Читать книгу Krankes ICH - Björn Ludwig - Страница 5
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Martin P. kam ins Visier seiner Waffe. Der Puls des ‚Rentners’ war normal, vielleicht etwas erhöht. Er hatte sich einen gebrauchten Hometrainer zugelegt und war pro Tag 10 bis 100 Kilometer darauf geradelt, auf acht verschiedenen Gängen. Innerhalb von 10 Tagen hatte er sich stattliche Waden und Lungen (letztere waren schon immer gut, denn er war Nichtraucher und passionierter Schwimmer) antrainiert, jetzt war er, nach zwei Ruhetagen am Wochenende, fit und ausgeruht. Sein Blutdruck war gesunken, seine Kaltblütigkeit hingegen immens gewachsen. Es fühlte sich gut an, so fit zu sein. Er beglückwünschte sich selbst, so ausgeschlafen und clever zu sein, Nichtraucher noch dazu. Am blödesten sind doch die Täter, die am Tatort eine in nervöser Hast weggeworfene Zigarette hinterlassen und somit ihr Innerstes, ihre D N A, preisgeben. So dumm war er nicht, keinesfalls, dachte er.
Er hatte sich stark verändert, das war ihm bewusst. Angst machte ihm das nicht, denn geschehen musste etwas, soviel war klar. Das Schlimmste ist eine Unveränderlichkeit der eigenen Welt, dachte er. Der Tatort war gut gewählt, gut ausbaldowert, wie manche Leute sagen. (Gangster der alten Schule – er jedoch, obgleich er der Rentner war, gehörte der Klasse der neuen Schule an...) Ein scheinbar insolventer Bauunternehmer oder Bauherr, der ein leerstehendes Haus zunächst komplett eingerüstet hatte, mit Planen samt Werbebannern ausstattete, um dann mir nichts, dir nichts, pleite zu gehen... Eine völlig aus dem Ruder gelaufene Komplett-Sanierung. Das ist die Hauptstadt, das ist Berlin. Arm und unsexy, fand der Rentner. Nun stand dieses Haus jedenfalls verwaist da – hin und wieder von Obdachlosen genutzt, aber nicht in der Front, der Straße zu, wo Martin P. gerade an der Ampel stand und der Rentner ihn nach wie vor im Visier hatte. Der Rentner war gut vorbereitet, er hatte trainiert. Er war extra in die Schorfheide gefahren, sozusagen zu Ehren seines verstorbenen Onkels, und hatte zehn Patronen verschossen. Dabei war ihm aufgefallen, dass er scheinbar ein angeborenes Schießtalent hatte. Das machte ihn stolz. Er war eben doch vielmehr ein Krieger, denn ein Hartz-4 Empfänger. Er hatte sogar einen Hasen erwischt, und Hasen zu treffen, ist wirklich schwer! Zu Hasenbraten passen Rosmarin und Thymian – die Klöße dazu hatte seine Freundin zubereitet, auf thüringische Art, mit dunkler Bratensoße. Rotkohl aus der Dose, aufgrund der unpassenden Saison.
Im Anschluss gab es Geschlechtsverkehr a la carte.
Ein sogenannter 'schöner Abend', der ihn zweifeln ließ, da jener Abend ihn wieder mild stimmte. Seine Zweifel zerstreuten sich rasch. Schon am nächsten Morgen, am Briefkasten. Wieder eine Absage, okay, jetzt reichte es ihm.
Übrigens wollte der Rentner niemanden töten. Auf seiner Liste standen jedoch vier Menschen, denen er ins Knie schießen wollte vor lauter Wut. Am Anfang seiner Liste stand Martin P., dieser Schönling und Schleimer. Er fand, dass Martin P. ihm sein Leben versaut hatte. Er war sich jetzt auch wieder ganz sicher, dass da was gewesen war, damals, im November 1975, am Schlachtensee. Töten jedoch wollte er Martin P. dafür nicht. Schmerzen sollte er spüren, dieser Hund. Lebenslange Schmerzen, wenn möglich. Und erpressen würde er ihn endlich wegen dieser Sache. Der Rentner brauchte Geld, er hatte Schulden. Danach würden seine rechte Hand – Mariella W. – und – nach einer dreimonatigen Pause – weitere zwei Menschen bestraft werden für ihr Unwesen, laut Plan des Rentners.
Und dann sollte Schluss sein.
Ihm fiel auf, dass der Schnürsenkel des rechten Schuhs von Martin P. offen war. Komisch, das sah ihm gar nicht ähnlich, diesem eitlen Geck. Der Rentner atmete ruhig aus und ein und hoffte, dass die Ampel zur richtigen Zeit auf Rot schaltete, damit Martin P. stehen blieb. Es ist für einen ungeübten Schützen vollkommen unmöglich, ein sich bewegendes Ziel aus gut 30 Metern ins Knie zu schießen, zumal, wenn noch eine stark frequentierte Straße dazwischen liegt. Unwillkürlich richtete er das Fadenkreuz auf das rechte Knie Martin P’s aus, vielleicht, weil ihn der Schnürsenkel visuell dorthin verführte, was allerdings fatale ballistische Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Der Rentner drückte in dem Moment ab, als Martin P. sich bückte, um sich die Schnürsenkel zu binden. Sonst hatte alles geklappt: Die Ampel schaltete zum gewünschten Zeitpunkt auf Rot und die Autos blieben brav stehen, in einer niedlichen Reihe aus grün/grau-Mettalic. Aber jetzt schob sich der Kopf Martin P’s zwischen das Knie und die Kugel, und so etwas nennt man dann Faktor X. Die unbekannte Variable. Der Todfeind eines jeden Planes.
Der Kopf zerplatzte wie eine Wassermelone, die aus dem 20. Stock fällt. Das änderte alles. Jetzt wurde aus einer schweren Körperverletzung ein eiskalter Mord. Ein Mord an einem fünffachen Familienvater. Oh Gott, das hatte der Rentner doch nicht gewollt, nein, oh Gott... niemals! Selbst Hippokrates-Eid-schwörende-Mediziner würden bei jenem grauenvollen Anblick, der sich ihnen hier bot, auf das Puls messen verzichten: Es gab keinen Zweifel, Martin P. war tot, mausetot. Der Plan war durch einen offenen Schnürsenkel vereitelt worden, komplett daneben gegangen. Die qualvollen Schmerzen, die sich der Rentner für Martin P. ausgemalt hatte, zerbarsten in 10 000 Fragmente und mäanderten in ein rotes Delta des Grauens, welches sich im Rinnstein ergoss und sich fürchterlich ausnahm. Um 11 Uhr vormittags. Eine harmlose Zeit, sollte man meinen. Aber nicht für Martin P. an diesem Tage. Und auch nicht für den Rentner. Die Strafe, die er sich für Martin P. ausgesucht hatte, zündete nicht. Vermutlich hatte sein Opfer sich nur einmal ganz kurz gewundert, bevor alles schwarz wurde. Wenn überhaupt. Er ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in sich gegangen, denn alles, was einst in ihm drin war, floss innerhalb kürzester Zeit in den Rinnstein.
Hätte es geregnet, wäre es dunkel gewesen oder eiskalt- und die Stadt in Düsterkeit gehüllt, dann wäre dieser Anblick, der sich den Passanten und Zeugen hier bot, vielleicht ein wenig erträglicher gewesen. Es war aber ein strahlender Spätsommer-Tag, so richtig aus dem Lehrbuch eines sogenannten Altweibersommers. Die Straße, auf der Martin P. so jäh aus dem Leben gerissen wurde, war in gleißendes Licht getränkt.
In jenem Moment hatte auch die Jagd auf den Rentner begonnen, der diese verteufelte Schweinerei hier angerichtet hatte. Es war der 22. September 2010 in Berlin Kreuzberg, als diese Geschichte seinen Lauf nahm.
Der Rentner hatte ein enges Zeitfenster. Er musste sich jetzt entscheiden. Konnte er sich von der Schreckstarre befreien, die ihn erfasste, nachdem sein Vorhaben derart eskaliert war? Es waren fünf Sekunden, die ihn einbanden. Fünf Sekunden der Starre, in denen auch ein Suizid möglich schien.
Dann spürte er die Anwesenheit eines fremden Individuums in seinem Nacken, ein Rascheln im Hintergrund. Er zögerte kurz, bevor er sich umdrehte.
Und in jenem Drehmoment spürte er wieder die Energie des Rentners.