Читать книгу Das Meer - Blai Bonet - Страница 13
Оглавление8 | ANDREU RAMALLO |
Heute Morgen bin ich nach dem Signal, das die Bettzeit beendet – der vorbeifahrende Zug ist das Signal –, auf die 38 gegangen.
Die 38 ist ein Zimmer für sechs: Esteve Padrón, Mateu Sureda, Jordi Rotger, Andreu Coll, Antoni Rosell und Jaume Galindo. Im Zimmer herrscht ein dicker, beißender Gestank. Die Luft stinkt nach schwefeligem Triom, reinem Alkohol, Schweiß und Kölnisch Wasser. Jaume Galindo lungert allein herum, seinen Kopf hat er auf die rechte Schulter gelegt. Die anderen sind auf der Galerie, halbnackt, nur den Kittel über den Pyjama geworfen. Mit rasierklingenscharfen Messern basteln sie wie Gefangene in einer Strafanstalt an filigranen Tabakdosen. Jaume Galindo, der seitlich auf dem Bett liegt, hat einen kleine Waschschüssel vor sich, eine grüne, saubere und mit Wasser gefüllte Schüssel.
„Wie geht’s, Galindo?“
„Hm … Du siehst doch.“
„War der Arzt schon da?“
„Ja.“
„Was hat er gesagt?“
„Dass sie mir, sobald es möglich ist, eine Thorakoplastik über neun Rippen verpassen müssen. Sobald es möglich ist.“
„Verdammt!“
„Dass ich es meiner Familie erklären soll, wenn sie mich besuchen kommt. Ich weiß schon nicht mehr, wie ich es ihnen beibringen soll.“
„Eine Plastik ist heute kein Problem mehr. Schau dir den Laborda an, den Martí, den Segú, die sind die Gesündesten des ganzen Pavillons. Ihre Tests waren negativ. Sie alle haben drei rote Kreuze … Sie hatten drei Kreuze schon vor mehr als einem Jahr.
„Die meisten von uns …“
„Ja?“
„Bei den meisten wird die Kaverne der Lunge vergrößert. Bei uns auch. Wir wissen, dass es uns umbringt und haben doch keine Wahl. Das ist wie eine Ekstase.“
„Weißt du, was mir aufgefallen ist?
„Was?“
„Wenn ich in die Kirche gehe, die heilige Kommunion empfangen, passiert mir genau das. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch, als hätte ich eine Nacht lang durchschlafen können.“
„Mir hat ein Priester gesagt, dass man die Sünden des Fleisches mit dem Leben abbezahlt, solange man auf der Erde lebt. Das hat mich beeindruckt.“
„Das hat er gesagt?“
„Aber ja. Ich lag im Bett. Sechs Monate ist das her. Um Ostern herum. Die österliche Pflicht. Ich musste im Bett beichten.“
„Boah!“
„Eine Stunde etwas Horror. Nichts Außergewöhnliches eigentlich, aber er kommt in deinen Schlafraum; man küsst ihm die Hand; man müht sich, mehr oder weniger sympathisch rüberzukommen, weil man unbesorgt scheinen will, aber das schafft man nicht. Man fühlt, dass man es nicht schafft.“
„Ich könnte nicht im Bett beichten, was glaubst du?“
„Die ganze Schmach fällt auf die Familie zurück. Du weißt nicht, wie du es erklären sollst, aber … Die Familie geht hinaus, weil du beichtest. Man sieht hinterher, wie sie die Tür schließen. Sie warten im Eingang, schweigend, vermutlich mit überkreuzten Armen, und signalisieren den Frauen, die gerade vorbeikommen, mit Handzeichen durch die Fenster, dass ich hier hinten gerade beichte. Nachdem der Priester das Haus verlassen hat, herrscht zwischen einem und der Familie eine gewisse Anspannung. Jemand zieht den Stuhl, der beim Bett stand, etwas zur Seite, etwas langsamer als sonst … Man könnte sich daran gewöhnen, aber nicht, wenn die Familie zuschaut.“
„So was passiert mir auch, du. Vor allem mit meiner Mutter. Manchmal tritt sie in mein Zimmer, ohne zu wissen, dass ich dort bin und mich umziehe. Und wenn ich daran denke, dass sie mich nackt gesehen hat, meine staksigen Beine, hindert mich das den ganzen Tag daran, ihr in die Augen zu sehen. Weil man denkt – ohne zu wissen warum –, das letzte Mal, dass sie uns nackt sahen, war, als wir etwa acht gewesen sein dürften, und jetzt, wenn sie uns so hochgeschossen sehen, werden sie an all das Schlechte denken, das wir angestellt haben, seit sie uns das letzte Mal halfen, die Hose anzuziehen.“
Jaume Galindo hatte ein Säckchen mit Sand auf seiner linken Seite ruhen, gleich beim Schlüsselbein. Der Stoff dieses Säckchens war verschmutzt; siebenhundert Patienten dürften es für die Autokoagulation schon benutzt haben. Er hob es für einen Moment an («Dieser Sand beginnt doch schwer zu werden, du!») und legte es auf das Kissen. Ohne das Säckchen auf seinem Schlüsselbein sah Jaume Galindo nicht mehr so krank aus, er wirkte normaler, sympathischer, wie Militärs, wenn sie sich locker kleiden.
„Galindo.“
„Ja?“
„Hast du eine Verlobte in deinem Dorf?“
„Nein. Ich bin jetzt fünfundzwanzig und mit siebzehn war ich schon krank. Mädchen kamen mich besuchen. An Nachmittagen, im Sommer. Sie brachten mir Romane mit. Ich lieh ihnen meine Bücher. Nie hatte ich eine Verlobte. Ich bin immer allein ins Kino gegangen. Seit ich mich erinnern kann, vermisse ich solche Dinge.“
„Klingt nicht gut, du.“
Jaume Galindo legte sich das Säckchen wieder auf das Schlüsselbein. Er hatte roséfarbene Wangen, seine Ohren waren durchsichtig, die Lippen blass, die Haut darauf löste sich und er zog sie mit den Fingern ab. Wie beiläufig griff er mit einer Hand nach der Schale und legte die andere auf den Mund.
Die Hilfsschwester Carmen Onaindia kam, um die Schale zu leeren, dreimal bereits. Es war karmesinrotes, schimmerndes, warmes Blut, seines. Die Hilfsschwester leerte die Schale ins Waschbecken.