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Kein ganz normaler Tag

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Der Tag, an dem Sara Björn zum ersten Mal begegnete, war ein besonderer Tag. Nicht, weil es regnete, sondern weil an diesem Tag mehrere seltsame Dinge geschahen.

Als Sara morgens frühstücken wollte, rutschte das Schälchen mit Müsli und Orangensaft vom Tisch und zerbrach auf dem Boden.

»Scherben bringen Glück«, sagte ihre Mutter und ging pfeifend zum Schrank mit den Putzmitteln, um Kehrblech, Handfeger und einen Lappen zu holen. Das war bereits ungewöhnlich. Sonst schimpfte ihre Mutter, sobald etwas herunterfiel und den genau festgelegten Zeitplan durcheinander brachte.

Sprachlos stand Sara vor der dunkelgelben Pfütze, die sich vor ihr auf dem Küchenboden ausbreitete. Die Cornflakes sahen aus wie kleine Inseln in einem verseuchten Meer. Die Nüsse wirkten wie bedrohliche Hindernisse für die Rosinenschwimmer, von denen man nicht wusste, ob sie zum Vergnügen schwammen oder um sich in Sicherheit zu bringen.

»Sara!« Die Stimme ihrer Mutter klang freundlich und nicht zornig oder verärgert, eher besorgt.

Sara sah, wie ihre Mutter auf dem Boden den Müslimatsch mit einem Tuch auf das Kehrblech schob. Den Handfeger hatte sie beiseitegelegt. Er war für diesen Matsch wirklich nicht geeignet.

Matsch?, dachte sie und erinnerte sich an das Bild, das ihr vor wenigen Sekunden in den Sinn gekommen war. Sie suchte ihr Notizbuch. Kaum hatte sie es aufgeschlagen und den Stift aufs Blatt gesetzt, rief ihre Mutter erneut.

»Sara!« Der Ton in der Stimme war nun eindeutig sorgenvoll. »Was ist mit dir? Du musst in die Schule.«

Sara blickte sich um. Der Boden war blitzsauber, von dem verseuchten Meer war nichts mehr zu sehen. »Oh. Entschuldigung«, murmelte sie zerknirscht. »Ich hatte eine Idee, die ich schnell aufschreiben musste.«

Ihre Mutter lachte und strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus der Stirn. »Du und deine Geschichten«, sagte sie zärtlich.

Sara schmiegte ihren Kopf kurz an die Hand ihrer Mutter. Dann schüttelte sie sie ab. Dafür war sie wirklich langsam zu alt. Sie schlug das Notizbuch heftig zu und stand auf.

»Lass nur, ich räume heute den Tisch ab«, meinte ihre Mutter, als Sara die Tassen in die Spülmaschine stellen wollte.

Sara blieb mitten in der Küche stehen und betrachtete ihre Mutter genauer.

»Was ist mit dir, Mama?«, fragte sie. Ihre Mutter verhielt sich nicht nur anders, auch ihr Aussehen hatte sich geändert. Sie hatte Lidschatten aufgelegt und die Wangen wirkten, als hätte sie dort ungeschickt ein bisschen Rouge verteilt. Der Lippenstift schien kräftiger als sonst. Sara ging ganz nah auf ihre Mutter zu und sah ihr in die Augen. Sie hatte sich nicht vertan. Ihre Mutter, die sich seit Jahren weigerte, einen Kajalstift zu benutzen, hatte schwarz umrandete Augen.

»Was ist mit dir?«, wiederholte Sara ihre Frage.

Ihre Mutter wich ihrem Blick aus, indem sie sich suchend nach dem Tablett umsah. »Was sollte sein?«, nuschelte sie, während sie geräuschvoll die Frühstücksteller aufeinander stapelte und das Marmeladenglas mit Schwung auf das Tablett stellte.

»Du bist anders als sonst!«, stellte Sara fest. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie keine Zeit hatte, die Hintergründe der Veränderung zu erforschen, wenn sie nicht zu spät in die Schule kommen wollte. »Ich werde das schon noch herausbekommen«, sagte sie daher nur und erntete ein rätselhaftes Grinsen ihrer Mutter. Etwas war im Busch, da war sich Sara ganz sicher.

Während sie zur Schule radelte, dachte Sara darüber nach, warum ihre Mutter plötzlich so extrem gut drauf war.

Fast hätte sie über ihren Grübeleien die rote Ampel übersehen. Im letzten Moment konnte sie bremsen, dabei stieß ihr Vorderreifen an ein Auto und sie verlor das Gleichgewicht.

»Mist!«, schimpfte Sara, als sie sich von der Straße erhob und den Schmutz von ihrer hellen Jeans klopfte. »Wenn ich schon mal etwas Helles anziehe?«, knurrte sie.

»Was ist dann?«, erkundigte sich eine tiefe, warm klingende Männerstimme und Sara riss ihren Kopf hoch.

Neben der Fahrertür des Autos stand ein Mann. Er mochte etwas älter sein als ihre Mutter. Seine dunklen Haare waren sorgfältig kurz geschnitten. Die Augen konnte Sara hinter der Sonnenbrille nicht erkennen, aber die Sonnenbrille war der Hit. Sie wirkte cool und passte zu der legeren Kleidung des Mannes.

Ein Hupen hinter ihnen zeigte Sara, dass die Ampel inzwischen die Farbe gewechselt hatte und einige Autofahrer darauf warteten, dass sie endlich weiterfahren konnten.

»Hast du dir weh getan?«, fragte der Mann besorgt.

Sara bemerkte, dass sich schon zum zweiten Mal an diesem Tag jemand Sorgen um sie machte. Sie schüttelte den Kopf und betrachtete ihr Fahrrad. Zum Zeichen, dass alles in Ordnung war, stieg sie auf.

Der Mann setzte sich wieder hinter das Steuer und gab Gas.

Im letzten Moment speicherte Sara das Autokennzeichen. Auf dem restlichen Weg zur Schule wiederholte sie es, um es auf keinen Fall zu vergessen. Sie hatte keine Ahnung, was sie damit anfangen wollte. Sie stand nicht auf ältere Männer, sie hatte eigentlich gar keinen Kopf für Jungs. Sehr zum Ärger ihrer Freundin Laura, die jeden Typ zwischen 12 und 20 checkte, ob er als Freund für sie in Frage kam.

Außer Atem suchte Sara einen Platz für ihr Fahrrad in dem überfüllten Fahrradständer vor der Schule. Auf dem Schulhof war kein Schüler mehr zu sehen. Die Autoreihe auf dem Lehrerparkplatz war bis auf eine Lücke geschlossen. Leider stand das Auto ihrer Klassenlehrerin an seinem Platz.

Mit einem lauten Seufzer warf sie einen Blick auf die Uhr, die an einer silbernen Kette um ihren Hals hing. Ihre Mutter behauptete, diese Taschenuhr habe sie von Saras Vater bekommen. Der Großvater dagegen bestand darauf, dass er die Uhr vor Jahren auf dem Trödelmarkt erstanden hatte. Sobald Sara nach der Herkunft der Uhr fragte, entspann sich ein erbitterter Streit zwischen ihrer Mutter und deren Vater. Also hatte sie entschieden, nicht mehr zu fragen. Stattdessen hatte sie sich ausgemalt, wie ihr Vater ihrer Mutter die Uhr nach ihrer Geburt überreicht hatte.

Sara war sich sicher, dass ihr Vater gesagt hatte: »Bitte gib meiner geliebten Tochter diese Uhr an ihrem zehnten Geburtstag.« Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sich dabei eine Träne aus dem Auge gewischt hatte. Das war aber auch alles, was sie sich vorstellen konnte, wie ihr Vater aussah, wusste sie nicht. So oft sie ihre Mutter fragte, sprach diese nur davon, dass ihr Vater ein braunes und ein blaues Auge hatte.

Sara konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater je bei ihnen gelebt hatte. Warum, das wusste sie nicht. Als sie jünger war, hatte ihre Mutter ihr an jedem Geburtstag etwas Neues über den Vater erzählt. An ihrem sechsten Geburtstag behauptete sie, ihr Vater wäre Fußballer. Daraufhin hatte Sara begonnen, Fußball zu spielen. An ihrem achten Geburtstag erfuhr Sara, dass ihr Vater ein Spion war und deswegen nicht bei ihnen leben konnte. Seitdem beobachtete sie Menschen, um ein gute Spionin zu werden.

»Was machst du denn noch hier?«

Sara zuckte zusammen. Die Stimme, die sie aus ihren Gedanken holte, gehörte ihrem Mathelehrer. Ausgerechnet! Dem wollte sie am frühen Morgen am allerwenigsten begegnen. Sie sah den Lehrer an und zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich«, begann sie und suchte fieberhaft nach einer Entschuldigung, die der Mathelehrer gelten lassen würde.

»Mach, dass du in deine Klasse kommst«, forderte der Lehrer sie auf.

Sara rannte in die Schule. Am Eingang sah sie sich um. Der Lehrer ging zurück zu seinem Auto. Sie setzte sich auf die breite Fensterbank im Schulflur. Von hier aus konnte sie ihren Lehrer beobachten. Zum Unterricht würde sie ohnehin zu spät kommen, da kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht an.

Während Sara ihrem Mathelehrer zusah, wie er am Auto hantierte, tastete sie nach ihrem Notizbuch und dem Stift und schrieb.

Ich glaube, bei uns in der Stadt lebt ein Filmstar. Ich bin heute auf sein Auto gefahren. Er ist ausgestiegen und sah so cool aus. So sieht niemand aus, der hier lebt. Diese Sonnenbrille, hinter der er sich versteckt hat, damit man ihn nicht erkennt. Aber ich habe ihn erkannt. Na gut, ich weiß nicht, wie er heißt, aber das bekomme ich noch heraus. Sein Auto kenne ich. Es ist ein schwarzer Honda, ziemlich groß. Das Autokennzeichen ist: SB 3333. Damit werde ich herausfinden, wer er ist. Gerade ist mir Herr Schulze begegnet, eigentlich ist er ganz nett. Wenn er nur nicht Mathe unterrichten würde. Er kam zu spät, das ist mal klar. Ich wüsste gerne, ob er dienstags immer so spät kommt oder nur heute. Er war schon beim Fahrradständer, als ich ihn getroffen habe, dann ist er zurück zum Auto gegangen. Ein Ast hat sich in seiner Stoßstange verhakt. Herr Schulze hat den Ast in seinen Kofferraum getan. Was er wohl damit vorhat? »Hm!«, räusperte sich jemand neben Sara. Die Stimme kam Sara bekannt vor. Ihr Mathelehrer stand vor ihr und fragte in einem wenig freundlichen Ton: »Hast du keinen Unterricht?« Kurz dachte Sara daran, sich eine Geschichte auszudenken. Ihre Lehrerin könnte einen Unfall gehabt haben oder ein Kind bekommen. Diese Ausrede wäre nun wirklich dämlich, ihre Lehrerin wirkte überhaupt nicht schwanger. Da war es besser, den Lehrer abzulenken. »Ich habe gesehen, dass Sie den Ast in der Hand hatten«, begann sie und warf dem Lehrer einen jener treuherzigen Blicke zu, die bei ihrem Opa immer wirkten. »Was machen Sie damit?« Der Mathelehrer hatte anscheinend vergessen, dass sie in den Unterricht sollte und erzählte begeistert: »Ich sammle Asttiere. Der Ast sah aus wie ein Reh auf drei Beinen. Deshalb ich ihn in den Kofferraum getan, um ihn mir zu Hause genau anzuschauen.« Sara nickte. Sie sah einen Wald vor sich. Darin befand sich eine grüne Wiese, auf der Rehe standen und in Ruhe ästen. Eines der Rehe wackelte in Saras Gedanken leicht, als es sich mit dem Kopf nach vorne beugte, um von dem Gras zu fressen. Es hatte nur drei Beine und musste darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Sara?« Herr Müller stupste Sara leicht an der Schulter an. »Solltest du jetzt nicht besser in deine Klasse gehen.« Sie blickte ihren Lehrer überrascht an, dann erinnerte sie sich an den Ast und das dreibeinige Reh und stand hastig auf. »Danke!«, rief sie und lief die Treppen hinauf. Vor dem Klassenraum blieb Sara stehen. Ihre Klassenlehrerin würde sie nicht ohne Entschuldigung in den Unterricht lassen. Dennoch klopfte Sara, ihr würde schon etwas einfallen. »Ja!«, schallte es aus dem Inneren des Klassenzimmers. Jetzt durfte Sara die Tür öffnen. Wehe, sie hätte zuerst die Tür geöffnet und womöglich nicht angeklopft. Dann wäre ihr eine fette Strafarbeit sicher gewesen. Mit einer Woche Putzdienst hätte sie dann locker rechnen dürfen. Dass sie angeklopft und gewartet hatte, verschaffte ihre die Chance auf eine milde Strafe. »Wieso kommst du so spät?«, erkundigte sich die Lehrerin, nachdem sie Sara einige Sekunden hatte warten lassen. Erst als der Schüler, der gerade an der Tafel stand, seinen Beitrag beendet hatte, wandte sie sich Sara zu. Und da wusste Sara auf einmal, womit sie ihre Verspätung entschuldigen würde. »Bitte entschuldigen Sie«, begann sie ihre Erklärung, »auf dem Schulweg habe ich ein dreibeiniges Reh gefunden. Es war in einer gelben Pfütze ausgerutscht, die sah aus wie ein Matsch aus Müsli. Bestimmt ist jemand sein Frühstücksmüsli aus der Hand gerutscht. Da musste ich das Reh doch zum Tierarzt bringen.« Sara machte eine kurze Pause, während ihre Mitschüler in schallendes Gelächter ausbrachen. »Zum Glück«, fuhr Sara ungerührt fort. Sie ärgerte sich nur, dass sie ihr Smartphone nicht eingeschaltet hatte, um diese geniale Entschuldigung aufzunehmen. Damit hätte sie im Internet berühmt werden können. »Zum Glück stoppte ein Mann mit einer Sonnenbrille und kurzen schwarzen Haaren seinen schwarzen Honda. Er hat das Reh mitgenommen und mir versprochen, es zum Tierarzt zu bringen. Das Auto hatte übrigens das Kennzeichen SB 3333.« Erleichtert atmete die Lehrerin auf, als Sara endlich mit ihrer Erzählung fertig war. Sie winkte ihr, sich auf ihren Platz zu setzen und sagte dann: »Ruhe bitte. Wir machen weiter im Unterricht. Sara, du schreibst zur Strafe deine Entschuldigung auf!« Auch Sara war erleichtert, als sie sich neben ihre Freundin Laura fallen ließ. Diese Strafarbeit machte sie mit links. Schnell holte sie ihre Deutschsachen hervor, während Laura zischte: »Coole Entschuldigung! Was war denn wirklich?« Ehe Sara antworten konnte, rief die Lehrerin Lauras Namen und forderte sie auf, die verschiedenen Reimformen zu nennen. Sara lehnte sich zurück und ging ihre Entschuldigung in Ruhe noch einmal durch.

MS Sara

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