Читать книгу Wandern ist doof - Blanca Imboden - Страница 15
Zweifel, 8 Buchstaben: BEDENKEN
ОглавлениеAm Morgen, als ich endlich ruhig schlafe, weckt mich meine Tante Thea. Selber schuld. Ich hätte mein Handy ausschalten sollen. Ich kann ja nicht von meinem Umfeld erwarten, meine wechselnden Arbeitszeiten zu durchschauen. Meine Tante meint, weil ich keine Eltern mehr habe, müsse sie ein wenig auf mich aufpassen. Dabei ist sie wirklich nicht die ideale Aufpasserin, sondern selber ein verrücktes Huhn, auf welches man ein Auge haben sollte. Auch mit siebzig ist sie noch lange nicht im Ruhestand, sondern tut alles, was ihr gerade in den Sinn kommt, und zwar sofort und hemmungslos. Sie reist nach Indien, lernt in der Volkshochschule afrikanisch trommeln, trifft sich mit Unbekannten aus dem Internet oder organisiert Demonstrationen gegen Diskriminierung im Alter. Sie schreibt für ein Seniorenmagazin und hat schon Hausverbot in drei Altersheimen, weil sie als Unruhestifterin gilt, welche die Heimbewohner aufwiegelt.
Irgendwie hat sie meine ganze Bewunderung, meine Tante Thea. So möchte ich auch mal sein mit siebzig: unangepasst und jung im Geiste. Aber es reicht, wenn Andrea zurzeit meint, sie müsse mich bemuttern. Daher reagiere ich ein wenig aggressiv auf Tante Theas morgendliche Fragerei.
»Warum schläfst du noch? Hast du dir die Nacht um die Ohren geschlagen? Bist du überhaupt alleine?«
Wahrscheinlich würde sie sich sogar freuen, wenn ich mit einem Liebhaber zuerst heiße Orgien gefeiert und jetzt verschlafen hätte. Das unterscheidet sie sehr von meinen Eltern. Tante Thea würde mir einfach alles gönnen, solange es mir gut dabei geht.
»Warum bist du denn so schlecht gelaunt? Warum kommst du so selten vorbei? Muss ich dir wirklich erst wieder androhen, dass ich bei dir einziehen werde, falls du mich nicht öfter besuchst?«
Tante Thea löchert mich mit ihren Fragen. Bald bin ich nur noch ein einziges Loch. Und dabei bin ich noch gar nicht richtig wach. Natürlich verspreche ich ihr, sie morgen zu besuchen, damit sie Ruhe gibt und ich weiterschlafen kann.
Diese Frau! Wie muss die erst drauf gewesen sein, als sie jung war und noch mehr Energie hatte? Unvorstellbar. Meine Mutter hat Thea gehasst und geliebt, verurteilt und bewundert, alles gleichzeitig. Ich habe beschlossen, sie zu lieben, und meist tue ich das auch. Ich schalte mein Handy stumm und schlafe wieder ein. Eine Stunde später weckt mich Andrea. Sie klingelt an meiner Wohnungstür Sturm. Nein, ich kann sie nicht davor stehen lassen, auch wenn die Versuchung gerade groß ist. Wir sind neulich nicht so nett auseinandergegangen.
»Hi, Liebes«, sagt Andrea, küsst mich, drückt mir die Post in die Hand und schlüpft aus ihren Schuhen. »Wenn du Kaffee machst, habe ich die Brötchen dazu. Im Hotel haben sie mir gesagt, dass du am Morgen freihast. Du hast doch noch nicht gefrühstückt, oder?« Aus ihrer großen Handtasche, heute so pink wie ihre Pumps, duftet es verlockend. Freundinnen sind wirklich eine gute Erfindung.
Andrea ist seit zwei Jahren meine beste Freundin. Wir sind ein ungewöhnliches Paar und hätten uns wohl unter normalen Umständen nie kennen gelernt. Aber das Schicksal half mit. In einem Parkhaus in der Frankfurter Innenstadt betraten wir gemeinsam den Lift und saßen geschlagene sechs Stunden darin fest. In dieser Zeit hat sie mehr über mich erfahren, als irgendein anderer Mensch je erfahren wird, und auch sie erzählte mir ihre sämtlichen Geheimnisse. Wir waren zwei Fremde und verließen den Lift als Freundinnen, so nahe waren wir uns gekommen. Frank hat das nie verstanden. Er hat Andrea immer nur »die verrückte Blondine« genannt. Mir tut es gut, dass sie anders ist als ich. Aber natürlich birgt das auch Konfliktpotenzial. Wir streiten uns häufig und sind selten einer Meinung.
Andrea wirft mir beispielsweise vor, mich gehen zu lassen, bloß weil ich kein Interesse an den neuesten Modetrends zeige, und vor allem, weil ich gern bequeme Schuhe trage. Andrea ist überzeugt, dass Schuhe mehr sind als nur ein Kleidungsstück.
»Schuhe drücken aus, wo du gerade stehst im Leben, und vor allem, wohin du noch willst«, hat mir Andrea neulich erklärt. Gut, sie ist Schuhverkäuferin, und seit sie Geschäftsführerin einer Schuhladenkette ist, muss sie noch mehr über Schuhe nachdenken. Auch ich trage gerne schöne Schuhe. Manchmal, zu besonderen Gelegenheiten. Aber doch nicht immer! Andrea meint, mit meinen flachen Tretern würde ich ausdrücken, dass ich nicht mehr sexuell attraktiv sein wolle und kein Interesse an Männern hätte.
Stimmt genau!
Hundert Punkte für Andreas Schuh-Psychologie!
Ich will es im Moment vor allem bequem und gemütlich haben. Was sollte ich auch mit einem Mann, der sich vor allem für meine Schuhe interessiert?
Andrea schimpfte neulich erbost: »Du solltest dich mal selber filmen, Conny. In deiner Freizeit hängst du hier oben auf deiner Dachinsel herum und löst Rätsel. Wie ein altes Weib! Du wirst irgendwann versauern und eine unzufriedene alte Schachtel werden.«
Manchmal ist Andrea etwas verbohrt und sieht alles nur aus ihrer Perspektive. Ich arbeite in einem riesigen Hotel und sehe jeden Tag Hunderte von Menschen. Einige lerne ich auch kennen, manchmal näher, als mir lieb ist. Es ist also keineswegs so, dass ich mich von der Welt zurückziehe. Warum sollte ich in meiner Freizeit nicht ein wenig alleine sein dürfen? Andrea ist anders. Sie liebt Partys, kennt immer die neusten Klubs, die angesagtesten Events. Frankfurt bietet viel, wenn man genügend Kondition und das entsprechende Kleingeld hat. Letzteres wiederum ist der wunde Punkt in Andreas Leben. Als Geschäftsführerin geht es ihr jetzt zwar besser als auch schon, aber sie gibt ständig ihren letzten Euro für modischen Kram aus, und ohne die winzigste Rücklage gerät sie zwischen den Zahltagen manchmal ordentlich in Bedrängnis. Wussten Sie, wie viel Geld man für Schuhe ausgeben kann, die nur schön sind, aber keineswegs bequem oder praktisch? Und dass die passende Handtasche zum Schuh in dieser Preisklasse ein Muss ist und ebenfalls ein Vermögen kostet?
Beim Frühstück meint Andrea dann: »Du hast recht. Geh du ruhig in die Schweiz. Weißt du, ich bin manchmal voreilig mit meinen Urteilen. Wir sind ja auch ziemlich verschieden. Also geh auf diese Reise und finde dein Glück. Hör nicht auf mich.«
Ich schaue sie prüfend an. Warum ist sie plötzlich so einsichtig? Sie weicht meinem Blick aus und tunkt stattdessen eifrig ihr Brötchen in den Kaffee, als erfordere dies ihre volle Konzentration.
»Geht es dir gut?«, frage ich vorsichtig.
Andrea lacht, aber es klingt nicht fröhlich.
»Du weißt, ich habs halt gerne ein wenig gestylt, und ich mag Typen, die etwas hermachen und die in den richtigen Lokalen verkehren. Aber gestern bin ich mit so einem richtig auf die Nase gefallen. Ich mag gar nicht darüber reden. Außen hui und innen pfui, total pfui.«
Sie schiebt ihren Blusenärmel hoch und zeigt mir blaue Flecken an ihrem Arm. Andrea wehrt aufkommende Fragen sofort ab: »Lass uns nicht darüber reden. Es ist nichts passiert. Aber es hätte schlimm werden können. Heute Morgen kam mir die Erleuchtung. So ein fescher Schweizer Bauer wäre vielleicht doch eine Alternative, die man ins Auge fassen sollte.«
Sie lacht wieder verkrampft, und ich lasse sie erst mal mit ihrem Spruch durchkommen. Sie wird schon erzählen, wenn sie will und kann, nur eben nicht jetzt. Allerdings finde ich die Vorstellung, Andrea könnte am Arm eines bärtigen Schweizers im Hirtenhemd daherkommen, ziemlich amüsant.
»Vielleicht sollte ich mitkommen«, sagt sie plötzlich. »Aber in Morschach gibt es sicher mehr Kühe als Männer. Da will ich dir nicht im Wege stehen.«
»Haha! Ich werde wenig Gelegenheit haben, Schweizer kennen zu lernen, da ich mich ja in einer Horde von deutschen Singles bewege«, gebe ich zu bedenken. Andrea geht nicht darauf ein. Sie nimmt sich mein angefangenes Kreuzworträtsel, das auf dem Küchentisch liegt, um ganz vom Thema abzulenken. Sie weiß, dass ich das nicht mag. Schnell findet sie meine Wissenslücke.
»Designerin, acht Buchstaben … hmmmm … Westwood!«
Andrea löst mein Problem ohne jede Anstrengung.
»Vivienne Westwood. Die könntest sogar du kennen, wirklich. Und außerdem: Wofür gibt es eigentlich Wikipedia und Google? Dadurch hat das Kreuzworträtseln noch den allerletzten Reiz verloren, falls es jemals einen hatte.«
Es hat keinen Sinn, Andrea zu erklären, dass mein Ehrgefühl mich davon abhält, im Internet nach Lösungen zu suchen. Nur in ganz besonders hartnäckigen Fällen und bei besonders lukrativen Preisrätseln werde ich meinen Prinzipien untreu. Ich lache oft selber über mich. Vielleicht werde ich wirklich langsam schrullig, und das schon mit 35?
Andrea verabschiedet sich bald, und ich umarme sie ganz fest, bevor sie geht.
»Heute kommt übrigens eine besondere Lieferung. Total geile Schuhe. Vielleicht kommst du mal wieder vorbei und holst dir den absoluten Knallerschuh für deine Ferien?«
Ich lehne dankend ab: »In Stöckelschuhen durch die Schweizer Berge? Eher nicht.«
Beim Durchsehen meiner Post entdecke ich schon meine Reiseunterlagen. Und siehe da, ich brauche tatsächlich neue Schuhe. Wanderschuhe.
Eine ausführliche Packliste zeigt mir, was alles in mein Gepäck gehört: Stöcke, Rucksack, große Thermosflasche, Regenschutz, Hut, Bettflasche (für Leberwickel) … Jetzt wird es doch noch teuer, denn ich besitze nichts davon.
Leberwickel?
Stöcke?
Was haben die denn mit mir vor?
Die Ungewissheit macht mich zunehmend nervös. Immerhin steht da nichts von Seil, Steigeisen und Helm. Aber was ich über die Fastenkur lese, gibt mir den Rest. Man erwartet von mir, schon daheim drei Entlastungstage zu machen. Kein Kaffee, keinen Alkohol, kein Fleisch, kein Nikotin. Nur leichte Kost. In Morschach wird es dann nur noch Säfte geben. Wasser, Fruchtsäfte, Tee, Gemüsebouillon. Fertig. Ich glaube, ich werde noch einen winzigen Notvorrat einpacken. Kekse, Schokolade und so. Man weiß ja nie. Kann man denn überhaupt überleben nur mit Säften und Tee? Und dazu noch wandern? Hat man dann noch die Kraft, balzende Männer auf Distanz zu halten?
Da habe ich mir ja etwas Schönes eingebrockt.
Im Internet suche ich nach Infos über Fastenkuren und hoffe auf beruhigende Erkenntnisse. Ach, es soll ja richtig gesund sein, lese ich da: »Der Körper befreit sich während einer Heilfasten-Kur von allem, was ihm schadet. Giftstoffe und Schlacken werden ausgeschieden. Das Heilfasten ruft den eigenen inneren Arzt auf den Plan und löst Stauungen und Blockaden auf allen Ebenen. Viele chronische Gesundheitsprobleme bessern sich oder heilen vollständig.«
Aha. Ich werde vielleicht verhungern, aber das wird mir guttun. Irgendwo lese ich, dass beim sachkundig durchgeführten Fasten gar keine Hungergefühle entstehen. Gut zu wissen, aber schwer vorstellbar. Ich entdecke auch den Artikel eines Wissenschaftlers, der Heilfasten völlig bescheuert findet und betont, Schlacken seien eine Erfindung irgendwelcher dämlicher Gesundheitsgurus der Neuzeit, die mit Fastenkuren Geld machen wollten. Diese Aussage merke ich mir. Dann stöbere ich in verschiedenen Foren und verliere ein wenig den Schrecken vor der Saftkur. Es gibt Leute, die vollkommen euphorisch ihre Fastenerlebnisse schildern. Sie berichten von Glücksgefühlen der besonderen Art und geistigen Höhenflügen.
Ich beschließe, nicht mehr zu viele Gedanken an das Fasten zu verschwenden und den Urlaub als Herausforderung zu betrachten.
Wenn es so weitergeht, wird auch mein Job immer mehr zur Herausforderung. Schon als ich in den Personalraum komme und plötzlich alle verstummen, merke ich, dass etwas im Busch ist. Man hat über mich geredet, eindeutig. Seit wann biete ich Stoff für Klatsch und Tratsch? Ute hat einen roten Kopf und steht sofort auf. Sie hat Feierabend für heute. Ich suche ihren Blick, aber sie schaut an mir vorbei. Setzt sie irgendwelche Gerüchte über mich in die Welt? Ihre Eifersucht und ihr Neid werden mir irgendwann noch zu schaffen machen.
Kaum an der Rezeption angekommen, ruft Neumann mich in sein Büro. Na, heute liegt aber wirklich etwas in der Luft.
»Frau Oswald, ich habe keine Zeit, groß herumzureden«, setzt er zu seiner Rede an. »Sie wissen ja, dass mein Stellvertreter schwer krank ist, und wir müssen davon ausgehen, dass er nicht mehr für uns tätig sein wird.«
Dass Weber Krebs hat, war mir bekannt, aber ich wusste nicht, wie schlecht es um ihn steht.
»Ich muss in der kommenden Woche für vierzehn Tage verreisen. Es ist dringend und privat. Ich möchte Sie zu meiner Stellvertreterin machen.«
Ungefragt lasse ich mich auf den Sessel vor Neumanns Riesenschreibtisch fallen. Ich bin vollkommen platt.
»Sind Sie interessiert?«
Bin ich?
Die Position bedeutet mehr Arbeit, mehr Verantwortung, mehr Geld, aber auch mehr Neumann. Als seine Stellvertreterin hätte ich ständig mit ihm zu tun. Ich mustere ihn kritisch.
»Ich bin überzeugt, dass wir durchaus sehr gut und korrekt miteinander arbeiten können«, bemerkt Neumann und schaut mich offen an, als könne er meine Gedanken lesen. »Haben Sie Zweifel?« »Nein, eigentlich nicht«, antworte ich und halte seinem Blick stand. Ich glaube, zwischen uns ist wirklich alles klar.
»Ich halte Sie für extrem kompetent, und statt jemanden von außen zu suchen, fände ich diese Lösung ideal.«
Er breitet Papiere vor mir aus.
»Hier ist der Aufgabenbereich meines Stellvertreters detailliert aufgezeichnet. Das hat Weber noch gemacht, bevor er aufgeben musste. Hier ist Ihr neuer Vertrag, selbstverständlich mit einem neuen Lohn. Sagen Sie mir morgen Bescheid.«
Er steht auf. Die Audienz ist beendet. Ratlos schleiche ich mich in mein Büro.
Neumann offeriert mir eine Karriere in seinem Haus?
Will ich das?
Ute wird immer denken, ich hätte mir diese Beförderung erschlafen, weil ich mich ihr einmal anvertraut habe, als Neumann mir zu nahe gekommen war. Ich werde es nicht leicht haben mit ihr. Und sonst? Ich habe mich enorm für das Hotel eingesetzt und werde jetzt dafür mit mehr Verantwortung und höherer Bezahlung belohnt und muss mir nicht täglich am Empfang die Beine in den Bauch stehen. Ich erbe den Job von einem Kollegen, der schwer krank ist, und das ist natürlich traurig. Aber Weber war derart unbeliebt wegen seiner Launen, dass es möglich sein müsste, in seine Fußstapfen zu treten.