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Kriminalhauptkommissarin Petra Müller und ihr Partner, Kommissar Werner Pfeffer, standen scheinbar ungerührt am Tatort. In Wahrheit waren sie extrem gestresst, denn heute, am Mittwoch, den 22. September 2010, war Wandertag der Berliner Schulklassen. Es galt unbedingt zu verhindern, dass acht- oder zehnjährige Augen diese offensichtliche Exekution einfingen, die hier, in der schönen Fichtestraße in Berlin Kreuzberg, stattgefunden hatte. Beide waren bis aufs Äußerste abgebrüht gegenüber sich selbst, aber bei Kindern, ja, da hörte der ‚Spaß’ auf. Die galt es, zu schützen. Eine dicke Wolke schob sich gnädigerweise vor die noch immer grell beleuchtete Szenerie, und dennoch behielten beide ihre Sonnenbrillen auf. Vielleicht, um nicht zu viel preiszugeben. Vielleicht auch, weil sie es leid waren. Alles.
Petra war 43, Werner 51, beide freuten sich jetzt schon auf die Rente. Es gab zu viel Gewalt auf den Straßen Berlins. Und das hier... das war einfach eine Schweinerei... anders konnte man es gar nicht ausdrücken.
Der Polizeibeamte Bruhn würgte, während er das Absperrband großflächig um den Tatort spannte, und seine Kollegin, Vanessa Koltz, tat es ihm gleich. Es war ein trauriges Bild zweier junger Menschen, die unbedingt Karriere bei der Polizei machen wollten und schon jetzt, mit jeweils 25 Jahren, die Gehirnmasse eines Erschossenen absperren mussten, um obendrein Schaulustige daran zu hindern, Bilder einzufangen, die für deren Seelen gewiss nicht gut waren...
Die Spurensicherung war auch schon da. Es hatte seit dem Eintritt des Todes, der vor ca. 25 Minuten erfolgt war, nicht geregnet. Das war schon mal gut. Jedoch war hier ein Ballistiker gefragt, denn es gab keinen unmittelbaren Kontakt zu dem Toten, da dieser aus ca. 30 Metern Entfernung mit einem offensichtlich großkalibrigen Geschoss getötet worden war. Werner Pfeffer hatte übelste Laune. Angeblich aufgrund eines schlechten Kaffees, den Bruhn ihm aus der gegenüberliegenden Bäckerei brachte, um eventuelle Schleimpunkte für eine zukünftige Karriere zu sammeln.
Pfeffer: „Pfui Teufel, der schmeckt ja bitterer, als mein Leben!“
Bruhn: „Das tut mir leid, ich wusste ja nicht, ob sie mit oder ohne Zu..“
Pfeffer: „Zucker? Was?“ schrie er, „sehe ich etwa aus wie eine Zucker-Schwuchtel?“
Bruhn: „Nein, sorry, ich dachte nur...“
Pfeffer: „Hören sie mir auf mit sorry, sie Lady-Gaga hörender Schwachmat, hören sie auf zu schleimen, Mann!“
Müller: „Pfeffer, halt die Klappe, verdammt noch mal! Siehst du nicht, was hier los ist? Wenn du noch einmal einen Polizeibeamten dermaßen zusammenstauchst, bloß aufgrund eines Kaffees, der dir nicht schmeckt, dann lasse ich dich suspendieren, ist das klar?“
Kommissar Pfeffer drehte sich kurz zur Seite. Die Nerven lagen blank. Entweder jetzt zum Psychiater gehen, oder diesen Fall noch durchziehen, er musste sich entscheiden, während das Blut des Opfers in der ungewöhnlich heißen Septembersonne langsam trocknete.
Er hatte mal was mit Frau Müller. Das war schön gewesen, damals, vor acht Jahren, als sie noch Hüttenberger hieß. Aber dann war sie die Karriereleiter schneller als er selbst hochgeklettert, und das hatte er irgendwie nie verwunden. Dennoch mochte er die Petra noch sehr. Wenn sie unter sich waren, fügte er sich auch ihrer unumstrittenen Kompetenz. Aber nicht, wenn noch so viele andere Leute, vor allen Dingen Männer in der Nähe ihres Konfliktes waren.
„Blöde Fotze!“ antwortete er deshalb. obwohl ihm klar war, dass ihn diese Aussage in den vorzeitigen Ruhestand schicken könnte. Mindestens zehn andere Anwesende hatten seinen verbalen Ausbruch miterlebt.
Ungut.
Wer die Kriminalhauptkommissarin nicht kannte, der mochte gedacht haben, dass sie völlig emotionslos auf diese Attacke reagierte, was Gestik, Mimik und Stimme anbelangte. Sie entgegnete:
„Pfeffer, deine Zeit ist vorbei, du bist beurlaubt.“ Recht laut dies, damit alle involvierten Personen es auch hören konnten.
In Wahrheit aber empfand Petra Müller große Trauer in jenem Moment. Keine Wut, was bemerkenswert ist. Sie dachte, warum muss es sich dieser Idiot immer so schwer machen. Er bettelt ja geradezu darum, irgendwann einmal in der Gosse oder in der Irrenanstalt zu landen... Oder in einem Sarg.
Sie schüttelte sich unmerklich, dann konzentrierte sie sich wieder auf die ersten Eindrücke am Tatort.
So begannen also die Ermittlungen.
Mit einem Eklat.
Pfeffer murrte, schmiss seinen Kaffeebecher ordnungsgemäß in den Papierkorb und steuerte die erstbeste (oder schlechteste) Bar an, keine 100 Meter vom Tatort entfernt.
Einen starken Abgang jedoch ließ er sich nicht nehmen. Er drehte sich noch einmal um und rief dem mindestens dutzendköpfigen Einsatzteam folgendes zu: „Der Täter hat aus diesem Haus dort geschossen, checkt das mal!“
Alle starrten auf das eingerüstete, mit Planen verdeckte Haus, auf welches Pfeffer mit einer nachlässigen Geste verwies. Dann fügte der Kommissar dröhnend hinzu: „Der rechte Schnürsenkel des Opfers ist offen, was nichts bedeuten muss...“ und machte auf dem Absatz kehrt, ohne weitere Reaktionen abzuwarten.
Pfeffer hatte in der Tat einen starken Abgang.
Er wollte das alles nicht mehr. All die Leichen, all das Elend der Angehörigen. Er könnte heute Nachmittag in ein Reisebüro gehen und ein Ticket nach... zum Beispiel Fuerteventura erstehen. Er sah sich schon am Strand von Corralejo sitzen, eine geile Engländerin im Arm haltend. Ha Ha, sollten sie doch ohne ihn zurecht kommen, dachte er und betrat entschlossen das Alptraum 2. Das Interieur der Bar ließ wirklich zu wünschen übrig, doch das störte Werner Pfeffer keineswegs. Er hatte schon so viel weitaus schlimmeres gesehen... zu viel. Irgendwann ist Schluss. Er war jetzt seit fast dreißig Jahren bei der Berliner Polizei, nie hatte er etwas anderes gemacht. Jetzt erst mal einen Saufen, und dann nachdenken, wie es weitergeht, dachte er. Der Laden hatte soeben geöffnet und der Barkeeper, ein junger blasser Mensch, schien noch nicht wirklich bereit zu sein für einen Gast wie Pfeffer. Und auch die Barhocker standen noch jungfräulich in Reih und Glied direkt an die Bar gerückt. Ein rührender Anblick. Doch Werner Pfeffer war gewillt, diese vormittägliche Idylle mit einem fast brutalen Räuspern zu zerstören, griff zielstrebig nach dem Hocker, der vis á vis einer ansehnlichen Whiskeyreihe stand, fand den richtigen Abstand um seine müden Arme bequem auf den Tresen legen zu können, taxierte kurz den Barmann und bellte: „Jameson, ohne alles, doppelt“. Die georderte Ware wurde ihm zwar spöttisch grinsend, aber doch recht zügig über den Tresen gereicht, und da der Barkeeper selbst nichts trinken wollte, prostete Pfeffer eben den billigen Totenkopfimitationen, die einige andere Schnapsflaschen in der verspiegelten Bar flankierten, zu. „Skol!, wie der Schwede sagt.“, intonierte Pfeffer und fühlte sich augenblicklich wohl. Er fügte noch hinzu: „Auf den Vorruhestand!“
Der junge blasse Mann blickte zwar genervt aus der Wäsche, ließ ihn aber machen. Gut so. Dann erblickte Pfeffer eine Postkarte, die jemand im Barbereich an die Wand geklebt hatte, auf der stand: Ihr könnt mich ruhig treten, das tun alle! Eine fürchterliche, vor Gram gebeugte Jammergestalt war auf jener Postkarte zu sehen, mit hängenden Mundwinkeln und traumatisierten, irre blickenden Augen.
Das bin ich, dachte er.
Lediglich mein Sakko von Esprit trennt uns.
Es war 11.32 Uhr.
Nach dem zweiten Jameson wurde ihm klar, dass er Petra anrufen würde, irgendwann, um sich zu entschuldigen. Und um ihr zu danken, dass er nun mehr Zeit haben würde, sich um sein Leben, um seine verheerend hohen Blutdruckwerte- und um seine Kinder zu kümmern. Von drei Frauen hatte er vier Stück, keines davon sah er regelmäßig. Vielleicht konnte er sich jetzt mal kümmern um Sarah (5) und Lia (6) von Marie, und um Jonas (12) von Gabi... und auch um die pubertierende Yvonne (14) von Cheyenne. (Cheyenne hatte ihm das Sakko von Esprit vor 3 Jahren zu seinem 48. Geburtstag geschenkt, weil sie der Meinung war, er liefe immer herum wie ein Penner). Alle Kinder waren übrigens von unterschiedlicher Hautfarbe und von unterschiedlichem Gemüt. Nur eines hatten sie gemeinsam, und zwar die Ablehnung gegen den Bullen, der ihr Vater war. Was sollte Werner Pfeffer also tun? Er bestellte einen dritten Jameson, ohne alles, pur.
Vorerst.
Er wurde langsam betrunken, ob der frühen Uhrzeit, denn er war kein Alkoholiker, seiner Meinung nach. Er fragte den Barkeeper: „Weißt du eigentlich, dass da draußen, schräg gegenüber, eine Leiche liegt, mit nem riesigen Loch im Schädel? Erschossen? Wahrscheinlich mit nem Jagdgewehr erledigt wie irgend so ne Sau? Hä, weißt du das?“
Der junge Mann reagierte zunächst gar nicht und es war nicht sofort klar, woran das lag. Entweder er wollte Werner Pfeffer komplett ignorieren, oder aber dessen Worte drangen aus rein akustischen Gründen nicht durch GUNS N’ ROSES relativ neues chinese democracy-Album, was hier auf mindestens 110 Dezibeln lief. Im übrigen ein schwaches Comeback, wie Pfeffer fand, dafür, dass es vierzehn Jahre gedauert hat. Ha Ha!, lachte er bitter-süß.
Nun reagierte der Barkeeper doch, er fragte: „Passt ihnen irgendetwas nicht?“
Pfeffer war verwirrt. Er besaß offensichtlich noch nicht einmal mehr so viel an natürlicher Autorität, um einen etwa neunzehnjährigen, zickenbärtigen... Studenten?... zu beeindrucken...
Das war vermutlich seinen hängenden Schultern geschuldet. Er sah aus wie einer, der aufgegeben hat. Kein Rückgrat mehr. Gebrochen, verloren, haltlos. Seine Fresse jedoch war großartig. Furchen, Bartstoppeln, Narben, eine leicht schiefe Nase und dazu noch matte, grau-grüne Augen, die viel zu viel gesehen hatten. Sein Körper war für sein Alter okay. Ähnelte einem ehemaligen Halb-Schwergewichtsboxer, der in die Jahre gekommen ist. Aber seine Körper-Haltung, die war gebrochen. Eingesunken und halb betrunken. 188 cm geschrumpft auf Säuglingsgröße, so fühlte er sich.
Deshalb erfuhr er keinen Respekt von dieser Rotznase hier.
Unwillkürlich streckte er sich, räusperte sich. Es war klar, jetzt musste etwas kommen, ein klassischer Vorstoß aus dem Hinterhalt. Oder ein überraschender Angriff von der Flanke her, von der Seite. Er fragte: „Kennst du DEGÜELLO?“
Sofort schien der Barkeeper interessiert, er fragte zurück. „Meinen sie so ne Art Droge aus Mexiko?“
Erst jetzt bemerkte Pfeffer, dass der Barkeeper ihn die ganze Zeit siezte, währenddessen er selbst stur beim du blieb. Vielleicht rührten ja daher die Animositäten und verletzten Eitelkeiten?...
„Nee“, antwortete Pfeffer gelassen, denn er war weder bei der Sitte, noch bei der Drogenfahndung, also wurde er auch nicht hellhörig. Er war vom Morddezernat, ganz einfach. Er war ein Mordbulle. Im Grunde interessierte ihn auch nichts anderes. Außer vielleicht ZZ Top und seine Kinder. Und Petra Müller, aber das schob er jetzt bei Seite. Und Irish Whiskey natürlich, ja, das auch.
„Nee nee, lass mal gut sein, Junge – DEGÜELLO ist bloß das beste Rhythm’ and Blues / Rock-Album aller Zeiten.“
„Echt? Von wem?“
„ZZ Top.“
„Welches Jahr?“
„Das kann ich dir sagen: 1979 – das gottverdammt beste Musikjahr aller Zeiten, Mann!“
„Sie reden wie ein Typ von früher, aus dem Fernsehen, der hieß glaube ich Humphrey Bogart oder so...“
Werner Pfeffer lachte schallend, und der Barkeeper stimmte mit ein, zum ersten Mal.
„Ich hab die CD übrigens mit dabei“, frohlockte Pfeffer. Er trug die CD natürlich nicht immer in der Innentasche seines leichten, beigefarbenen Sommer-Saccos, jedoch wollte er sie heute ursprünglich einem Kollegen von der Mordkommission ausleihen. Das konnte er sich ja jetzt wohl abschminken, wie es schien.
„Na gut, geben sie her“, sagte der Jüngling, blendete das Stück SCRAPED korrekt aus und ließ verlauten: „Jetzt bin ich aber mal gespannt“, bevor Billy Gibbons blusige Akkorde des Albumstarters I WANNA THANK YOU jegliche Zweifel über guten Musikgeschmack zerstreuten.
„Ich glaub ich kenn ZZ Top“, meinte der Barmann, während er mit einem muffigen Lappen, der nach nassem Hund roch, nachlässig über die Theke wischte, „Ham die nich so Bärte?“
„Ja, die Frontleute Dusty Hill und Billy Gibbons haben meterlange Bärte, Mann. Nur der Drummer hat keinen. Weißt du, wie der heißt?“
„Nee.“
„Frank Beard ! Ha Ha Ha Ha Ha! Ha Ha Ha Ha Ha!”
Entweder der Barkeeper verstand den Witz nicht oder er war unter dessen Niveau. Jedenfalls verzog er nur leicht die linke Augenbraue. Pfeffer war es egal. Scheißegal. Solange ihm ZZ Top ein wenig Trost spendete, war er zufrieden. Er wurde sentimental, dachte an Petra Müller. Sie war die einzige Frau, die er kannte, die etwas mit ZZ Top anfangen konnte. Sie war sowieso einzigartig. Sanftmütig, weiblich, ein wenig mütterlich, tolerant, sensibel und doch – wenn es drauf ankam – hart wie ein Shaolin-Mönch. Oder Mönchin, müsste man sagen, dachte er. Gab es Mönchinnen? Und intelligent war sie... und... (es lief mittlerweile bereits Stück 4, A FOOL FOR YOUR STOCKINGS)... außerdem sah sie einfach geil aus, so’n richtiges Rasseweib, fand Pfeffer. Alles drum und dran an ihrem 168 cm großen Körper war einfach lecker, immer noch. Nicht so eine, bei der man sich alle Knochen bricht, wenn man mit ihr ins Bett steigt. Große und schwere Brüste... es gibt nichts Besseres... und auch fest... slawisches Feuer... yeah! sinnierte Pfeffer. Er war sich selbst nicht sicher, ob er diese erotischen Gedankenfetzen nicht sogar deutlich hörbar murmelte, er war scheinbar nicht mehr ganz bei Trost. Und auf einmal legte sich eine schwere, schier untröstliche Traurigkeit wie ein dicker schwarzer Wintermantel über seine Seele. Er dachte an ihre haselnussbraunen, gutmütigen Augen, an ihre langen und echten Wimpern, dann an den kräftigen Schwung ihrer relativ dunklen Augenbrauen, die so gut zum brünetten, halblangen Haar passten, welche sie im Dienst immer streng nach hinten zum Zopf bündelte... Und dann dieser leichte slawische Einschlag von großmütterliche Seite, der ihre Wangenknochen markant veredelte. Er konstatierte innerlich: Hätte mich die Petra damals nicht für diesen Hans Wurst verlassen, dann wäre alles anders gekommen... für einen Typen, der hauptberuflich Essen fotografiert, das darf doch wohl nicht wahr sein...
Während Jameson Nr. 4 seine durstige Kehle hinunterrann, erfasste ihn eine heftige Reue. Warum hatte er sie bloß so derbe beschimpft, wieso? Wieso gerade sie? Er hatte sie unmöglich gemacht, vor allen Leuten. Erniedrigt. Schlimm war das, er war ein Scheusal. Ein gemeines Schwein.
„Ich bin ein gemeines Schwein“, sagte er zum Barkeeper.
„Wenn sie es sagen“, lautete die lakonische Antwort.
In diesem Moment kam eine große falsche Blondine in den Laden gestöckelt, der Begrüßung nach zu urteilen die Freundin des jungen Mannes. Sie hatte etwa fünf Piercings im Gesicht und einen riesigen Indianerkopf auf ihrem kalkweißen linken Oberarm eintätowiert. Während die beiden sich inniglich umarmten und sich gegenseitig ihre Zungen in die Hälse stopften, bemerkte Pfeffer auch ihr klassisches Arschgeweih am unteren Rücken, Höhe L 5 und R 5, seinen beiden Bandscheiben-Sorgenkindern. Ne richtige Szenebraut, dachte Werner Pfeffer.
„Schatz, da draußen haben sie einen erschossen.“, verkündete sie ihrem Freund. Und nun geschah psychologisch etwas äußerst interessantes in der Mimik des Barkeepers.
Der leicht pikierte, stets etwas arrogante Gesichtsausdruck, den er auch während ihrer spärlichen Kommunikationsversuche zur Schau gestellt hatte, wich nun etwas anderem: Verblüffung und eine Spur von Angst huschten über sein junges Gesicht wie ein Schatten, der von einem ICE im Vorbeirasen an eine frisch sanierte Häuserfassade geworfen wird.
„Hab ich dir doch gesagt.“
Punkt für Pfeffer.
Er trank weiter seinen Jameson, nun, ob der alkoholischen Betäubung, der er sich aussetzte, etwas weniger aufgewühlt. Unterdessen wurde er argwöhnisch beäugt. Die Atmosphäre hatte sich deutlich verkrampft, was Pfeffer nicht störte. Er war leicht amüsiert und auf einmal zu Späßen aufgelegt, was man ihm äußerlich absolut nicht ansah. Die DEGÜELLO lief übrigens immer noch, nun bereits Stück Nr. 9, CHEAP SUNGLASSES. Offenbar traute sich der Barmann jetzt nicht mehr, die Auswurf-Taste des CD-Players zu drücken, obwohl seine Braut zwischendurch irgendetwas von ‚bekloppter Mucke’ gemurmelt hatte. Pfeffer ließ ihr das durchgehen, denn sie konnte ja bestimmt nichts für ihren schlechten Geschmack. Stattdessen ließ der Kommissar jetzt, passend zum Stück, seine 10 Euro-Sonnenbrille von Rossmann in seine Visage gleiten. Nun sah er wirklich finster aus. Noch übler als sonst. Der Brille - welche vorher noch unauffällig irgendwo in Pfeffers kurzem, vollem grauen Haar gesteckt hatte - sah man ihre mindere Qualität keineswegs an. Sie hätte auch ein teures Modell von Ray Ben oder Boss sein können, dem ersten Augenschein nach. Der Barmann räusperte sich, er wollte etwas sagen. „Stop!“, fauchte Pfeffer, „erst hören wir die CD fein zu Ende. ZZ Top waren nie berühmt für ihre besonders langen Scheiben, im Gegenteil. Diese hier – die beste von allen – hat nur 34.21 Minuten. So viel Zeit muss sein.“
„Aber...“
„Stop habe ich gesagt!“, brüllte Pfeffer und nun gingen mit ihm scheinbar alle Gäule durch. Er war unberechenbarer denn je, zumal jetzt offenbar der Alkohol die Kontrolle über sein eigentliches Wesen zu übernehmen schien.
„Der Typ muss zum Arzt“, meinte die Blonde.
„Ach ja? Ich glaube eher, ihr müsst gleich zum Arzt“, zischte er düster, stand auf, öffnete schwungvoll das Sakko und ließ seine Dienstwaffe, eine walther p 99, die sich eng an seine rechte Hüfte schmiegte, aufblitzen. Dies war ein Straftatbestand. Bedrohung unbewaffneter Personen und Amtsmissbrauch. Eventuell aufkommendes schlechtes Gewissen ertränkte Pfeffer aber sogleich in einem großzügigen Schluck Jameson. Er hatte sich wieder hingesetzt und sagte: „So – jetzt gib mir mal schön die ganze Flasche ohne Glas, und dann hören wir uns in aller Ruhe den letzten Song, ESTHER BE THE ONE an, bevor sich unsere Wege trennen.“
Und so geschah es, denn für die beiden nun völlig verängstigten jungen Menschen war die Walther p 99 keine Dienstwaffe, sondern die Waffe eines Mörders, ganz klar. Werner Pfeffer hatte eine derart schwere Verfehlung noch nie getan. Die disziplinarischen Konsequenzen, die sich aus diesem Tatbestand noch ergeben sollten, lagen für ihn Lichtjahre entfernt. In seiner momentanen Welt war das privates Pille-Palle, und überhaupt, er war ja ohnehin suspendiert, da konnte er ja wohl auch mal ein bisschen durchdrehen, wie fast alle anderen in dieser verrückten Stadt auch! Und außerdem, die beiden waren doch auch völlig breit, zugedröhnt bis zur Halskrause, oder?
Wenn Gott in diesem Raum gewesen wäre, so hätte er ihn in jenem Moment zurechtgewiesen mit den Worten: Nein, Kommissar Werner Pfeffer, du irrst, diese beiden jungen Menschen sind vollkommen nüchtern.
Aber Gott war nicht hier.
Das letzte Stück war fast verklungen, da vibrierte es in seiner vorderen rechten C&A-Buntfalten-Hosentasche. Er öffnete sein vorsintflutliches Motorola-Handy und erkannte auf seinem kleinen Display zweimal verschwommen den Namen Petra. Er fokussierte seine bereits schielenden Augen noch einmal mit aller Willenskraft und konstatierte dankbar: PETRA
Ja, bitte, hol mich raus aus dieser Hölle, murmelte er und nahm ab.
Was er – obwohl er ansonsten eine fast neurotische Bullen-Wahrnehmung hatte – dieses Mal keineswegs bemerkte, war das leicht zitternde Sony-Ericsson-Auge, welches auf ihn gerichtet war. Das Auge der Gerechtigkeit. Die Blonde machte drei Fotos. Seine Walther p 99 war ansatzweise auf einem der Fotos zu erkennen. Er sah aus wie ein übler Gangster, keinesfalls wie ein Kommissar. Eher wie ein Mafioso, der gerade jemanden umgelegt hatte und nun Luigi anrief um ihn zu fragen, ob er nicht vielleicht Bock hätte, ne Leiche wegzuschaffen. Durch und durch unseriös, gemein und durchtrieben. So sah er auf den Bildern aus. Gemeinsam mit den nüchternen Aussagen des Paares sollte dies reichen, ihn aus Amt und Würden zu kicken.
Man bedroht keine unschuldigen Leute mit der Waffe, das tut man einfach nicht.