf dem Anwesen und hatte sich seit seiner Kindheit um ihn gekümmert. Sie ist eine warmherzige Frau, die man einfach gern haben muss, dachte Martin und trat dann in das Esszimmer ein. Der angenehme Duft eines Bratens kroch ihm in die Nase. Als er den gedeckten Tisch betrachtete, erspähte er eine dampfende Fleischplatte, auf der ein riesiger Schweinebraten ruhte. In einer großen Schüssel türmten sich gekochte Kartoffeln und in einem etwa gleich großen Topf hatte Ursula frisches Gemüse vorbereitet. Am Ende des vier Meter langen Tisches saß Paul Gerhard von Amsfeld. Der ergraute Gutsherr hatte sich in eine Tageszeitung vertieft und schien das Eintreten seines Sohnes nicht bemerkt zu haben. „Diese verdammten Verbrecher“, entfuhr es ihm und dabei schüttelte mit einem angewiderten Gesichtsausdruck den Kopf. „Diese Kerle führen uns geradewegs in den nächsten Krieg.“ Seine Stimme war zu einem fast verzweifelten Flüstern geworden. „Hallo Vater.“ Der alte Mann ließ erschrocken die Zeitung sinken und blinkte überrascht auf. Seine Augen blieben an seinem Sohn hängen und er fixierte Martin für einen kurzen Moment. Dann lächelte er und legte die Lektüre auf den Tisch. „Setz Dich, mein Sohn. Wir wollen endlich anfangen.“ „Wo ist Mutter?“, fragte Martin. „Sie ist nach Rummelsburg gefahren, um dort ein paar Dinge einzukaufen. Sie kommt sicher erst heute Abend zurück.“ Ursula Kleinow stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch und zog sich dann in die Küchenräume zurück. Vater und Sohn prosteten sich schweigend zu. Dann aßen sie.

Martin blickte auf das große Ölbild, das hinter seinem Vater an der Wand hing. Es zeigte einen stattlichen und großgewachsenen Mann, der in eine rote Dragoneruniform der preußischen Armee gekleidet, in das große Nichts der künstlerischen Unendlichkeit zu blicken schien. Der graue Schnauzbart war perfekt gestutzt, die kerzengrade Körperhaltung drückte Selbstsicherheit aus. Die rechte Hand hatte der Mann lässig er auf einem glänzenden Ledergürtel gelegt, der die Scheide seines Degens hielt. Martin stopfte sich eine Kartoffel in Mund und grinste. „Also unser Vorfahre sieht irgendwie gelangweilt aus“, witzelte Martin und zeigte mit der Gabel auf das Bild an der Wand. Sein Vater drehte sich zu dem Gemälde um und warf einen prüfenden Blick darauf. „Der gute Richard hatte ein ereignisreiches Leben. Er sieht eher müde aus finde ich.“ Vater und Sohn prosteten sich zu und Martin erinnerte sich an die vielen Geschichten, die er in seiner Kindheit über den ersten Freiherren von Amsfeld und den Familienwohnsitz gehört hatte.

Richard Freiherr von Amsfeld, der Stammhalter der Sippe, hatte das Anwesen mit dem dazugehörigen Land im Jahre 1724 erworben und zum Familiensitz der von Amsfeld gemacht. Das Rittergut, das sich über 30 Millionen Quadratmeter erstreckte, war seit dieser Zeit immer wieder umgebaut und erweitert worden, bis es 1876 durch ein Feuer bis auf die Grundmauern niederbrannte. Nur der große Mittelturm des Haupthauses war durch das Feuer verschont geblieben. Theodor von Amsfeld, der damalige Gutsherr, ließ die zerstörten Gebäude und das Wohnhaus wieder aufbauen. Gleich neben den Stallungen wurden einige kleine Gesindehäuser für die Landarbeiter und ihre Familien errichten, in den sie kostenlos wohnen durften. Vor dem großen Wohnhaus entstand damals nicht nur eine Kapelle, sondern auch ein kleiner Pavillon, an dem sich in den lauen Sommerabenden die Familienmitglieder der von Amsfeld mit ihren Angestellten zu einem abendlichen Plausch trafen. In den darauffolgenden drei Jahrzehnten siedelten sich um den Hof herum, immer mehr Menschen an. Schon damals lebte es sich unter der Herrschaft des liberalen und weltoffenen Theodors nicht schlecht. Dutzende Häuser, eine Schule und sogar eine Tuchmacherei wurden um den Herrensitz herum gebaut, so dass der preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II im Jahre 1903 die Gründung des Dorfes Amsfeld befahl.

„Ich werde heute Nachmittag in Treblin die beiden Stuten beschlagen lassen. Unser eigener Hufschmied ist letzte Woche von der Gestapo abgeholt worden.“ Martin sah, wie sein Vater bei den Worten angewidert das Gesicht verzog. Die Werkstatt des Hufschmieds Walter Rausch befand sich seit vielen Jahrzehnten in der Ortsmitte des Dorfes Amsfeld. Der stets freundliche und fast zwei Meter große Mann galt als ein ausgezeichneter und zuverlässiger Handwerker, der sich in den zwanziger Jahren eine Zeit lang für die Sozialdemokratie stark gemacht hatte. Nach der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933 und dem bald darauf folgenden Verbot aller politischen Parteien, zogen sich viele Deutsche in das Privatleben zurück. Rausch, der niemals ein Amt bekleidet hatte, gehörte zu den wenigen Mutigen, die nach Hitlers Machtergreifung, ihren Idealen treu geblieben waren. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wetterte er gegen das brachiale Regime und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn ein Volksgenosse bei der Gestapo anschwärzte. Vor zwei Tagen war Rausch dann in den frühen Morgenstunden von Gestapo-Beamten abgeholt worden. „Das kann sich nur um einen Irrtum handeln“, sagte Martin, obwohl er tief in seinem Inneren ahnte, dass dem nicht so war. Sein Vater blickte ihn schweigend an. Dann erhob er sich und trat an das große Fenster heran. Auf den eben noch menschenleeren Hof war das Leben zurückgekehrt.

Einige Landarbeiter hockten auf dem gemauerten Rand des Brunnens und genossen ihre Mittagspause. „Mein lieber Junge“, der Gutsherr schwieg für einen kurzen Moment, dann fuhr er mit leiser Stimme fort „Die Verhaftung von Rausch war alles andere als ein Irrtum. Wir leben heute in einem Land, in dem jede noch so kleine Kritik an der Staatsgewalt hart bestraft wird.“ Martin betrachtete seinen Vater aus dem Augenwinkel heraus. Er versteht die Welt, in der wir leben nicht mehr, dachte Martin. Seit 1919 leitete sein Vater die Geschicke des Guts. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges hatte der ehemalige Rittmeister der 4. preußischen Garde-Kavallerie-Brigade seinen Dienst quittiert und sich mit seiner Frau auf das pommersche Rittergut in der Nähe der kleinen Stadt Rummelsburg zurückgezogen. Noch im gleichen Jahr kam hier ihr einziger Sohn Martin zur Welt. In den darauffolgenden Jahren der ersten deutschen Republik und der damit verbunden Abschaffung des Adels, lebte die Familie das Leben eines Großbauern. Paul Gerhard wurde zum Bürgermeister des Dorfes gewählt und zog 1920 als Abgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei in den preußischen Landtag ein.

Die DDP war 1918 gegründet worden und gehörte zu den wenigen Parteien, die sich uneingeschränkt zur Demokratie bekannten. Paul Gerhard, der zusammen mit dem Bankier und ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht zu den Gründungsvätern der DDP gehörte, zählte zu den wenigen Adeligen, die die politische Zukunft Deutschlands in der Demokratie sahen. Die offene Ablehnung der monarchischen Staatsform führte in den zwanziger Jahren in kurzer Zeit zu einer gesellschaftlichen Isolierung der Familie von Amsfeld. Die Mehrheit des immer noch kaisertreuen Adels lehnte die Weimarer Republik und ihren demokratischen Parlamentarismus ab. Während sich die Bevölkerung in den Großstädten einer gigantischen Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und dem nackten Hunger ausgesetzt sahen, feierten viele ehemalige Würdenträger des untergegangenen Kaiserreiches auf dem Ku'damm in Berlin die Nächte durch. Als es am 24. Oktober des Jahres 1929 in New York an der Wall Street zum Börsencrash kam und die Kurse der Aktien daraufhin einbrachen, dauerte es nicht lange bis auch im restlichen Europa alle Dämme brachen und die Aktienmärkte weltweit zusammenbrachen. Viele Anleger verschuldeten sich und wurden bedingt durch eine rasant ansteigende Hyperinflation manchmal innerhalb von Tagen ihres Hab und Guts beraubt. Große Firmen mussten Konkurs anmelden und schlossen ihre Tore. Die Arbeitslosenzahlen erreichten bald die 6 Millionen Marke und das führte zu einer Radikalisierung der Bevölkerung. Das war fünf Jahren her und seit dieser Zeit hatte sich in Deutschland einiges verändert.

Am 30. Januar 1933 erschlich sich eine Partei die Macht im Lande, die man zehn Jahre zuvor noch verboten hatte. Die NSDAP, eine nationalistische und ausgesprochen antisemitische Gruppierung, die den Parlamentarismus strikt ablehnte, versprach ihren Wählern Arbeit und Brot und konnte ihre Mitgliederzahl von 175.000 Mitgliederzahlen Jahr 1929 bis 1933 nahezu verzwanzigfachten. Als Adolf Hitler in einer seiner ersten offiziellen Reden den anderen Parteien ein baldiges Verbot voraussagte, ahnte Paul Gerhard, dass seine Tage als Abgeordneter des preußischen Landtages schon sehr bald gezählt sein würden. Nur sieben Wochen später erließen die Nazis dann auch das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder“, mit dem auf einen Schlag alle zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Länderparlamente aufgelöst wurden. Wie so viele andere Abgeordnete musste auch Paul Gerhard von Amsfeld alle seine politischen Aktivität einstellen. „Ist das wirklich schon zwei Jahre her?“, ging es ihm durch den Kopf. Seit dieser Zeit lebten er und seine Familie wieder auf dem Gut in Amsfeld. Die Berliner Stadtwohnung, in der sie viele Wochen im Jahr zu Hause gewesen waren, hatte der Freiherr nach der Auflösung des Parlaments an einen ihm bekannten Arzt und seine Familie vermietet.

Martin räusperte sich und sein Vater tat es ihm gleich. „Ich kann dich nach Treblin begleiten Vater. Die vier Holsteiner habe ich bereits versorgt und einer der Stallburschen kann sich um das Füttern kümmern“ „ Das ist sehr nett von Dir, aber ich möchte, dass du dich heute Nachmittag um eine andere wichtige Angelegenheit kümmerst“ Martin blickte seinen Vater überrascht an. „Gern, worum geht es?“ In diesem Moment betrat die alte Haushälterin das Esszimmer, um das Geschirr abzuräumen. „Ursula, meine Gute. Sie kommen gerade zur rechten Zeit!“ Verdutzt blieb die Frau stehen. „Ich möchte, dass sie heute mit Martin zum Ortsgruppenleiter gehen. Es ist gestern morgen ein amtliches Schreiben in der Post gewesen, in dem ich darauf hingewiesen werde, dass alle meine Angestellten behördlich registriert werden müssen.“ Für einen Moment war nur das Wiehern einiger Pferde zu hören. Paul Gerhard von Amsfeld war wahrlich kein Freund der Nazis und er verabscheute den Ortsgruppenleiter der NSDAP zutiefst. Insofern konnte Martin verstehen, dass sein Vater ihn gebeten hatte Ursula zu begleiten und nicht selber mit ihr zu dem Parteifunktionär gehen wollte. Der Mann hieß Johann Matuchek und war vor seiner Parteikarriere als einfacher Arbeiter in der ortsansässigen Tuchmacherei angestellt gewesen.

Matuchek, der 1928 in die NSDAP eingetreten war, lebte seit seiner Geburt in Amsfeld und war ein ungebildeter Kerl, der es vor der Machtergreifung zu nichts gebracht hatte. Er trank gern und viel, zu viel . Er war für seine Brutalität bekannt und benutzte seine neue Machtposition häufig genug dazu, um alte, offene Rechnungen zu begleichen. Nach dem er vor zwei Jahren zum Ortsgruppenleiter ernannt worden war, führte er sich häufig auf wie ein Despot und wurde von den meisten Dorfbewohnern gemieden. Der kleine Raum der NSDAP-Ortsgruppe Amsfeld lag gleich neben der Bäckerei Tornow. Das Gebäude hatte ursprünglich einmal als Lagerhalle für Tuchballen gedient und war vor zwei Jahren mit einfachsten Mittel zum Büro und Versammlungsort der Partei umgebaut worden. Johann Matuchek saß hinter einem alten Schreibtisch und war damit beschäftigt, die neuste Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ zu lesen, als es an der Tür klopfte. Der Ortsgruppenleiter legte die Zeitung beiseite. „Herein“ rief er mit schnarrender Stimme. Die Tür öffnete sich und Ursula Kleinow und Martin von Amsfeld betraten das Büro. Der Ortsgruppenleiter ließ die Zeitung in einer der Schubladen verschwinden und griff nach einem Stapel Karteikarten auf denen er die Daten der ortsansässigen Parteimitglieder notiert hatte.

In den letzten beiden Jahren war die Anzahl der Anträge auf Aufnahme in die NSDAP beständig angewachsen. In Amsfeld lebten zurzeit 1012 Menschen, von denen mittlerweile 388 eingetragene Parteimitglied waren. „Guten Tag Herr Matuchek. Ich habe eine Aufforderung erhalten mich bei Ihnen zu melden“, sagte Ursula Kleinow, die sich sichtlich um Freundlichkeit bemühte. Der Blick des Ortsgruppenleiters wanderte zwischen der alten Frau und Martin hin und her. Dieser reiche Schnösel, dachte er. Wie ich diese arroganten Adeligen doch hasse, ging es ihm durch den Kopf. „Heil Hitler!“ Er hob den rechten Arm zum sogenannten deutschen Gruß und wies auf die beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen. „Setzen Sie sich!“ Es war keine Bitte, sondern eine Anweisung, der die Besucher zu folgen hatten. Ursula und Martin tauschten einen kurzen Blick aus und setzten sich dann. „Der Kreisleiter hat befohlen, dass ich alle in Amsfeld tätigen Hausangestellten und Arbeiter registriere“, sagte er mit schnarrender Stimme. „In diesem Prozess werden unter anderem alle vorliegenden Unterlagen geprüft und herangezogen, die Aufschluss über die jeweilige Person geben.“ Sein Blick fiel auf einen ausgefüllten Vordruck, den er vor sich auf dem Schreibtisch gelegt hatte. „Natürlich wird in diesem Zusammenhang auch die Herkunft der betroffenen Person überprüft.“

Ursula Kleinow blickte Matuchek fragend an. „Ihre Großeltern väterlicherseits hießen Rosenbaum? Ist das korrekt?“ Matuchek lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Stimme war eisig und abweisend. „Das ist richtig“, antwortete die Haushälterin. Martin, der bisher geschwiegen hatte, bemerkte dass sich der Gesichtsausdruck des Ortsgruppenleiters jetzt um eine weitere Nuance verfinsterte. Er hatte die Lippen aufeinander gepresst und seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Was sollte das, fragte sich Martin. Wieso war der Name der Großeltern so wichtig? Eine Sekunde später erhielt er die Antwort. Matuchek war aufgesprungen und hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Dann beugte er sich über den Tisch, so dass sein Kopf nur noch einen halben Meter von Ursula Kleinow entfernt war. „Samuel und Maria Rosenbaum. Das klingt doch wohl sehr jüdisch oder etwa nicht?“ Das Wort jüdisch zischte er der völlig überraschten Frau entgegen. Sein Gesicht war hassverzerrt und Martin glaubte, dass Matuchek gleich auf die vor ihm sitzende Frau losgehen würde. Ursula Kleinow war bleich geworden. Ihre zarte schmale Gestalt schien unter jedem weiteren Wort ihres gegenüber kleiner und zerbrechlicher zu werden. „Du bist eine verdammte Judensau“, brüllte er. Der nackte Hass des Mannes schlug Ursula Kleinow mit voller Wucht entgegen und bevor Martin etwas dagegen unternehmen konnte, spuckte Matuchek der Haushälterin ins Gesicht. Ursula Kleinow saß kerzengrade auf ihrem Stuhl und war zu einer Salzsäule erstarrt. Der Speichel des Mannes lief an ihrer rechten Wange herunter. Sie blickte leer und ausdruckslos ins Leere. Martin war aufgesprungen und stellte sich schützend vor die alte Frau, so dass er zwischen ihr und dem tobenden Matuchek stand. „Herr Matuchek, was fällt ihnen ein?“, rief er und die Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Und du hältst besser deine adelige Klappe, bevor ich dich und deine ganze defätistische Sippe als Judenfreunde verhaften lasse.“ Martin schoss das Blut in den Kopf, so dass er dunkelrot anlief. Seine Knie zitterten nun vor Wut und er hatte sichtlich Mühe, sich zu bändigen, um diesem versoffenen Nichtsnutz nicht auf der Stelle die Visage einzuschlagen. „Was bedeutet die Erkenntnis, dass meine Großeltern dem jüdischen Glauben angehörten denn jetzt?“ Martin und Matuchek wandten sich fast gleichzeitig der alten Frau zu, die sich mit einem Taschentuch über das Gesicht wischte. Dann ging ein kurzer Ruck durch ihren kleinen gebrechlichen Körper. Sie blickte Matuschek mit furchtloser Verachtung an, der dadurch für einen Moment aus dem Konzept zu geraten schien. „Und für sie Herr Matuschek bin ich immer noch Frau Kleinow.“ Nach diesen Worten herrschte in dem kleinen Raum für einen Moment eine gespenstische Stille. Nur der rasselnde Atmen Matuschek unterbrach diese plötzliche Ruhe. Eine Sekunde später ließ der Mann sich mit einem Plumpsen auf seinen Stuhl zurückfallen und seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Ursula Kleinow legte ihre Hand auf den Oberschenkel Martins, der sich immer noch schützend zwischen ihr und dem Schreibtisch des Ortsgruppenleiters aufgebaut hatte. Sanft schob sie ihn zur Seite. Ihr kalter Blick und ihre offensichtliche Furchtlosigkeit schienen den uniformierten Mann zu irritieren. „Sie gelten nach den bestehenden Rassengesetzen des deutschen Reiches fortan als Halbjüdin“, murmelte er. Dann wandte er sich an Martin „Sie sollten ihrem Herrn Vater mitteilen, dass er durchaus Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn er weiterhin eine Jüdin bei sich beschäftigt.“ Ursula Kleinow war während dieser Worte aufgestanden und hatte sich der Tür zu gewandt. „Martin, bitte lass uns gehen. Guten Tag Herr Matuchek.“ Auf dem Heimweg schwieg die alte Frau. Martin, immer noch wie unter Schock, trottete stumm neben ihr her. Seine Blicke fielen auf die Dorfbewohner, an den sie vorbeigingen. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, dass man sie anstarrte, oder aber den direkten Blickkontakt mied, als sie sich nährten. Wieder zu Hause angekommen, suchte Martin nach seinem Vater, aber der war noch nicht wieder zurück. Verstört und aufgewühlt durch die jüngsten Ereignisse in dem Büro des Ortsgruppenleiters Matuchek, hallten die Worte des Mannes immer und immer wieder durch seinen Kopf. „Du bist eine Judensau“. Ursula Kleinow tat ihm leid und er schämte sich dafür, dass er sie nicht vehementer verteidigt hatte. In Deutschland erlebte der Antisemitismus seit der Machtergreifung der Nazis frischen Wind. Überall im Deutschen Reich wurden die Juden seit 1933 Schritt für Schritt aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt und ausgegrenzt.

Mit den Worten "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!", war am 1. April 1933 ein reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte durchgeführt worden. Das neugeschaffene "Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" des fränkischen Gauleiters Julius Streicher war für die Durchführung dieser perfiden Hetzkampagne verantwortlich gewesen. Seit Mitte der zwanziger Jahre weiteten die Nazis ihre antijüdischen Aktionen immer weiter aus und nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 begannen sie immer offener und rabiater gegen die Juden vorzugehen. Die durch die Nazis unterwanderte Polizei und Justiz griff nur noch sehr selten ein und registrierte die antijüdischen Ausschreitungen in der Regel tatenlos. Dieser staatlich geduldete und sogar geförderte Antisemitismus erschien vielen Deutschen suspekt und als nicht richtig. Paul Gerhard von Amsfeld war einer von diesen Deutschen. Die Familie von Amsfeld galt von jeher als weltoffen und ausgesprochen liberal. Antisemitismus war ihnen fremd und so ging der ehemalige DDP-Abgeordnete kurz nach der Machtergreifung der Nazis zu den neuen Herren auf Distanz.

Die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935 stellten den bisherigen Höhepunkt des staatlich verordneten Antisemitismus dar. Fortan wurde zwischen „Reichsbürgern“, die deutschen oder artverwandten Blutes sein mussten und jüdischen „Staatsangehörigen des Deutschen Reichs“ unterschieden, die im Gegensatz zu den erstgenannten über keinerlei bürgerlichen Rechte mehr verfügten. Als ein sogenannter „Volljude“ galt, wer von mindestens drei jüdischen Großeltern abstammte. zu „Halbjuden“ wurden jene Menschen, die von zwei jüdischen Großeltern abstammten.

Ursula Kleinow stieg die Treppen des Wohnhauses hinauf. Die alte Haushälterin hatte sich, gleich nach dem sie auf das Rittergut zurückgekehrt waren, in ihr kleines Zimmer zurückgezogen. Der Besuch im Büro des Ortsgruppenleiters Matuschek wirkte auch bei ihr immer noch nach. Sie hatte die grenzenlose Wut und den Hass dieses Mannes erlebt und auch das Entsetzen Martins war ihr nicht entgangen. Sie schloss die Augen und vor ihrem geistigen Auge setzten sich Stück für Stück längst vergessene Erinnerungen zu Bildern zusammen. Sie sah ihre Großmutter, die sie so sehr geliebt hatte, auf einem Schaukelstuhl sitzen, während ihr Großvater wie üblich an seinem Schreibtisch hockte und dabei war die Zeitung zu studieren. Ursula lächelte, als sie sich selbst zwischen den beiden alten Leuten auf dem Boden hocken sah. In der Hand hielt sie ihre Lieblingspuppe und als sie zu ihrer Großmutter aufsah, lächelte die alte Frau ihr freundlich zu. Dann verschwanden diese Erinnerungen und machten anderen Bildern platz.

Jetzt sah sie ihre Großeltern, die sich händehaltend auf eine Parkbank gesetzt hatten, um Ursula beim Spielen zu zuschauten. Plötzlich tauchten zwei junge Männer auf, die im Vorbeigehen über die beiden alten Menschen lachten und sie verspotteten. „Verdammtes Judenpack“, hatte einer der beiden gerufen. Diese Worte konnte Ursula bis heute nicht vergessen. Damals war sie sechs Jahre alt gewesen und hatte nicht einmal gewusst, was diese Worte eigentlich bedeuteten. Nur der traurige Blick ihrer Großeltern hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die jüdische Religion spielte damals in ihrem Elternhaus nie eine sonderlich große Bedeutung. Als ihre Großeltern ein paar Jahre später starben, sprach im Hause Kleinow kein Mensch mehr über die jüdischen Wurzeln der Familie ihrer Mutter.

Wie im aufgeklärten Pommern allgemein üblich waren die Kleinows im protestantischen Glauben erzogen worden und gehörten wie die meisten Bewohner Amsfelds der evangelischen Kirche an. Ursula seufzte und ließ sich erschöpft auf ihren Sessel fallen. Was sollte sie nun tun? Sie galt jetzt nach den deutschen Rassengesetzen als Halbjüdin und war damit praktisch rechtlos. Als noch schlimmer aber empfand sie die plötzliche Erkenntnis der Hilflosigkeit. Was konnte sie überhaupt noch tun? Ein Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihren Gedanken. „Herein“ Sie räusperte sich „Herein“ wiederholte sie etwas lauter. Die Tür öffnete sich und Paul Gerhard von Amsfeld betrat den Raum. Er blickte sich um, dann lächelte er. „Darf ich mich setzen?“ Die alte Frau sah ihren Arbeitgeber müde an und deutete dann auf einen der beiden alten Stühle. „Ich mache nur eine kurze Pause Herr von Amsfeld“, entschuldigte sie sich. „Sie werden heute den ganzen Tag lang Pause machen können, denn ich gebe ihnen für heute frei.“ Freiherr von Amsfeld schüttelte traurig mit dem Kopf. „Martin hat mir von ihrem Besuch bei diesem strohdummen Matuchek erzählt.“ Seine Stimme war eisig, wurde aber sofort wieder sanft und einfühlsam, als er weitersprach. „Machen sie sich bitte keine Sorgen über ihren weiteren Verbleib in unserem Haus. Sie gehören seit vielen Jahren praktisch zur Familie und niemand von uns wird diese Tatsache jemals vergessen.“ Paul Gerhard holte tief Luft, dann fuhr er fort. „Wir leben in schwierigen Zeiten. Deutschland ist in die Hände einer Verbrecherbande gefallen und sie können mir glauben, dass alles noch viel schlimmer werden wird. Die Nazis werden uns mit ihrer aggressiven Politik über kurz oder lang in einen Krieg führen, das steht für mich fest. Der antisemitische Rassenwahn dieser Herrschaften wird ebenfalls zu großem Leid führen. Dieser ganze Quatsch vom arischen, germanischen Menschen ist lächerlich und dumm!“ Ursula Kleinow blickte ihren Arbeitgeber traurig an. Dann erwiderte sie lächelnd mit leiser Stimme „Sie sind ein guter Mensch Herr von Amsfeld. Ich danke ihnen für die ehrlichen Worte, aber würde ich bleiben, bekämen sie und ihre Familie sicher Schwierigkeiten.“ „Da machen sie sich mal keine Sorgen.“ Beruhigte er sie, obwohl er selbst kaum beunruhigter hätte sein können. „Ich denke es wird das Beste sein, wenn ich für eine Weile zu meiner Schwester nach Österreich gehe. Sie hat ja diesen Polizeibeamten aus Wien geheiratet.“ „Ich bitte sie zu bleiben. Was sollen wir ohne sie denn machen?“ Der Gutsherr lächelte und blickte sie fast flehend an. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte sie und er bemerkte, dass für sie das Gespräch damit beendet war.

Martin von Amsfeld stellte das Fahrrad an die Mauer des kleinen Backsteingebäudes, das die örtliche Verwaltung des Dorfes beherbergte.

In seiner Hand hielt er den Einberufungsbescheid zum Reichsarbeitsdienst. Seit wenigen Monaten war dieser halbjährige Dienst für männliche Jugendliche im Alter von 18 bis 25 Jahre zur Pflicht geworden. Unter dem Motto „Mit Spaten und Ähre“ wurden die Jungen in Arbeitskolonnen eingesetzt, um neues Ackerland zu kultivieren, Deiche zu errichten oder Moore trockenzulegen. War der Arbeitsdienst zuerst nur dafür gedacht gewesen die Arbeitslosigkeit zu mindern, diente er jetzt hauptsächlich als eine nationalsozialistische Erziehungsmaßnahme und Vorausbildung für den sich anschließenden Wehrdienst. Als Martin wenige Minuten später wieder auf der schmalen, menschenleeren Dorfstraße stand, war er im Besitz einer ordnungsgemäß gestempelten Fahrkarte für eine Zugfahrt in der 3.Klasse zum Dienst im RAD-Reicharbeitsdienstlager 3/77 in Archsum auf der Insel Sylt. Sein Vater hatte wenig begeistert reagiert, als der Bescheid vor ein paar Tagen mit der Post ins Haus geflattert war. „Ich kenne einen Arzt in Rummelsburg, der könnte dich DU (Dienstunfähig) schreiben“, schlug er seinem Sohn vor, doch Martin winkte ab. „Nein Vater, das wäre nicht recht. Ich werde fahren und wie alle anderen dort meine Pflicht leisten. Außerdem war ich noch nie auf Sylt“. Sein Vater nickte stumm. Letztendlich hatte er von seinem Sohn nichts Anderes erwartet. Martin war ein guter Junge und eine ehrliche Haut. Manchmal zu ehrlich, dachte der Alte von Amsfeld. „Wann musst du einrücken?“ Helene hatte unbemerkt das Arbeitszimmer betreten und blickte ihren Sohn fragend an. „Schon nächste Woche“, erwiderte der. Seine Mutter ging geradewegs auf ihren Sohn zu und küsste ihm auf die Stirn. „Du wirst uns sehr fehlen“, flüsterte sie ihm leise zu. Martin blickte ein wenig verlegen zu Boden. „Ich bin ja nur für sechs Monate dort. Im Anschluss werden sie mich sowie so für zwei Jahre zum Wehrdienst einziehen“, sagte er. Seine Mutter strich ihm mit den Fingerspitzen zärtlich über die linke Wange. Sie war eine schöne Frau. Ihr volles blondes Haar wirkte durch eine perfekt gelegte Dauerwelle voluminös und elegant. „Wehrmacht!“, fauchte Paul Gerhard und in seiner Stimme lag die pure Verachtung. Helene nahm ihren Mann an die Hand und zog ihn mit sich in das Speisezimmer. „Kommt meine beiden Männer. Wir wollen doch Ursula nicht warten lassen.“

Zwei Tage bevor Martin zum RAD einrücken sollte, wurde Ursula Kleinow verhaftet. Wie so oft kamen die Beamten der Gestapo in den frühen Morgenstunden. Es war sechs Uhr, als es an der großen Haustür klopfte. Freiherr von Amsfeld, der gerade dabei war eine Kanne Kaffee vorzubereiten, murmelte verschlafen. „Ist ja gut“, und ging gähnend zu der schweren Eingangstür hinüber. Als er die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, drängten ihn sofort zwei Männer in langen Ledermänteln zur Seite. „Was erlauben sie sich?“, fuhr er die beiden Beamten an. Der größere der zwei Eindringlinge hielt dem überraschten Gutsherrn seine Gestapo-Marke unter die Nase. „Geheime Staatspolizei, sind sie Paul von Amsfeld?“ Der Angesprochene blickte in zwei Augen, die ihn kalt und freudlos musterten. „Ja, der bin ich und wer bitte sind sie?“. Der kleinere der beiden Gestapo-Beamten griff in seine Manteltasche und zog ein Stück Papier heraus. „Wir haben einen Haftbefehl zu vollstrecken. Wo finden wir die Jüdin Kleinow?“ Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Nach ein paar Sekunden hatte Paul Gerard den ersten Schreck überwunden und erwiderte ruhig „Was wird Frau Kleinow zur Last gelegt?“ Über das Gesicht des größeren der beiden Beamten huschte ein kurzes Lächeln. Ihn schien die Frage nach dem Grund für den Haftbefehl zu amüsieren. „Mehrere Zeugen bestätigen, dass die Jüdin Kleinow auf dem Wochenmarkt in Amsfeld staatsgefährdende Reden geschwungen hat. Dabei hat sie auch den Führer beleidigt, in dem sie ihn als…“, der Beamte blickte kurz auf das Stück Papier in seiner Hand. „..gefährlichen Demagogen bezeichnet hat“. Jetzt war es Paul Gerhard von Amsfeld, der zu Lächeln begonnen hatte. „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz meine Herren. Diese Frau ist siebzig Jahre alt und völlig unpolitisch. Es muss sich dabei um ein Missverständnis handeln“. „Nein. Es ist definitiv kein Missverständnis. Diese Jüdin hat antideutsche Propaganda gemacht und damit die öffentliche Ordnung auf das schwerste gefährdet.“ In diesem Moment öffnete sich hinter den drei Männer die Tür des kleinen Zimmers, in dem Ursula Kleinow wohnte. Die alte Haushälterin trat in den Flur. Sie war vollständig angekleidet. Offenbar hatte sie das Gespräch der Männer mit angehört „Ich wäre dann soweit“, sagte sie mit fester Stimme und trat in den Flur hinaus. Die beiden Beamten nahmen sie in die Mitte. „Aber Ursula, diese Vorwürfe sind doch ein Witz.“ Paul Gerhard war von der an den Tag gelegten Kooperationsbereitschaft seiner Haushälterin sichtlich überrascht. Die alte Frau lächelte. „Ach Herr von Amsfeld, das spielt doch gar keine Rolle mehr. Wir wissen doch beide, dass diese Herren keinerlei Begründung brauchen um mich mitzunehmen.“ Nach diesen Worten drehte sie sich um und zu dritt traten sie auf den menschenleeren Hof hinaus. Einer der Gestapo-Schergen hatte der zierlichen Frau derweil Handschellen angelegt und sie auf den Rücksitz des Mercedes Benz 170 bugsiert. Sekunden später war der Wagen bereits hinter den Stallgebäuden verschwunden.

Als Martin an diesem Morgen in das Arbeitszimmer seines Vaters trat, sah er den alten Mann gedankenverloren an seinem Schreibtisch sitzen. Er sieht müde aus, dachte Martin. Sein Vater war in den letzten Monaten sichtlich gealtert. Die einst schwarzen Haare waren grau und sein hageres Gesicht durchzogen tiefe Falten. Martin wusste, dass sich der Freiherr seit der Machtübernahme der Nazis verändert hatte. Der früher lebenslustige und stets gut gelaunte Mann wirkte in letzter Zeit zunehmend verschlossen. Er schien immer häufiger von einer tiefen Traurigkeit befallen zu sein. Seiner täglichen Arbeit ging er nur lustlos nach und immer häufiger wirkte er schon am Mittag erschöpft. An den Abenden zog sich Paul Gerhard von Amsfeld dann meist nach dem gemeinsamen Abendessen zurück. Martins Mutter missfiel der Zustand ihres Mannes, aber sie sah sich nicht in der Lage, ihre Situation zu ändern. „Guten Morgen Vater.“ Paul Gerhard hob kurz den Kopf und nickte ihm wortlos zu. Eine Träne rann ihm über die rechte unrasierte Wange. „Was ist passiert?“, fragte Martin. Eine unbestimmte Angst ergriff von ihm Besitz. Er hatte seinen Vater bis jetzt noch niemals weinen sehen. Was zum Teufel war hier los? Auf dem Schreibtisch entdeckte er die Pistole seines Vaters. Die Waffe befand sich seit seiner Militärzeit im Besitz des ehemaligen Rittmeisters. „Sie haben Ursula abgeholt“, flüsterte Paul Gerhard mit brüchiger Stimme. Martin fühlte, wie ihm die Beine den Dienst versagen wollten. Mit einem schnellen Schritt erreichte er das kleine Sofa neben dem Bücherregal und ließ sich mit einem Plumps hineinfallen. „Ich konnte nichts machen. Sie haben sie einfach mitgenommen.“ Wieder liefen ihm die Tränen über das Gesicht. „Warum?“, war alles, was Martin herausbrachte. „Sie soll den Führer beleidigt haben“. Die Traurigkeit in der Stimme seines Vaters hatte nun einer mühsam kontrollierten Wut platz gemacht. „Recht und Gesetz gibt es nicht mehr in diesem Deutschland. Wir werden von elenden Verbrechern regiert, die uns alle in den Abgrund stoßen werden.“ Die letzten Worte schrie er hinaus. Mit geballten Fäusten und hochgezogenen Schultern starrte er an Martin vorbei ins Leere. „Vater, beruhige dich doch“ Martin war sich nicht sicher, ob seine Worte den sichtlich aufgebrachten Mann überhaupt erreichten. „Ich soll mich beruhigen?“ Der Sarkasmus in der Stimme des Vaters war unüberhörbar. „Ursula gehörte zur Familie und hat in ihrem ganzen Leben nichts Unrechtes getan. Sie wurde verhaftet, weil ihre Großeltern Juden waren. Eine völlig unwichtige Tatsache, die sie weder zu verantworten hat noch irgendwie beeinflussen konnte. Dieser widerliche Rassenirrsinn der Nazis erklärt gute Menschen zu Verbrechern, die absolut nichts getan haben, außer jüdischer Abstammung zu sein. Das ist doch Wahnsinn!“ Nach diesen Worten sank der alte Mann erschöpft in seinem Stuhl zusammen. Martin erhob sich und griff nach der auf dem Tisch liegenden Pistole. „Ich werde die Waffe zurück in den Safe legen“, flüsterte er mit sanfter Stimme. Sein Vater schien ihn nicht mehr zu hören.

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Täterland

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