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Petra Müller, geborene Hüttenberger aus Passau, steckte mitten in einem Dilemma an diesem strahlenden September-Vormittag. Einerseits konnte sie diese bodenlose Frechheit, die Werner Pfeffer ihr an den Kopf geknallt hatte, noch dazu vor all den Leuten, niemals durchgehen lassen. Deshalb auch die mündliche Suspendierung, die eigentlich keine Substanz hatte, denn das funktionierte anders, schriftlich, auf dem Dienstwege... Andererseits mochte sie den Menschen Pfeffer von ganzem Herzen, wenn dieser einigermaßen bei sich war. Liebe empfand sie nicht mehr für ihn, aber große Zuneigung und so etwas wie Mit...gefühl. Außerdem war er ein großartiger Bulle, ein Bluthund, dem man nur einmal eine hunderttausendfach verdünnte Geruchsspur unter die Nase reiben musste, und schon nahm er die Spur auf. Wie auch immer. Und in 90% aller Fälle von Erfolg gekrönt, ein Natur-Bulle, gewissermaßen. Sein Lebenswandel jedoch war unstet, ungesund, seit jeher. Etwas Dunkles, Destruktives schlich sich immer dann in sein Gemüt, wenn er die Chance dazu hatte, dass alles Gut werden würde. Ein ganz unheimlicher und unbegreiflicher Mechanismus, wie Petra Müller fand. Zum Beispiel hatten sie damals, vor acht Jahren, einmal eine traumhaft schöne Woche zusammen auf Zypern verbracht. Im Hotel Aphrodite, in der Nähe der gleichnamigen Quellen an der Süd-West-Küste. Alles war geheim, keiner ihrer Kollegen wusste davon.
Was zusätzlich einen besonderen Reiz auf sie beide ausübte. Damals hatte sie ihn geliebt, ja, das kann sie sagen. Er war einfühlsam und auch gut im Bett, ließ sich immer etwas einfallen. Der Sex mit ihm war richtig gut und erfüllend. Sie kam immer, manchmal mehrfach hintereinander. Und das ist wohl mehr, als die meisten Frauen in den meisten Beziehungen von sich behaupten können, seien wir doch mal ehrlich. Oder? Vielleicht bin ich ja auch im Unrecht, ich hatte ja noch nicht so viele Männer, nur 4 Stück. In jenem weit entfernt liegenden Urlaub jedenfalls war am letzten Abend (an welchem sie sich eigentlich schon für ein Leben mit Werner entschieden hatte), etwas vorgefallen, was sie zurückschrecken ließ. Es geschah in einer kleinen Diskothek in dem kleinen pittoresken Fischerdorf Polis. Bis nach Mitternacht schienen die Sterne für sie beide, für eine gemeinsame Zukunft, zu leuchten. Aber dann geschah etwas Unfassbares. Ein harmloser, leicht angetrunkener US-Amerikanischer Tourist hatte sie auf der Tanzfläche ein wenig angeflirtet, vielleicht auch ein wenig angetanzt, mehr nicht. Werner Pfeffer war daraufhin urplötzlich, wie aus dem Nichts, komplett ausgerastet und hatte sich wie ein wild gewordener Rottweiler auf den jungen Mann gestürzt und ihn krankenhausreif geschlagen. Das wurde nie aktenkundig, aber Geld floss reichlich. An das Krankenhaus, an die zypriotische Polizei, an das Opfer. Schmiergeld. Petra Hüttenberger hatte ihm finanziell ausgeholfen, da Werner damals schon notorisch pleite war.
So etwas wollte Petra Hüttenberger nicht haben, nein, das ging nicht, ließ sich nicht vereinbaren mit ihrer Vorstellung von Liebe und Vertrauen. Dieses unberechenbare Biest in Werner Pfeffers Seele gehörte eigentlich therapiert. Zurück in Berlin, lieferte eine von ihr konsultierte Betriebspsychologin (der Name Werner Pfeffer wurde nie genannt, er lief unter dem Synonym Rottweiler) folgende niederschmetternde Ferndiagnose: Das von dir geschilderte Phantom Rottweiler, liebe Petra, leidet leider an einer verhängnisvollen Kombination aus F 40 , einer phobischen Störung, die besonders korreliert mit F 40.1, also mit sozialen Phobien, in erster Linie also ein dominierender Angst-Faktor. Hinzu kommt ganz sicher F 10, welches durch Alkohol Abusus verursacht wird und Wahrnehmungsstörungen beinhaltet. Außerdem vermute ich schlussendlich – als kausalen Auslöser all dieser Faktoren – F60.0,, eine paranoide Persönlichkeitsstörung. Dieser sogenannte Rottweiler hat auch Schwierigkeiten, was seine Impulskontrolle betrifft, und...
„Danke, mir reicht’s“ lautete ihre damalige Antwort, „das hört sich ja furchtbar an...
äh, Scheiß Kindheit gehabt?“ fragte Petra Hüttenberger vorsichtig.
„Wer? Rottweiler?“
„Ja?“
„Ja. Das vermute ich wenigstens.“
„Das hört sich alles unheilbar an.“....
„Ach um Gottes Willen, nein!“, unterbrach sie die Psychologin damals gut gelaunt, „Das sind doch nur ganz normale Störungen, die wir doch alle irgendwo in uns tragen... zumindest manchmal, wenn man zumindest F 10 bedenkt... wollen sie mal richtige Psychosen umschrieben bekommen, also regelrechten Wahn?“... hakte die Psychologin nach.
„Nein danke, mir reicht das jetzt. Nur noch eine Frage: Warum konnten sie so eine genaue Diagnose aus dem Ärmel schütteln?“
„Weil ihr sogenannter Rottweiler schon ein paar Mal hier war. Ich weiß, wen sie meinen.“
„Aha.“
„Finde ich übrigens gelungen, ihren Quervergleich in das Reich des Canis. Wie kommen sie eigentlich auf die Rasse Rottweiler?“
„Hm, keine Ahnung, eigentlich...“
Petra Hüttenberger musste sich erst einmal sammeln, all dies wühlte sie sehr auf.
...ja, ich denke, ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu diesen Tieren. Zum einen finde ich Rottweiler unheimlich schön, weil sie so athletisch sind und so eine schöne Farbzeichnung haben. Richtige Raubtiere voller Muskeln und Eleganz. Aber andererseits sind sie auch unberechenbar, richtige Psychos manchmal. Immer wieder gibt es Probleme mit Rottweilern, sogar mit ausgebildeten Polizei-Rottweilern...
Sie sagte: „Weil ich Rottweiler hasse!“
„Das glaube ich ihnen nicht“, retournierte die Psychologin sofort. Sie fragte: „Was würden sie denn bevorzugen?“
„Einen treuen deutschen Schäferhund!“, antwortete Petra Müller spontan.
„Dann finden sie einen.“
„Danke.“
Damals war sie dann, geschockt und verwirrt, am darauffolgenden Wochenende zu ihren Eltern nach Passau gefahren. Ihre Eltern und ihre Schwester gaben ihr immer Halt, in jeder Situation. Sie brauchte Beratung. Alle rieten ihr von Werner Pfeffer ab, tatsächlich alle, unisono. Sie ging dann tanzen, ja, in die Disco Schärdinger Turm. Mein Gott, sie war bereits 35 und ihre biologische Uhr tickte heftig. Sie war auch ein wenig verzweifelt, für ihre Verhältnisse. Dabei war sie doch eine ganz natürliche, noch relativ junge Frau, die ein Anrecht auf ein normales Leben hatte, denn normal war sie selbst und sie ist es bis heute geblieben. Sie denkt normal, sie sieht normal aus und sie lebt normal, sieht man von ihrem extremen Beruf einmal ab – wie könnte sie dann also unnormal sein und sich mit einem kaputten Typen wie Pfeffer einlassen?
Und so lernte sie in jener Disco-Nacht im Schärdinger Turm Christian Müller kennen, Ölbildmaler und Fotograf, wie er angab. Er war aus Passau, genau wie sie. Alle aus ihrem Umfeld waren begeistert. Er war lieb, er war treu, er war in ihrem Alter, er war solide und hatte einen gewissen beruflichen Erfolg. Und er folgte ihr nach Berlin. Sie zogen nach Frohnau im Norden Berlins, heirateten rasch, legten sich einen Hund zu, bekamen eine gesunde Tochter, Kamilla. Christian Müller sattelte dann schnell von der Ölmalerei auf eine lukrativere Schiene um und verdient seine Brötchen heute größten Teils als Food-Fotograf. Das ist ein gutes, wirklich einträgliches Geschäft innerhalb des enormen Gastronomie-Betriebes Berlins. Garnelen, Sushi-Rollen, Schokoladentorten, eigentlich hat er eine leckere Tätigkeit, dachte die Hauptkommissarin. Leckerer als ich jedenfalls, dachte sie ein wenig bitter im Hinblick auf die Schose, die aktuell nur wenige Meter von ihr entfernt immer noch das Straßenbild dieser an sich ganz netten Gegend prägte.
Petra Müller saß in ihrem Dienstwagen, allein, sie musste nachdenken. Sie musste es Janina P. sagen. Die Personalien des Opfers waren inzwischen geklärt, und jetzt blieb der schwerste Gang, der Gang zur Ehefrau des Opfers, an ihr haften. Von den Kindern der beiden ganz zu schweigen... Wer konnte so etwas tun? Ein Killer? Ein Serienkiller womöglich? Nun ja, noch hatte – Gott sei Dank – keine Serie begonnen, also war für’s Erste auch kein Profiler von Nöten. Nach dem ersten Augenschein ein eiskalter Auftragsmord, eine regelrechte Exekution. Es war der 22. September, Mittwoch Mittag, 12.22 Uhr. Die Leiche wurde gerade abtransportiert, Gott sei Dank, möchte man meinen. Und auch das Blut, welches geflossen war, nachdem man alle möglichen Beweise gesichert hatte, wurde nun hinweggespült in den Rinnstein.
All dies war grausam, gewiss.
Aber es musste auch weitergehen.
Wieder dachte sie an Werner Pfeffer und empfand gerade in dem Moment, da die Hintertüren des Pathologiefahrzeuges der Gerichtsmedizin sich öffneten und sie Martin P. auf seine letzte Reise schickten, eine tiefe Dankbarkeit gegenüber ihrem eigenen Leben. In ihrem Leben gab es keine Abgründe. Ihre Psyche war stark, wohl eingebettet in eine geradezu tradierte Familienform: Vater, Mutter, Kind und Hund. Dazu ihren Dienstwagen, den sie auch privat nutzen durfte (ein übertrieben großer Ford Kuga mit getönten Scheiben und allem technischen Schnickschnack, den man sich nur vorstellen konnte). Und einen kleinen Honda Civic für Christian. Am Wochenende war sie glücklich, total glücklich. Während der Woche funktionierte sie gut, immer. Wenn sie sonntags mit ihrer kleinen Familie und ihrer Labradorhündin Peggy Sue durch das Tegeler Fliess wanderten, dann konnte Petra Müller gar nicht anders, als Gott zu danken. Sie dankte dann Gott für ihre offensichtliche Normalität. Ihr Leben verlief im übertragenen Sinne in sanften pastellfarbenen Linien und unter Einfluss von gemäßigten Ebbe- und Flut-Verhältnissen. Nichts brachte ihren weiblichen Zyklus durcheinander, kein Raub, kein Mord, kein Totschlag. Sie war schier unerschütterlich, obwohl sie angeblich einen eher schwachen Muskel-Tonus hatte, wie ihr ihr Waffentrainer einmal anvertraut hatte. Was nicht bedeutete, dass sie irgendwie schlaff war... Ihr körperliches Geheimnis waren übrigens ihr ruhiger Puls und ihr konstanter Blutdruck von 120 / 80, was wiederum auf eine jahrzehntelange gesunde und konsequente Lebensführung zurückzuführen war. Sie schlief gut, träumte nie schlecht. Das muss ein Segen sein, dachte sie, wenn sie an all die Menschen dachte, die ihr Gegenteiliges berichteten, und das waren viele.
Eigentlich die meisten.
Insofern war Petra Müller, diese normale Frau, eine absolute Exotin.
Doch jetzt war sie in der Klemme. Neue Indizien waren hinzugekommen, der Polizeifunk lief fast Amok. Ein Privatdetektiv namens Nils Choi lag mit Jochbein-Prellung und Gehirnerschütterung, letzteres verursacht durch einen Polizeiknüppel, im Urban Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg; ebenso der mögliche Scharfschütze von heute Vormittag, Dragan Vukovic, ein Kosovo-Albaner, mit einem zweifachen Rippenbruch, verursacht wiederum durch jenen Nils Choi. Freilich hatte man die beiden in verschiedenen Etagen untergebracht.
Nils Choi... Nils Choi... sinnierte die Hauptkommissarin was für ein bescheuerter Name übrigens... ein Künstlername etwa?... irgendjemand muss sich um ihn kümmern, er ist der vorerst wichtigste Zeuge, ja, er ist unser Mann, den wir zuerst vernehmen müssen...
Und wer sollte dies sein, wenn nicht Pfeffer. Er war genau der richtige Mann für solcherlei kuriose, verrückte Verstrickungen. Denn dass es Verstrickungen geben würde, dies war ihr jetzt schon klar. Es gibt immer Verstrickungen, sobald auch Privatdetektive involviert waren. Verstrickungen, Konflikte und unterschiedliche Interessenlagen. Von rechtlichen Dingen einmal abgesehen, Himmel, das würde kompliziert werden, sie spürte das!
Das schien der richtige Stoff für Werner Pfeffer zu sein. Sie brauchte Werner. Sie missbrauchte ihn auch nicht, wie sie fand, nein, denn immerhin hatte er sie schwer beleidigt mit einem Wort, das sie niemals aussprechen würde... (laut Duden von 1983 hatte er sie mit etwas tituliert, was hier so schön als derb, für weibliches Geschlechtsorgan umschrieben wurde). Ein bisschen hallte das noch nach in ihren Ohren. Nun würde sie ihm jedoch die Chance geben, sich ganz schnell und aus eigener Kraft zu rehabilitieren. Sie sah auf ihre Uhr. 12.31 Uhr. Höchste Zeit.
Sie wählte seine Nummer, und er ging nach dem dritten Freizeichen ran.
„Petra?“
„Werner? Ist das ZZ Top da im Hintergrund?“
„Ja, du Engel.“
„Nenn mich bitte nicht so. Vorhin, vor all den Leuten, hast du mich noch anders genannt... schon vergessen?“
„Nein, hör zu, das tut mir leid, ich muss mich...“
„Spar dir deine Entschuldigungen, wir haben zu tun... hast du getrunken?“
„Ja.“
„Das habe ich mir gedacht. Anders gefragt, bist du einsatzfähig, wenn ich fahre?“
„Selbstverständlich! Bin ich also wieder im Dienst?“
„Davon kannst du ausgehen, es wird aber Stress geben, wo bist du?“
„Schräg gegenüber, ich kann deine fette Karre von hier aus sehen, mein Engel.“
„Mach dich nicht interessant, komm schon, wo bist du, Werner?“
„Im Alptraum 2, du kennst den Laden vom Sehen...“
„Um Himmels Willen, in dieser Drogenhöhle?“
„Du bist voller Vorurteile, Petra.“
„Bin gleich da.“ Ihr 200 PS starker Motor startete bereits, ohne Zündschlüssel übrigens, sondern mit Power-Knopf wie bei einer Stereoanlage.
„Ich liebe dich!“, schrie er noch in den Hörer.
Die Antwort Ich dich nicht! hörte er nicht mehr, aber er interpretierte das Quietschen der Reifen, verursacht durch den unerhört starken Allradantrieb, als Juchzen in sein Ohr. Vielleicht wurde ja jetzt doch endgültig alles gut?, fragte er sich.
Er knallte einen 50 Euroschein auf die Theke und sparte sich dieses Mal irgendwelche Abschlussworte, sondern ging einfach, schnurstracks und seltsamer Weise ohne zu wanken, aus dieser Bar hinaus.
Draußen stand der anthrazitfarbene Super-Bullen-Wagen bereits, sauber abgestellt auf einem Behindertenparkplatz. War ja nicht von Dauer. Das Fahrerfenster sauste hinunter. „Steig ein, los!“
„Ich komm ja schon.“ Das klang kleinlaut, zugegeben. Er umkurvte umständlich den Kuga, der die Ausmaße eines Range Rovers besaß, und stieg ein. Sofort sagte er: „Entschuldige Petra, es tut mir l...“
„Ich bitte dich, spar dir das.“ Sie fuhr rasant an und mit etwas göttlichem Wohlwollen schaffte sie es noch über eine dunkelorangefarbene Ampel, um unmittelbar danach links in die Yorckstraße einzubiegen. Der Wagen lag wie ein T 34-Kampfpanzer auf der Straße und hielt sauber die Spur Richtung Hermannplatz. Pfeffer war beeindruckt.
„Wohin fahren wir?“, fragte er, „bitte nicht nach Neukölln. Fahr mich nach Tegel, zum Flughafen!“
„Du hast hier keine Ansprüche zu stellen, du Narr!“
„Tschuldigung... aber wo fahren wir jetzt hin?“
„Wir fahren ins Urban Krankenhaus und du übernimmst die Krankenzimmerüberwachung von Privatdetektiv Nils Choi. Er ist ein überaus wichtiger Zeuge und muss zunächst geschützt werden. Später muss er vernommen werden. Nils Choi ist ein...“ - an dieser Stelle, sie waren bereits in der Blücherstraße, entschied sie sich für das Blaulicht, um dem schier abartigen Verkehrsteilnehmerverbund Berlins zumindest ein ganz klein wenig mehr Respekt einzuhauchen.
Ein wenig wirkte dies, ein wenig. Das war übrigens auch so ein Qualitätsmerkmal der Hauptkommissarin: Sie steigerte ihre Mittel immer kontinuierlich und sanft, anstatt alles gleich auf eine Karte zu setzen, so wie Werner Pfeffer es getan hätte. Werner wäre jetzt gleich mit Blaulicht, Sirene, Hupe und penetriertem Fernlicht losgefahren. Nicht so die Hauptkommissarin. Sparen, hoffen, warten, glauben, fest glauben, Geduld beweisen, analysieren, Intuition und Verstand gleichermaßen berücksichtigen, schweigen, ohne unter den Umständen ihres Berufslebens zu leiden oder gar zu verzweifeln – um dann im richtigen Moment zuzuschlagen! So wurden Fälle gelöst, so und nicht anders.
Das waren übrigens nicht ihre eigenen Gedanken gewesen, nein, denn die Kriminalhauptkommissarin selbst blieb stets bescheiden. Es waren natürlich die Gedanken ihres Beifahrers. Der sie bewunderte und gleichermaßen begehrte und liebte. Dumm nur, dass es einseitig war.
„... Nils Choi ist ein – wie gesagt – überaus wichtiger Zeuge und scheint auch ein seriös ermittelnder Privatdetektiv zu sein, auch wenn sein Name irgendwie unecht klingt... der scheint den direkten Draht zum Opfer und vielleicht sogar zum Täter zu haben, jedenfalls musst du dich an diesen Choi heften, unbedingt... hey, hörst du mir überhaupt zu?“
„Aber claro, ich höre dir immer gern zu. Dein Akzent – dein zartes gerolltes „R“ und dein klein wenig österreichisch... ah, da schau her!“
Die Kriminalhauptkommissarin rümpfte nun die Nase und reichte ihrem Kollegen ein Pfefferminzbonbon.
„Hier, nimm das, du riechst wie eine komplette Fußballmannschaft nach der Meisterfeier.“
„Ach, Fußballer vertragen doch nichts.“
„Dann eben schlimmer!“
Pfeffer nahm das Bonbon an. Dann faselte er weiter dummes Zeug. Er sagte:
„Du fährst schlimmer, als die Polizei erlaubt, Petra... du hast da 200 PS unter deinem Luxushintern... kannst du überhaupt damit umgehen? Wollen wir nicht tauschen... du bekommst meinen 98er Opel Corsa, der hat immerhin 60 PS, und du gibst mir dieses Monster hier...“
„Ich glaub’, die Sache mit meinem Wagen kratzt am stärksten an deinem männlichen Ego, kann das sein?“
„Nein, das da mit dem Essen-Knipser...“
„Werner, so kann ich nicht arbeiten, das geht so nicht. Ich bin bereit, mich für dich stark zu machen, aber ich kann keinen besoffenen Kerl gebrauchen, der in Selbstmitleid versinkt. Das geht einfach nicht. Wie viel hast du getrunken?“
„Über ne halbe Flasche Jameson.“
„Was ist Jameson?“
„Irish Whiskey.“
„Oh Gott, wie krank, um diese Uhrzeit... und du lallst noch nicht mal... Werner, du hast ein ernsthaftes Alkoholproblem, da musst du was tun. Sonst verlierst du deine fantastischen Sinne, die Grundlagen deiner Arbeit.“
„Ich kann jeder Zeit aufhören.“
„Stereotyp, passt ins Bild.“
„Was?“
„Ach, vergiss es“
Sie waren da. Vor dem Haupteingang tummelten sich Süchtige auf Entzug, die mal eine rauchen durften, sowie Verunfallte in Rollstühlen und Gipsverbänden oder seelisch Erkrankte. Werner Pfeffer sah nicht viel anders aus, als eine skurrile Mischung aus allen drei geschädigten Fraktionen. Kurz überlegte Petra, ob sie den Kommissar nicht lieber doch in eine Ausnüchterungszelle stopfen lassen sollte. Er schnarchte bereits, war nicht einsatzfähig. Jetzt war rasches Handeln angesagt, Flexibilität. Sie rief im Präsidium in der Friesenstraße an und veranlasste, dass der Polizeibeamte Köhler die Überwachung von Nils Choi bis 15.30 Uhr übernehmen sollte. Um Punkt 15.30 Uhr würde dann Werner Pfeffer übernehmen. Sie verbürgte sich für Pfeffer.
Sonst tat es keiner mehr.
Absolut niemand.
Werner schnarchte, Petra dachte angestrengt nach und ließ frische Luft in das verpestete Innere des Wagens. Ein paar Schwäne flogen tief über den Landwehrkanal Richtung Admiralsbrücke. Sie hatte Schwäne nie gemocht, weil sie einer mal gebissen hatte, als sie fünf war. Aber jetzt tat ihr dieser Anblick gut. Sie dachte an ihren Mann, an ihren letzten Urlaub im Bayerischen Wald... Ein brutales Martinshorn eines Rettungswagens riss sie aus ihren privaten Gedanken und Werner Pfeffer aus seinen Whiskeyträumen.
„Werner?“
„Ja?“
„Ich gebe dir zweieinhalb Stunden Zeit, dich selbst irgendwie wieder einigermaßen herzustellen, hast du das verstanden?“
„Ja.“
„Das ist gut so, denn wenn du das nicht packst, ist Schluss mit meiner Loyalität, kapiert?“
„J-ja... was mussisch dun..? mir iss so schlecht...“
„Kein Wunder, du Idiot. Was musst du dich auch so sinnlos besaufen wie ein Vieh... Whiskey trinkt man eigentlich gemütlich und in vorgewärmten Gläsern, abends am Kamin. Dafür sollte man sich Zeit nehmen, und nie mehr als 2 cl, hörst du? Das war eine kranke Sache, die du da heute Vormittag abgezogen hast, verstehst du? Eigentlich hättest du heute Janina P., die Witwe des Erschossenen, aufsuchen sollen, aber ich kann dich ja wohl kaum in deinem Zustand dort hin schicken. Dazu ist die Sache viel zu brisant und erfordert höchste Aufmerksamkeit. Du warst eigentlich dran. Erinnerst du dich an die Mordsache Paulsen? Da hab ich’s dem Ehemann verklickern müssen. Jetzt ist es eine Ehefrau, der ich es sagen muss. Nach ersten Erkenntnissen ist sie gleichsam eine Verdächtige... mein Gott Werner, ich möchte mich so gern auf dich verlassen können... aber ich kann mich einfach nicht mehr auf dich verlassen... das ist heute deine allerletzte Chance, be-greifst du das?“
Pfeffer nickte die ganze Zeit brav.
Er war sich dunkel bewusst, welche Schmerzen er dieser Frau innerhalb der letzten acht Jahre zugefügt haben muss und war nun fanatisch dazu bereit, alles wieder gut zu machen, mit einem gewaltigen Schlag, den ihm niemand mehr zutrauen würde, der ihm aber dennoch gelingen würde... wie in Rocky Teil 1,2,5 und 6. So hoffte er.
Petra sprach weiter:
„Nach dieser Sache hier bist du aber zwei Mal dran mit den Todesnachrichten, ja?“
Wow, dachte Werner Pfeffer, sie plant wieder mit mir.
„Was muss ich tun?“
„Pass auf, du musst was essen, am besten etwas Deftiges mit Fleisch, dann musst du Espresso trinken und unbedingt duschen!“
„Duschen?“
„Ja natürlich, was denn sonst, du riechst schlimmer als ne sieben Tage alte Leiche!“
Werner lachte, Petra nicht.
Pfeffer antwortete: „Wer innerlich in Whiskey schwimmt, der niemals eine Dusche nimmt.“
„Bist du jetzt unter die Lyriker gegangen? Woher hast du das?“
„Hab ich mir grad ausgedacht.“
„Blödmann.“
„Danke“ murmelte er noch, bevor ihn abermals der Schlaf der Trunkenen übermannte.
Die Kriminalhauptkommissarin startete den Wagen und fuhr los. Dieses Mal in Richtung Mitte, in die Ackerstraße, wo Werner Pfeffer in einer winzigen Einzimmerwohnung hauste. Da sie den ihr verhassten Alexanderplatz umfahren wollte, fuhr sie über Friedrichstraße, obwohl diese immer dicht war, zu jeder Zeit. Aber es war eine schöne Straße mit einer schier unfassbaren Geschichte. Auch der soziographische Verlauf dieser Straße war eigentlich unfassbar. Von Süden angefangen, am Kreuzberger Mehring-Platz, befand man sich in einer trostlosen Neubauwelt, wo Arbeitslosigkeit, vor allem aber der Mangel an Perspektiven und Alternativen oftmals in brutaler Gewalt mündete. Dort fuhren sie oft Einsätze. Die eigentliche Friedrichstraße, welche nur 1.5 Kilometer weiter nördlich mit mondänen Einkaufstempeln wie zum Beispiel dem Lafayette aufwartete, war für die im südlichsten Teil der Friedrichstraße ansässigen Bewohner Lichtjahre entfernt. Sie konnten wohl dort hin laufen, nach Norden, keine Frage, aber ihre Kaufkraft war dort nicht gefragt. Sie hatten keine Kaufkraft. Sie mussten sich an den Auslagen der Schaufenster ergötzen, die meisten von ihnen jedenfalls. Der Verlauf der Friedrichsstraße war gleichsam ein Querschnitt des Berliner Sozialstrukturatlanten – eine kurze Reise durch alle sozialen Schichten und durch alle nur erdenklichen Milieus.
In Höhe des Kulturkaufhauses Dussmann dachte Petra Müller sehnsüchtig, fast schon wehmütig an das Wochenende, welches noch so unendlich weit entfernt zu sein schien. Sie liebte es, sich mit ihrem Mann durch die drei Etagen des Kaufhauses durch zu schmöckern, einzulesen, einzuhören, dem Schönen zu frönen gewissermaßen. Um am Ende dann – nach zwei oder drei schöngeistigen Stunden – ihre Kreditkarten zu belasten. Reiseliteratur und Fachliteratur (Psychologie, Kriminologie, Garten und Haus etc.), standen bei den Eheleuten genauso hoch im Kurs wie Psychothriller, die ein gewisses Niveau erreichten (und nicht unbedingt in jeder Bahnhofshalle der Welt zu kaufen waren), sowie klassische Musik. Werner Pfeffer schien in Höhe der Invalidenstraße kurz aufzuwachen und brabbelte irgendetwas von Petra be the one! Sie nahm ihn schon gar nicht mehr Ernst.
Hauptsache, er funktionierte demnächst.
Das war die Hauptsache. Denn sie steckten mitten in einem Fall, der sehr unangenehm werden könnte.
Sehr, sehr unangenehm.
Sie bog rechts in die Ackerstraße ab, vorbei an der historischen Ackerhalle und parkte in zweiter Spur.
„Pfeffer, aufwachen!“ sagte sie sehr laut und trocken und ohne Mitgefühl, wie sie hoffte. Pfeffer erwachte, schnaufte, hustete, und fragte wiederum: „Was soll ich tun?“
„Essen, Anti-Alkoholische Getränke zu dir nehmen, duschen, Espresso trinken... und dann um 15 Uhr in ein Taxi steigen, das dich ins Urban Krankenhaus bringt, zu Nils Choi.“
„Okay, Schatz, wo sind wir eigentlich?“
„In der Ackerstraße.“
„Endlich. Kommst du noch mit rauf?“
„Nein.“
„Ich könnte...“
„Die Antwort lautet NEIN!“
„Okay.“
Er wagte nur einen seitlichen Blick auf das Gesicht der Kriminalhauptkommissarin, welches jetzt hart und entschlossen wirkte. Er öffnete die Tür, und als er einen Fuß auf den Bürgersteig setzte, strauchelte er schwer, denn sein rechtes Bein war bis zur Kniekehle eingeschlafen. Er versuchte das zu kaschieren, indem er laut über die Hundekacke fluchte, die hier angeblich überall herumläge, aber dieser aufgesetzte Hokuspokus war nur allzu durchschaubar. Die Ackerstraße war eine extrem gepflegte Straße, das wusste natürlich auch Petra. Hier gab es überhaupt keine Hunde. Werner Pfeffer drehte sich noch einmal herum und sagte „Du kannst dich auf mich verlassen, Petra.“
„Beweise es mir“, sagte sie halblaut, startete den Motor und gab Gas. Viel Gas.
Jetzt ist sie weg, sinnierte Pfeffer, von einer plötzlichen, alles in den Schatten stellenden Übelkeit geplagt. Das ist das Ende... Kalter Schweiß trat auf seine Stirn und ein lang anhaltender Stich in der Herzgegend erinnerte ihn brutal an die allzu menschliche Vergänglichkeit. Das ist das Ende, oh Gott... Er taumelte gegen den erstbesten Edelholztürrahmen und stützte seinen schwachen schweren Körper etwa eine Minute lang in einem statisch fragwürdigen Balanceakt. Für seinen Schwächeanfall hatte er sich ausgerechnet ein italienisches Feinschmecker Restaurant ausgesucht, in dem sogar Tom Cruise schon mal gespeist hat. Es dauerte auch nicht lange, da erschien ein pikierter livrierter Kellner und fragte mit gespielter Höflichkeit: „Sie wünschen?“
Pfeffer gelang es, dank seiner doch irgendwo in seiner Substanz verhafteten Willensstärke, sich nicht zu übergeben. Stattdessen zog er seine Marke und eröffnete dem Kellner. „Ich ermittle – stören sie mich nicht!“
Eine Mutter mit Kind querte die Szenerie; das Kind, eine etwa fünfjährige Göre mit schiefem Pony und Nerd-Brille merkte an: „Schau mal Mama, dieser Penner da!“
Das war der Tiefpunkt. Der absolute Tiefpunkt. Entweder das ist das Ende, oder der Anfang.