Читать книгу Unter der Sonne Nigers - Birgit Read - Страница 10
Herbst 1955 – Niger
ОглавлениеLena saß abermals auf dem abenteuerlichen Eselsgefährt. Wie beim letzten Mal schmerzten sämtliche Knochen. Zwar hatte sie sich eine weiche Decke von zu Hause mitgenommen, doch die half nur wenig.
Die letzten Tage der Regenzeit waren angebrochen – ein besonderes Aroma lag über dem Land. Lena schloss die Augen und atmete den Duft der Savanne ein.
Sie freute sich auf das, was vor ihr lag. Ein halbes Jahr hatte sie in Deutschland verbracht und alles dafür vorbereitet, wieder nach Niger in das kleine Savannenkrankenhaus zurückzukehren. Diesmal wollte sie länger bleiben. Viel länger. Bis wann genau, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.
Ihre Eltern hatten dem Vorhaben zugestimmt, wenn auch widerstrebend. Seit ihrer Geburt hatten sie Geld für die Ausbildung ihrer Tochter zurückgelegt. Lena bat um dieses Geld und konnte damit ihr Vorhaben in die Tat umsetzen.
Sie näherten sich dem Krankenhaus, und Lena sah schon von Weitem Dr. Kammer im Eingang stehen und ihr zuwinken. Fröhlich und mit freudig klopfendem Herzen winkte sie zurück.
„Hallo, Doktor Kammer“, rief sie, sprang aus dem Karren und lief das letzte Stück zu Fuß. Stürmisch fiel sie ihrem Vorgesetzten um den Hals. „Wie geht es Ihnen? Was gibt es Neues? Wie viele Patienten sind hier? Gibt es neue Kollegen? Bekomme ich wieder die Hütte vom letzten Mal?“
„Willkommen zurück. Viele Fragen auf einmal. Mal sehen, ob ich die Reihenfolge einhalten kann. Mir geht es ausgezeichnet. Das Krankenhaus ist voll belegt – also gut, dass du wieder da bist. Zum Glück haben wir im Moment mit keinen komplizierten Krankheiten zu kämpfen – nur das Übliche, dafür aber reichlich. Es gibt zwei neue Freiwillige aus Spanien und ja – du kannst in deiner alten Hütte wohnen.“
„Danke, Doktor Kammer. Ich bin so froh, wieder hier zu sein.“
„Wir auch. Dich und deine gute Laune haben hier so einige vermisst. Jetzt solltest du erst mal deine Sachen in die Hütte bringen.“
Dr. Kammer freute sich, dass Lena wieder im Lande war. In den ersten drei Monaten des Aufenthalts war sie ihm ans Herz gewachsen, zudem war sie eine besondere Mitarbeiterin gewesen. Selten hatte er erlebt, dass die ansonsten eher skeptischen Stammesbewohner, die die regelmäßigen Sprechstunden in seinem Krankenhaus aufsuchten, oder auch die stationären Patienten so positiv auf eine weiße Krankenschwester reagiert hatten. Einige seiner Mitarbeiter hatten Jahre gebraucht, um das Vertrauen der Einheimischen zu erlangen, manche bekamen es nie. Lena hatte es mit ihrer empathischen Art auf Anhieb geschafft. Dazu kam, dass sie niemals mürrisch oder unlustig war. Immer hatte ein Lächeln ihre Lippen umspielt, keine Arbeit war ihr zuviel gewesen.
„Ach, Doktor Kammer, Sie wissen doch, dass ich es kaum erwarten kann. Ich möchte am liebsten jetzt gleich eine Stippvisite durch die Zimmer machen. Kenne ich vielleicht einige der Patienten? Womit fange ich an?“
Er gab es auf, sie dazu zu bewegen, sich zuerst um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. „Lass deine Koffer hier stehen. Owusu wird sie in deine Hütte bringen.“
Er bot ihr seinen Arm an, sie hakte sich unter, und gemeinsam schlenderten sie zum Krankenhaus.
„Stell dir vor, Akono ist hier. Er hatte einen Blinddarmdurchbruch, aber wir konnten ihn rechtzeitig operieren. Er hat schon nach dir gefragt.“
„Dann mal schnell dorthin. Ich möchte ihn begrüßen.“
Akono war ein zehnjähriger Junge, der bei ihrem ersten Aufenthalt vor einem halben Jahr mit seiner Mutter in die Sprechstunde von Dr. Kammer gekommen war. Er sollte geimpft werden und hatte so schreckliche Angst vor der Spritze, dass er aus dem Sprechzimmer weggelaufen war und sich versteckt hatte. Allein Lena hatte es nach Stunden geschafft, ihn aus seinem Versteck zu locken. Mit viel Geduld und einem Stoffesel hatte sie das schier Unmögliche geschafft. Akono ließ sich tapfer die Spritze geben, während Lena mit ihm ein Lied seines Stammes sang.
„Akono! Wie geht es dir?“, fragte sie in gebrochenem Fufulde.
„Gut, Schwester Lena. Der Doktor hat meine Schmerzen wegoperiert“, antwortete er und grinste von einem Ohr zum anderen.
„Das freut mich. Dann kannst du ja sicher bald wieder nach Hause zu deiner Familie.“
„Bleibst du jetzt für immer, Schwester Lena?“
„Nein, nicht für immer. Aber für eine lange Zeit.“
„Besuchst du mich später noch mal, ja?“
„Ich werde jeden Tag zu dir kommen, solange du noch hier bleiben musst.“
Ein breites Grinsen zog über sein Gesicht, und dabei ließ er eine Reihe blendend weißer Zähne aufblitzen.
Als sie alle Patienten besucht und alle Kollegen begrüßt hatte, begleitete Dr. Kammer sie zu ihrer Hütte.
„Du solltest dich jetzt ausruhen. Du hast eine anstrengende Reise hinter dir. Morgen beginnt dein Dienst. Ich möchte dich frisch und munter morgen früh um acht Uhr sehen. Schlaf gut.“
„Wird gemacht, Doktor Kammer. Ihnen auch eine gute Nacht“, antwortete sie und huschte in die Hütte.
Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte, ging sie zum Brunnen, holte eine Schüssel Wasser und wusch sich den Schweiß der Reise vom Körper. Dann kroch sie unter das Moskitonetz und legte sich auf das für hiesige Verhältnisse bequeme Bett. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, forderten die Strapazen der langen Reise ihren Tribut.
Am nächsten Morgen schlug Lena die Augen auf, bevor ihr Wecker ansprang. Vorsorglich legte sie den Hebel zwischen den großen Metallglocken um, damit nicht noch Kollegen von dem durchdringenden Schrillen geweckt wurden. Sie hatte tief und traumlos geschlafen. Motiviert bis in die Zehenspitzen schlüpfte sie aus dem Bett, wickelte sich in ein großes Duschtuch und machte sich auf den Weg zu der abenteuerlichen Dusche.
Im Krankenhaus wurde sie von einem jungen Arzt erwartet und sogleich in die kleine Personalküche geführt.
„Guten Morgen. Ich bin Tim Peeter. Assistent von Doktor Kammer. Willkommen. Ich habe Anweisung, darauf zu achten, dass sie ein ordentliches Frühstück zu sich nehmen.“
„Der gute Doktor Kammer, immer um das Wohl seiner Schäfchen besorgt. Guten Morgen, Doktor Peeter. Ich bin Lena. Aber das wissen Sie ja sicher schon. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits. Von mir aus können wir uns duzen.“
„Wenn der Chef nichts dagegen hat.“
„Was sollte er dagegen haben?“
„Fragen Sie ihn nach Britta und Björn.“
„Ach, diese Geschichte. Ich glaube, die hat hier jeder schon mal zur allgemeinen Abschreckung gehört. Bei den beiden ging es ja wohl um etwas ganz anderes. Ich glaube nicht, dass Doktor Kammer etwas dagegen hat, dass wir uns duzen.“
„Klar, es war etwas anderes, aber Britta war meine Freundin, ich konnte sie nicht davon abhalten, mit Björn ... na ja – du weißt schon. Ich habe nichts dagegen, dass wir uns duzen, Tim.“
Lena fühlte sich in dem kleinen Savannenkrankenhaus sofort wieder zu Hause. Als wäre sie niemals weggewesen.
Das erste halbe Jahr zog ins Land. Der Jahresanfang war heiß und trocken gewesen und es kündigten sich die ersten Zeichen einer lang anhaltenden Dürre an.