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Offenbarung in Stuttgart

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Der Schleier, der eure Augen umwölkt,

wird gehoben werden von den Händen, die ihn webten.

KHALIL GIBRAN

Bevor wir in Stuttgart in die zweite Runde der Begegnung gingen, hatte mein Haar wieder etwas Zeit zu wachsen. Ich war total überzeugt von meinem neuen Ich, das ich im geschützten Raum meiner Wohnung meist unversteckt präsentierte, wo es immer mehr und immer besser zur Entfaltung gelangte. Als Stuttgart näherrückte, wuchs meine Anspannung wieder. Ich musste es nun schaffen, mein Perückengeheimnis zu lüften. Mindestens genauso wichtig war natürlich ein Downgrading meiner Garderobe. Wenn schon die Gefahr bestand, dass ich an meinem Perückenthema verkantete, wollte ich wenigstens lässig-locker gekleidet sein.

In Jeans mit modischen ‚Designer-Löchern‘, Lederjacke, T-Shirt befand ich mich schließlich auf dem Weg zum zweiten Date. Und während ich optisch wahrscheinlich total lässig daherkam, schob ich innerlich den absoluten Film.

Ich saß im Zug und merkte, wie ich total neben mir war. Wie sollte ich es ihm denn überhaupt sagen? Was hatte ich da bloß angefangen! Alles schön und gut, mit meiner ‚Reise zum Ich‘, aber wieso musste ich unbedingt jetzt die Liebe meines Lebens treffen, während ich mit dieser dämlichen Perücke rumlief, unter der das graue Grauen wuchs? Das Teufelchen in mir war aus meinem Kopf herausgeklettert und hatte sich auf meiner Schulter niedergelassen. Hämisch drang sein Flüstern in mein Ohr: Er wird schockiert sein ... ne olle graue Schabracke ... die will doch keiner ... das war ja wohl nix ... vergiss es, Birgit, er wird an seine Oma denken und sich totlachen ... ja, du warst mal attraktiv, aber in Wahrheit bist du es nicht mehr! Birgit, vergiss es ... dein Zug ist abgefahren. Dieses böse Flüstern schwoll in meinem Kopf an und wurde lauter. Ich hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen. Ja, es war wohl so, ich war auf dem Weg in meine peinlichste persönliche Katastrophe. Doch der Zug rollte. Und ich war an Bord. Da musste ich wohl durch und Aufgeben war für mich sowieso im Leben noch nie eine Option. Und was immer auch geschah: Ich war doch nicht unglücklich all die Jahre in meinem Single-Leben. Ich würde es auch weiterhin nicht sein.

Als wir dann zusammenhockten beim Stuttgarter Rendezvous in einem Café, war ich sogleich wieder hin und weg. Diese Leichtigkeit, in die wir eintauchten vom ersten Moment des Zusammenseins, kam mir so unwirklich vor. Wie konnte man mit 59 Jahren noch einmal so verliebt sein? Es war fast wie im Märchen.

Und nun war es mein Job, aus diesem Märchen einen Alptraum zu machen. Ich musste es jetzt sagen. Jetzt.

„Frank, hör mal, ich muss dir was sagen ...“

Frank setzte irritiert seine Kaffeetasse wieder ab, aus der er gerade hatte trinken wollen. Er schaute mich fragend an.

„Ich muss dir was gestehen – ich bin nicht die, für die du mich hältst.“

Seine Augen wurden größer. Dann musterte er mich genau und grübelte. Was stimmt nicht mit ihr? Was verheimlicht sie mir? Ist sie bi? Oder verheiratet? Oder gar keine Frau? ...

Seine Fantasie erschuf die wildesten Filme, schnell stoppte ich es, behielt die Perücke zwar auf dem Kopf, aber lüftete mein Geheimnis. Ich richtete meinen Zeigefinger auf meine Haare.

„Die sind nicht echt. Ich trage eine Perücke, da drunter bin ich ... grau.“

Jetzt war es raus. Ich hatte eine Riesenangst, dass er sauer war, aufstand und ging. Doch saß er nur da – natürlich schon irritiert – und wartete, was noch kam.

„Ich würde dir das jetzt am liebsten zeigen, aber ich darf es noch niemandem sagen, das ist absolut geheim“, erklärte ich und erzählte ihm die ganze Story rund um die bevorstehende Enthüllung. Er schwieg, hörte mir zu, sah mich an. Und ich redete und redete.

„Ich kann dir ein Foto zeigen, das ich zu Hause ohne die Perücke gemacht hab. Es sieht wirklich gut aus. Es steht mir. Ich zeig es dir, ja?“

Er sagte immer noch nichts.

„Willst du es sehen, das Foto?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, ich will es nicht sehen.“

Ich schluckte. Doch dann fuhr er fort:

„Ich will es in natura sehen bei unserem nächsten Treffen. So wie du strahlst, kann es nur gut aussehen.“

Ich war platt. Das wird schon gut aussehen, hatte er gesagt. Dabei konnte er es am Ende ja auch ganz schrecklich finden. Denn natürlich liefen ihm nach meinem Geständnis bis zu unserem Wiedersehen eigentlich nur noch grauhaarige Frauen über den Weg und durch den Kopf. So ist das ja immer im Leben – wenn man schwanger ist, sieht man nur noch Schwangere, wenn man sich ein neues Auto gekauft hat, sieht man genau dieses Auto überall. Ganz gleich, welche Thematik im Leben Priorität gewinnt, sie tritt unmittelbar in den Vordergrund und macht fortan auf sich aufmerksam. Und für Frank waren es nun grauhaarige Frauen – ein Riesenhaufen Omas. Keine leichte Aufgabe für Optimismus und Zuversicht. Ich erkenne ihm noch heute hoch an, dass er mich seine logischerweise entstandene Verunsicherung nicht spüren ließ, sondern die Ruhe bewahrte und mir die ganze Zeit immer ein gutes Gefühl gab.

Birgit ungeschminkt

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