Читать книгу Unter der Sonne Nigers - Birgit Read - Страница 6
Prolog
ОглавлениеFebruar 1956 – im Nordosten von Niger
Der Tag neigte sich dem Ende zu. Über der Savannenlandschaft wehte ein leichter Wind. Umoya, ein junger Krieger der Kioi, hockte auf einem Felsbrocken und beobachtete den Horizont.
Als der zwanzigste Sommer nach seiner Geburt begann, war die Ausbildung, die ihn befähigte, eine Familie zu versorgen, abgeschlossen. Nun wartete nur noch eine letzte Aufgabe auf ihn.
Es war der fünfte Tag seiner Reise. Umoya bereitete sich auf das abendliche Ritual vor, mit dem er der Natur seine Demut bekunden wollte. Er breitete das Schultertuch, mit dem er tagsüber seinen Kopf vor der sengenden Sonne schützte, auf der Erde aus, und sank auf die Knie. Er tat einige tiefe Atemzüge, schloss die Augen und breitete die Arme aus. So dankte er der Natur für ihre Gaben, die ihn, sein Volk und seine Familie am Leben erhielten, und bat um Hilfe bei der Erfüllung seiner Aufgabe.
Morgen würde er sein Ziel erreichen, die Flussmündung des noguni palai, was so viel wie fließendes Wasser bedeutete. Hier sollte er ein befruchtetes Krokodilei stehlen und es zum Dorf seines Stamms bringen. Erst wenn er diese Aufgabe, die ihn endgültig zum Mann machte, gemeistert hatte, durfte er heiraten und eine Familie gründen.
In seinem Dorf wartete Afeni, seine Braut, auf ihn. Kurz nach ihrer Geburt war sie ihm versprochen worden. Erst einmal hatte er sie aus einiger Entfernung gesehen, als seine Familie vor zwei Jahren ihr Dorf besucht hatte. Sie hatte breite Hüften und große Brüste. Gut, um Kinder zu gebären und sie zu nähren. Darauf kam es an. Sein Vater hatte ihm erklärt, was er tun musste, um Kinder zu zeugen. Daran, dass sein Glied des Öfteren steif wurde, hatte sich Umoya gewöhnt. Auch wie er sich Erleichterung verschaffen konnte, wusste er. Wie es mit einer Frau sein würde, das konnte er sich nicht vorstellen.
Afenis Vater hatte seine Tochter in Umoyas Dorf gebracht, als der sich auf den Weg zur Prüfung machte. Niemand zweifelte daran, dass er erfolgreich zurückkehren würde. Das ganze Dorf würde sich während seiner Abwesenheit mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigen.
Umoya gehörte zum Stamm der Kioi, der sich aus acht Dörfern zusammensetzte. In jedem Dorf lebten zwei bis drei Großfamilien. Je mehr Kinder zu einer Familie gehörten, desto angesehener war sie. Geheiratet wurde nur innerhalb des Stamms, und die Kinder wurden direkt nach der Geburt einander versprochen. Die Versammlung der Weisen, die die Ehen genehmigen musste, achtete darauf, dass Mann und Frau nicht zu nah verwandt waren. Nach der Hochzeit blieben die Männer im Dorf. Verheiratete Frauen zogen in das Dorf ihrer Männer.
Umoya freute sich darauf, eine Familie zu gründen. Sein Vater hatte es auf neun Jungen und sieben Mädchen mit zwei Ehefrauen gebracht. Umoya war der Letztgeborene und als Einziger noch unverheiratet.
Sein Name bedeutete Wind und stammte aus der Sprache der Zulu. Man gab ihm diesen Namen, weil er sich den Weg in die Welt schnell wie der Wind gebahnt hatte. Seine Mutter hatte ihn am Fluss während des Wäschewaschens geboren, und seine Tante Zuri hatte ihn aus seiner Mutter herausgezogen und ihn in Tücher gewickelt. Mit seiner geschwächten Mutter auf dem Rücken und ihm in einem Tuch an ihren Körper gebunden, hatte Zuri sie beide nach Hause getragen.
Er beendete sein Ritual und bereite sich auf die Nacht vor. Morgen würde er das Ufer des noguni palai erreichen. Dann kam es darauf an, ob er das, was sein Vater und seine Brüder ihm über das Anschleichen an gefährliche Tiere und die Anzeichen für Gefahren beigebracht hatten, verinnerlicht hatte. Doch zunächst konzentrierte er sich darauf, einen geeigneten Schlafplatz zu finden. Die Dunkelheit kam schnell.
Als der Morgen graute, die Sonne über den Rand des Horizonts lugte und das dumpfe Gebrüll eines Löwen über die Savanne schallte, machte sich Umoya auf die letzten Kilometer seiner langen Reise. Noch war es angenehm kühl. Die letzten Tage war es tagsüber ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit gewesen. Gegen Mittag erreichte er sein Ziel. Seine Aufgabe erfüllte er mit Leichtigkeit. Ein Krokodilnest war schnell gefunden. Es lag gut erreichbar am Ufer. Bald schon verließ die Mutter das Nest, um im trüben Wasser des noguni palai nach Nahrung zu suchen. Diese Gelegenheit nutzte er und stahl eines der zahlreichen Eier aus dem Hügelnest. Schnell wie der Wind war er aus der Gefahrenzone verschwunden und machte damit seinem Namen alle Ehre. Mit der Beute in seinem ledernen Sack machte er sich auf den Heimweg.
Am dritten Tag seiner Heimreise war er einen Augenblick unvorsichtig und wurde von einer Schlange gebissen. Eine kurze Strecke schleppte er sich durch die Savanne, bis er vor Schmerzen halb wahnsinnig unter einer Akazie zusammenbrach und das Bewusstsein verlor.
Die Götter waren ihm gnädig. Der Jeep eines Savannenkrankenhauses war auf dem Rückweg von einer Besorgungstour. Ein einheimischer Nigrer auf dem Beifahrersitz entdeckte ihn, und sie nahmen ihn mit ins Krankenhaus.
Als Umoya die Augen aufschlug, sah er smaragdgrüne Augen über sich, in denen Freudentränen glitzerten.