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Juni 2010 – Starnberger See
ОглавлениеSarah von Malsheim saß auf der Eingangstreppe des jahrhundertealten Anwesens ihrer Familie am Starnberger See und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Neben ihr blühten Rosenstöcke und verbreiteten ihren Duft. Die lange Auffahrt zum Haus säumten Hibiskus Sträucher, die gerade ihre volle Blütenpracht in den verschiedensten Farben entfalteten. Zwischen den Blättern der mächtigen Eichen, die das Ende des Gartens begrenzten, glitzerte der Starnberger See.
„Ist diese Aussicht nicht wundervoll?“, fragte Sarah ihre Freundin Damina, die neben ihr saß.
„O ja ... das ist sie“, seufzte sie. „Ist dir eigentlich klar, welch ein Glück du hast, dass du hier aufwachsen durftest? Und dass du hier leben kannst, so lange du möchtest?“
„Hey, wieso so schwermütig? Was ist los mit dir?“ Sarah sah ihre Freundin fragend an.
„Ach, nichts. Mir wird nur gerade klar, wie bescheiden mein eigenes Leben ist.“
„Im Gegensatz zu mir kannst du deinen Kindern erzählen, dass du dir alles, was du erreicht hast, allein erarbeitet hast.“
Damina lächelte gequält. Sie finanzierte sich das Studium als Kellnerin in einer Bar und putzte in einem Fitnessstudio. Sarah brauchte über Geld nicht nachzudenken. Sie war in eine wohlhabende Adelsfamilie hineingeboren worden, in der man sich über Geld kaum Gedanken machte. Höchstens, wie man es am gewinnbringendsten vermehren konnte. Sie konnte sich ganz auf das Medizinstudium konzentrieren, während sich Damina zusätzlich zum Studium darum kümmern musste, dass ihr Kühlschrank nicht leer blieb.
Heiko von Lohen, den Sarah wie wahnsinnig liebte, hatte ihr gestern einen Heiratsantrag gemacht. Gleichzeitig weinend und lachend hatte sie ja gesagt. Ihr Leben verlief gerade außergewöhnlich gut, während Damina weder einen Freund noch Aussicht auf eine baldige Hochzeit hatte.
„Ich muss jetzt leider.“ Damina erhob sich und streckte die Arme nach Sarah aus. „Lass dich mal drücken. Mein Bruder hat eine Verabredung, und ich muss mich um Mutter kümmern. Du weißt ja, sie hat sich vor drei Wochen ein Bein gebrochen, und ich kümmere mich seitdem abwechselnd mit ihm um sie.“
„Ich möchte, dass du meine Trauzeugin wirst“, sagte Sarah unvermittelt. „Sag ja ...!“
„Äh – was? Ich? Das – das geht nicht. Ich habe nichts zum Anziehen ...“, stammelte sie.
„Ich heirate doch noch nicht morgen. Bis dahin haben wir dir was Schönes besorgt. Mach dir keine Gedanken. Sag mir nur, ob du möchtest.“
„Na klar möchte ich, ich ...“, schluchzte Damina und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Hör auf, sonst muss ich noch mitheulen.“
„Ich freu mich so für dich. Heiko und du, ihr passt perfekt zusammen. Ihr seid ein Traumpaar.“
„Ja, das sind wir wohl. Ich liebe ihn über alles.“ Verträumt umfasste Sarah an die antike Schmuckspange, die ihr Kleid zierte.
„Jetzt muss ich aber wirklich los“, sagte Damina mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir telefonieren!“
„Ciao, ich rufe dich an.“
Mit ihrem roten Ford Fiesta, der vor lauter Rost fast auseinanderfiel, fuhr Damina röhrend dem Ausgangstor zu. Sarah sah ihr hinterher, bis die Klapperkiste um die Ecke entschwunden war, drehte sich auf dem Fußballen um und lief die Treppe zur Veranda hinauf.
„Oma!“, rief sie in der Eingangshalle. Alles blieb still. Kein Wunder. Seit einiger Zeit hörte ihre Oma schlechter. „Omama ...“, rief sie lauter. Dabei zog sie den ersten Buchstaben in die Länge.
„Hat mich jemand gerufen?“, ertönte die klare Stimme ihrer Oma Lena, die im letzten Monat ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
„Ja, Oma, ich habe dich gerufen. Ich muss dringend mit dir reden.“ Sie blieb vor der Treppe stehen und sah hinauf. Die Hände auf das Geländer der Galerie gestützt, sah Lena Rosenheim amüsiert auf ihre Enkelin herab.
„Was kann ich für dich tun?“
Nur jede zweite Stufe nehmend, hüpfte Sarah die Treppe hinauf und zog Lena auf eines der Biedermeiersofas, die im ganzen Haus zu finden waren und dazu dienten, dass die ältere Generation der Familie zwischen den Gängen von Zimmer zu Zimmer Pausen einlegen konnten.
„Komm, setz dich. Ich muss mit dir reden! Seit Heiko mir den Heiratsantrag gemacht hat, habe ich Unmengen Gedanken in meinem Kopf. Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Ich brauche deine Hilfe!“
Lena lächelte verständnisvoll. „Denkst du über die Verlobungsfeier nach? Oder schon über die Hochzeit?“
„Über alles. Und das auch noch gleichzeitig. Mir schwirrt der Kopf.“
„Das ist normal. Heiko hat dich erst gestern gefragt, ob du ihn heiraten willst. Schlaf ein paar Nächte drüber und lass dir noch was Zeit, sagen wir – zwei Wochen. Danach setzen wir uns zusammen und überlegen, was zu tun ist. Einverstanden?“
„Einverstanden. Oma – du bist die Beste!“ Stürmisch umarmte sie Lena.
„Schmeiß deine alte Oma nicht um“, sagte sie und verzog ihr Gesicht zu dem typischen Lena-Lächeln, das Sarah so an ihr liebte.
Ihre Oma war für Sarah etwas Besonderes. Es gab nichts, worüber sie nicht mit ihr reden konnte.
Ein sonores „Halloho! Jemand da?“, erklang.
„Heiko!“, schrie Sarah spitz, sodass sich Lena trotz ihrer beginnenden Schwerhörigkeit die Ohren zuhielt. Sarah sauste mit graziösen Sprüngen die Treppe hinunter und schmiss sich in die Arme ihres Bräutigams. Der fing sie auf und wirbelte sie herum. Dann nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küsste sie.
„Ich liebe dich“, flüsterte er ihr ins Ohr, als sich ihre Lippen voneinander lösten.
„Ich dich auch. Wie wahnsinnig liebe ich dich.“
Die Familienkonstellation der Rosenheims war ungewöhnlich für eine Familie, die Wert auf Tradition und standesgemäße Verbindungen legte. Als ältestes lebendes Mitglied der Familiendynastie hatte Ingmar Rosenheim vor einigen Monaten seinen siebenundneuzigsten Geburtstag gefeiert. Körperlich mittlerweile stark angeschlagen, funktionierte sein Gehirn trotz seines hohen Alters noch tadellos. Das letzte Wort bei allen wichtigen Entscheidungen hatte nach wie vor er.
Als sein Sohn Karl eines Tages vor vielen Jahren vor ihm gestanden hatte und eine junge Frau namens Lena heiraten wollte, hatte er dieses Ansinnen entschieden abgelehnt.
Nicht nur, dass Lena einem bürgerlichen Elternhaus entstammte, was für ihn Grund genug war, dass sie in seiner Familie nichts zu suchen hatte. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch ein verwaistes Negerkind im Schlepptau. Die Reaktionen der gehobenen Gesellschaft hierauf hatte er sich nur zu gut vorstellen können.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen, mein Junge!“, hatte er getobt. „Eine Bürgerliche! Mit einem Negerkind! Ich kann nicht glauben, dass du die Frage ernst gemeint hast!“
„Ich liebe diese Frau. Mehr als mein Leben. Sie ist Ärztin – hat dem kleinen Mädchen aus Afrika das Leben gerettet ..., und ich liebe sie beide. Wenn du mich dafür aus der Familie verstößt, werde ich das in Kauf nehmen.“
„Du bist nicht Herr deiner Sinne!“, hatte Ingmar wütend gebrüllt. „Werde erst mal klar im Kopf. Hast du eine Ahnung, was du unserer Familie damit antun würdest? Herzog von Stubbenhardt hat verlauten lassen, dass er seine Tochter gern in unsere Familie einheiraten möchte. Er will dich als seinen Schwiegersohn! Das wäre die ideale Verbindung. Ich habe ihm bereits meine Zustimmung signalisiert. Jetzt kommst du und willst diese – diese Person heiraten!“
Karl war bei dem Gebrüll seines Vaters äußerlich ruhig geblieben. Er hatte erklärt, dass Lenas Familie in ihrem Stammbaum vor Generationen eine angesehene, aber verarmte Großgrundbesitzerfamilie aufweisen konnte.
„Außerdem: Lena ist schwanger.“
Diese Nachricht hatte Ingmar erblassen lassen. „Du hast diese Frau geschwängert?“, hatte er gefährlich leise gefragt. „Du hast wirklich die verdammte Dummheit begangen und dir ein Kind von ihr anhängen lassen?“ Verständnislos hatte er den Kopf geschüttelt.
Noch schlimmer als eine unstandesgemäße Heirat wäre für die Familie ein Bastardkind. Die Mütter von solchen Kindern wollten früher oder später Geld oder wandten sich an die Öffentlichkeit, um über sie Zugang zur Prominenz zu erhalten. Dieser Skandal, dass sein Sohn einen Bankert gezeugt hatte! Ingmar war es bei diesem Gedanken übel geworden.
„Präsentiere mir den Stammbaum der Familie“, hatte er Karl angewiesen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Karl gewusst, dass er gewonnen hatte. Lena und er hatten kurz darauf geheiratet. Ihre Tochter Aline kam ehelich zur Welt und wurde der Öffentlichkeit als Frühgeburt präsentiert.
Sie adoptierten Elani, das Waisenkind aus Afrika. Ingmar hatte diese Tatsache der vornehmen Gesellschaft als großmütige Maßnahme der Rosenheims präsentiert und damit die Familienehre gerettet.
Elani trug seit der Adoption den Familiennamen Rosenheim und entwickelte sich mit den Jahren zu einer schönen und intelligenten Frau. Wie ihre Mutter Lena gab Elani wenig auf das, was die Familie von ihr erwartete. Für sie zählte das Glück der Menschen, die sie umgaben.
Aline hingegen hatte nicht viel von Lenas Charakterzügen geerbt. Sie war geprägt von einem Standesdünkel und unterschied, wie Großvater Ingmar, zwischen dem Adel, zu dem sie gehörten, und dem Rest der Menschheit.
Sarah studierte Medizin. Ihr Ziel: Sie wollte Chirurgin werden – wie ihre Oma Lena, die heute noch hohes Ansehen in Fachkreisen genoss. Oft lauschte Sarah gebannt den Geschichten, die Lena ihr bisweilen erzählte.
Wie ihre Oma wollte auch sie eine Zeit in einem Krisen- oder Katastrophenland arbeiten. Menschen helfen, die sich keinen Arzt leisten konnten. Wenn Lena von der Zeit in Afrika erzählte, in der sie den Ärmsten der Armen geholfen hatte, begannen ihre Augen zu glänzen, und es schien, als ob sie in diesen Momenten wieder in dem kleinen Savannenkrankenhaus war.
„Vermisst du deinen Beruf?“, fragte Sarah eines Tages.
„Manchmal schon. Es hat freilich auch sein Schönes, das Leben ohne Pflichten genießen zu können“, antwortete Lena.
„Wenn ich fertig bin mit dem Studium, möchte ich ein paar Monate bei den Ärzten ohne Grenzen arbeiten.“
Über Lenas Gesicht huschte ein Schatten. „Überleg dir das gut! Es klingt einfacher, als es ist. Man sieht viel Elend. Menschen sterben unter deinen Händen, weil du nicht die Mittel zur Verfügung hast, die dringend notwendig wären. Besonders schlimm ist es, wenn du Kindern und Säuglingen nicht helfen kannst. Bist du dir sicher, dass du das aushalten kannst?“ Liebevoll streichelte sie über das lockige Haar ihrer Enkelin.
„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen und womöglich einem verlorenen Traum hinterhertrauern. Ich möchte es auf jeden Fall probieren.“
„Das ist eine gute Einstellung. Du musst mir eins versprechen: Sei ehrlich zu dir selbst. Wenn du spürst, dass du es nicht schaffst, dass du über das erträgliche Maß gehen müsstest, dann höre sofort damit auf. Niemand wird dich dafür verurteilen. Alles andere würde dir den Spaß an deinem Beruf verleiden. Versprichst du mir das?“
Sarah schaute ihre Oma nachdenklich an. „Klingt, als ob du wüsstest, wovon du redest.“
„Aber natürlich weiß ich das! Ich war fast vierzig Jahre in Abständen für ein paar Monate in Afrika im Einsatz. Ich habe viele Mediziner und Sanitäter aufgeben sehen ...“ Lena sog hörbar Luft ein. „Einige viel zu spät.“
„Ich verspreche dir, dass ich mich nicht überfordern werde.“
„Das beruhigt mich. Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass ich das erste Mal in Niger war, als ich noch gar keine Ärztin war?“
„Nein, hast du nicht. Jetzt bin ich aber neugierig. Du hast immer nur von deiner Zeit als Ärztin erzählt.“
„Ich war noch sehr jung, und zu dieser Zeit war es alles andere als normal, dass junge Frauen solch einen Weg einschlagen konnten. Schon als kleines Mädchen habe ich davon geträumt, Menschen zu helfen. Afrika, und konkret die Republik Niger, wurde in der Schulzeit mein Ziel. Ich hatte das große Glück, dass ich Eltern hatte, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben.“
„Du machst mich immer neugieriger, Oma. Magst du mir davon erzählen? Ich habe Zeit.“
„Lass uns ein wenig durch den Garten spazieren. Ich brauche Bewegung, und außerdem redet es sich dabei besser. Das lange Sitzen bekommt mir nicht“, erklärte sie. Für ihr Alter war sie erstaunlich rüstig und geistig vollkommen auf der Höhe.
„Okay. Dann komm. Ich bin schon ganz gespannt.“
Lena schwieg die ersten Schritte über. Sie musste sich sammeln. Dass ihr es schwerfiel, über die Zeit zu sprechen, die sie weit weg von zu Hause in dem Savannenkrankenhaus verbracht hatte, sollte Sarah nicht merken. Sie tat einen langen Atemzug und begann zu erzählen, wie sie das erste Mal in dem behelfsmäßig ausgerüsteten Krankenhaus inmitten der afrikanischen Savanne die ersten Erfahrungen gesammelt hatte. Wie ein Film lief alles noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab.