Читать книгу MS Sara - Birgit Ebbert - Страница 4
Björntag
ОглавлениеSara war froh, als sie nach der Schule zur Anlegestelle der MS Sara radeln konnte. Solange sie denken konnte, war das große weiße Schiff ihr zweites Zuhause. Als sie klein war, hatte sie in einem Kindersitz geschlafen und gesessen, der extra auf einer Bank montiert worden war. Vom ersten Schultag an hatte sie nach der Schule oder nach dem Fußballtraining an ihrem eigenen Tisch gesessen. Sie hatte auch ein eigenes Zimmer in einer richtigen Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter lebte, wenn diese nicht auf der MS Sara arbeitete. Zum Glück war das an den meisten Wochenenden. Die MS Sara gehörte ihrem Großvater. Das Schiff war ebenso wie Sara nach der Großmutter benannt.
Sara liebte das Schiff und genoss es, von ihrem Platz aus das Wasser, die Ufer und die Menschen zu beobachten. Ihr Großvater am Steuer ließ sie ebenso in Ruhe wie ihre Mutter, die hinter einem Tresen stand und Getränke, Eisbecher und kleine Snacks verkaufte.
»Guten Tag, Opa«, begrüßte Sara ihren Großvater, nachdem sie ihr Rad an einen Laternenpfahl geschlossen und das Schiff zusammen mit einigen Fahrgästen betreten hatte. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und nahm auf dem Weg zu ihrem Platz den Rucksack mit den Schulsachen und ihrem Laptop vom Rücken.
Nachdem Sara auf das Gymnasium gewechselt war, hatte ihre Mutter ihr erlaubt, fortan ihre Hausaufgaben zu Hause zu erledigen. Sie hatte es eine Woche vergeblich versucht, ihr fehlten das Stampfen des Motors und die Geräusche im Hintergrund. Vor allem gab es auf dem Schiff immer jemanden, der ihr helfen konnte.
Vergnügt betrat sie den Gastraum und blieb mitten im Gang zwischen den Tischen, die rechts und links an der Bordwand standen, wie angewurzelt stehen. »Ey!«, hörte sie hinter sich den empörten Ruf eines Fahrgastes, der fast in sie hinein gelaufen wäre.
Schnell sprang Sara zur Seite, um die Fahrgäste vorbei zu lassen. Ihr Blick hing ungläubig an ihrem Tisch. Dort hatte sich tatsächlich jemand hingesetzt. Das hatte es noch nie gegeben. Schon immer war das allein ihr Platz und ihre Mutter wachte sorgsam darüber, dort die Bank immer für sie frei war.
Sie konnte es nicht fassen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals einem Fremden erlaubt hatte, sich an ihren Tisch zu setzen. Und jetzt saß da ein Typ mit einem albernen Hut auf dem Kopf. Der Hut sah genauso aus wie der Hut, den ihr Großvater im Winter trug.
Sara holte tief Luft, sie schob die Schultern nach hinten und machte sich ganz gerade, ehe sie an den Tisch ging. Ihre Mutter war nicht zu sehen, also musste sie selbst tätig werden.
»Das hier ist mein Tisch!«, platzte ihre ganze Wut über diesen Frevel aus ihr heraus, als sie an den Tisch kam.
Im nächsten Augenblick bereute sie den Satz. In dem Moment nämlich, als sie das Gesicht des Hutträgers sah. Sara schätzte ihn auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. Seine Augen konnte sie nicht erkennen, weil der Typ eine Sonnenbrille trug. Sara schwankte in Gedanken, ob sie die Sonnenbrille albern und cool finden sollte. Sie spürte, dass ihr Zorn schmolz, je länger der Typ sie betrachtete. Obwohl sie keine Augen sah, nahm sie wahr, dass er sie intensiv anschaute. Er lächelte, als wollte er mit seinem Lächeln die Welt umarmen, zumindest aber Sara. Als er einige Sekunden später aufstand und meinte: »Entschuldigung, dann setze ich mich wohl besser woanders hin!«, war Sara bereits so in seinen Bann gezogen, dass sie sagte: »Ach bleiben Sie doch ruhig sitzen!«
Der Typ zögerte kurz. Dann ging er um die Lehne, die die Bank mit der vom Nachbartisch verband herum. Er setzte sich so an den Nachbartisch, dass er Sara im Blick hatte.
Verlegen und verärgert über sich selbst packte Sara ihre Tasche aus. Sie legte das Notizbuch an den Rand des Tisches und stellte ihr Notebook daneben. Als erstes wollte sie ihre Einträge abschreiben und im Computer sichern. Die Schulsachen warf sie achtlos auf die Bank. Ob sie damit den jungen Mann beeindrucken wollte, wusste sie selbst nicht genau.
Ihre Mutter war jedenfalls wenig beeindruckt, als sie am Tisch erschien. »Warum legst du die Schulsachen nicht wie sonst ordentlich auf den Tisch?«, fragte sie. »Hat es Ärger in der Schule gegeben?«
Sara spürte, obwohl sie nicht hinsah, dass nicht nur ihre Mutter, sondern auch der Hutträger auf ihre Antwort wartete.
»Alles ok«, murmelte sie. Gerade wollte sie fragen, warum ihre Mutter den Typ an ihren Tisch gelassen hatte, da ging ein Strahlen über das Gesicht ihrer Mutter. »Das ist übrigens Björn«, sagte sie in einer Stimme, die Sara an den letzten Liebesfilm erinnerte, den sie sich mit ihrer Freundin angesehen hatte. Ihre Mutter hatte sich doch nicht etwa in das Jüngelchen verliebt? Der Ton ihrer Stimme klang ganz danach. Wie peinlich! Sie sah ihre Mutter bereits Händchen haltend mit dem Hutträger, dessen Hut ebenso albern wirkte wie die Sonnenbrille, am Ufer entlang spazieren. Womöglich blieben sie noch stehen und knutschten.
Sara lief ein Schauer über den Rücken. Sie musste sich unbedingt mit ihrem Großvater beraten. Der hatte auf diesem Schiff schließlich das Sagen.
»Sara!« Manchmal hasste Sara ihren Namen. Er war so kurz, dass es ihrer Mutter und alle anderen Erwachsenen leichtfiel, ihn wie einen Befehl auszusprechen. Auch jetzt klang das »Sara!« ihrer Mutter nicht besorgt, sondern tadelnd. Alles wegen dieses Hutträgers.
»Björn macht ein Praktikum bei uns. Es dauert zwei Wochen«, drang langsam die Stimme ihrer Mutter an Saras Ohr und die Worte machten sich in ihrem Kopf breit.
Zwei Wochen würde dieser Opa-Imitator auf ihrem Schiff herumlaufen und womöglich an ihrem Tisch sitzen. Merkte ihr Großvater denn nicht, was hier lief?
Sara sah ihre Mutter an. Sie bemerkte wieder den Glanz in den Augen, der ihr schon am Morgen aufgefallen war. Außerdem wirkte das Haar, als hätte jemand es liebevoll verstrubbelt. Ihr Großvater war das bestimmt nicht.
»Hallo, Sara!«, mischte sich Björn in den Monolog ihrer Mutter.
Diese Stimme! Sara schmolz dahin, sie war so weich und tief, genauso mochte sie die Stimmen der Jungen. Aber in ihrem Alter hatten die Jungen oft hohe oder bestenfalls krächzende Stimmen vom Stimmbruch. Eine solche Stimme hatte niemand, den sie kannte.
»Hallo«, stammelte Sara, die nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Da traf sie endlich einen Jungen mit einer Traumstimme, dessen Lächeln dazu noch eine Umarmung war, und dann war es der neue Freund ihrer Mutter. Was sollte sie da sagen?
»Ich möchte später einmal mein Seemannspatent machen«, sagte Björn.
Sara war sich nicht sicher, was er vorher gesagt hatte.
»Deswegen wollte ich unbedingt das Schulpraktikum auf einem Schiff machen. Aber davon gibt es hier ja nicht so viele.« Der Typ lachte so glücklich bei dem, was er sagte, dass Sara ihre Mutter gut verstehen konnte. Aber warum musste sie sich jemanden aussuchen, der besser zu Sara passte?
Björn war höchstens halb so alt wie ihre Mutter. Sara konnte es nicht fassen. Da nahm Björn seine Brille ab, die doch eher cool als albern wirkte. In dem Augenblick wusste Sara, warum ihre Mutter sich Björn ausgesucht hatte. Sein rechtes Auge war braun und sein linkes Auge war blau.