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1 Tränen und Thonbrötchen

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Wie viele Tränen hat ein Mensch?

Ich habe es heute gegoogelt. Wissenschaftler behaupten, dass ein Mensch in seinem Leben durchschnittlich fünf Millionen Tränen, also etwa achtzig bis hundert Liter Tränenflüssigkeit, vergieße – das ist mindestens eine Badewanne voll. Weil es ethisch fragwürdig sei, Experimente mit Trauernden zu machen, seien diese Angaben allerdings nicht so genau. Am meisten werde nämlich – so hat man immerhin festgestellt – um den Verlust eines Menschen geweint.

Aha!

Eben!

Ich selber habe im letzten Jahr diese Badewannen-Durchschnittswerte überboten. Mehrfach überboten.

Eine menschliche Träne wiege rund fünfzehn Milligramm, las ich weiter.

Meine waren schwerer.

Viel schwerer.

Tonnenschwer.

Gerade gestern bin ich wieder einmal in Tränen ausgebrochen. Peinlich! Eigentlich passiert mir das sonst nicht mehr oft. Zumindest nicht in so unmöglichen Situationen. Ich war im Einkaufszentrum und entdeckte eine Aktion: »Thonbrötchen. Zwei für eins«. Ich stand da, schaute auf die Thonbrötchen und heulte. Einfach nur, weil ich keine mehr kaufen muss. Nie mehr. Weder eines noch zwei.

Mario liebte Thonbrötchen.

Ich nicht.

Tatsächlich habe ich nach seinem Tod noch einige Thonbrötchen in meinen Einkaufswagen gelegt und sie sogar gegessen. Mario hätte mich ausgelacht, hätte er mich sehen können. Und eigentlich hoffe ich ja, dass er tatsächlich noch irgendwie hier ist, um mich herum, und alles sieht und spürt. Ich weiß natürlich, dass ich meine Liebe zu ihm nicht mit solch lächerlichen Aktionen unter Beweis stellen muss. Bestimmt nicht mit dem Kauf von Thonbrötchen. Wirklich nicht.

Trotzdem: Ich stand gestern mitten im Einkaufszentrum und habe geweint. Wegen dieser Brötchen. Wegen Mario. Wegen allem. Und ich habe mich geschämt.

Mein Mann Mario ist vor einem Jahr gestorben. Ich sollte mich langsam besser im Griff haben. Ich merke, dass Verständnis und Mitgefühl in meinem Umfeld nachlassen. Als hätte Trauer ein Ablaufdatum, und ich hätte jetzt, nach einem Jahr, kein Recht mehr darauf.

Aber das Umfeld kontrolliert genauso, ob man nicht etwa zu früh wieder lacht. Es gab ganz merkwürdige Reaktionen, als ich ein paar Wochen nach Marios Tod irgendwo öffentlich mit einer Freundin herumgealbert hatte und es ihr gelungen war, mich einen Moment lang alles vergessen zu lassen. »Sie lacht schon wieder«, tuschelte man hinter vorgehaltener Hand. Aber nicht etwa voller Freude, sondern missgünstig und vorwurfsvoll. Als müsste man daraus schließen, dass ich ihn zu wenig geliebt habe, meinen Mario.

»Mama, bist du da?«

Meine Tochter Marie steht plötzlich vor mir. Sie wohnt nicht mehr hier, platzt aber wie immer ohne Vorwarnung in meine Privatsphäre und erschreckt mich damit fürchterlich. Natürlich möchte ich sie nicht vor den Kopf stoßen und traue mich nicht, sie zu bitten, jeweils zu klingeln, bevor sie ihren Schlüssel benützt. Unsere Beziehung ist ohnehin grad nicht so einfach. Darum begrüße ich sie herzlich, ohne meine Gedanken zu äußern.

»Du hast wieder geweint«, sagt Marie verständnisvoll und lässt sich zu mir auf das Sofa plumpsen. Und ich weiß, es werden keine zehn Minuten vergehen, bis auch sie in Tränen ausbricht.

Marie war Papas Liebling. Sie war das verwöhnte Einzelkind, und Papa war der Beste, der Größte, das Maß aller Dinge. Sie wollte ihn heiraten, als sie noch ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen war, und später mussten alle ihre möglichen Heiratskandidaten neben ihm bestehen können. Das war schwierig, hatte sie Mario doch auf einen sehr hohen Sockel gestellt. Mag sein, dass sie deshalb noch immer allein ist.

»Was hast du heute gemacht?«, fragt sie jetzt und lehnt sich an mich. Sie riecht nach Leben und nach Frühling. Ich atme ihren Duft ein, ganz tief, und gestehe dann: »Ich habe die Kleider von Mario zusammengeräumt. Morgen ist Altkleidersammlung.«

Und schon weint sie. Ich wusste es.

»Wie konntest du nur!«, schnaubt Marie und putzt sich aufgebracht die Nase.

Ich frage leise: »Wie lange hätte ich denn noch warten sollen? Es ist doch gut, wenn sonst jemand Freude an Papas Sachen hat. Das würde ihm gefallen.«

»Wieso musste das überhaupt sein? Haben dich seine Kleider denn gestört? Du hast doch riesige Schränke!«

Maries Fragen klingen vorwurfsvoll. Sie tun mir weh, aber ich habe nichts anderes erwartet.

Ich bleibe ganz ruhig, wähle meine Worte mit Bedacht und frage: »Wann, denkst du, hätte ich die Kleider denn weggeben dürfen? In zwei Jahren? In drei? Du kommst zu Besuch und möchtest, dass hier alles immer genau gleich bleibt. Aber das ist weder ein Mausoleum noch ein Museum. Ich lebe hier. Und ich werde hier noch viel mehr Dinge verändern, nach und nach.«

Marie kann es nicht fassen.

»Ihr wart dreißig Jahre zusammen. Dreißig! Und du räumst Papa einfach aus deinem Leben, sobald er tot ist?«

Ich atme tief durch.

Zweimal.

Damit ich nicht mit einer ganz und gar unfreundlichen Antwort herausplatze.

»Marie … ich bitte dich! Es ist schon ein Jahr her, dass dein Vater von uns gegangen ist. Auch du lebst doch wieder dein Leben, trauerst nur noch ab und zu, hast den Schmerz vielleicht für immer in deinem Herzen, genauso wie die Liebe zu ihm. So geht es mir auch. Ich möchte wieder vorwärtsschauen. Dazu gehört aber auch, dass hier nicht alles weiterhin so aussehen kann, als käme Papa grad wieder zur Tür herein.«

Marie putzt sich umständlich die Nase.

»Wenn es Dinge gibt, die dir besonders viel bedeuten, dann nimm sie mit«, schlage ich großzügig vor.

Sie schnaubt eingeschnappt: »Was willst du denn sonst noch alles wegwerfen?«

Will sie das wirklich wissen? Wohl kaum.

Ich antworte nur: »Ich werde nicht über jeden Gegenstand mit dir diskutieren.«

Ich weiß, Marie trauert.

Aber es gibt Grenzen. Und es scheint, dass ich diese langsam, aber sicher setzen muss.

»Ich wünschte, ich könnte Papa auch einfach so abhaken«, sagt meine wunderschöne Tochter, wirft ihr langes rotes Haar zurück und steht auf. »Ich gehe dann mal wieder. Ich wollte nur schauen, wie es dir geht. Und es scheint dir ja sehr gut zu gehen.«

Marie rauscht beleidigt und verletzt davon und lässt die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen.

Peng.

Wie eine Ohrfeige.

Schwierig.

Alles ist so schwierig.

Ich versuche, mir einzureden, dass ihre Wut nicht wirklich etwas mit mir zu tun hat. Und dass sie mich irgendwann verstehen wird.

Wir trauern beide um den gleichen Mann, nur halt eben anders, ganz anders. Anfangs hat uns die Trauer noch verbunden, als wir beide schockiert und fassungslos am Grab standen. Wir hielten uns an den Händen. Es war fast nicht auszuhalten: Zehn Tage zuvor hatten wir noch Marios zweiundfünfzigsten Geburtstag mit einem ausgelassenen Fest gefeiert. Am nächsten Tag fiel er beim Training vom Hometrainer und war wohl sofort tot. Herzstillstand. Ich muss nicht viel später aus der Küche gekommen sein, aber ich konnte nichts mehr tun. Diese Szene hat sich tief in meine Erinnerung eingegraben. Ich träume davon und schrecke nachts schweißgebadet auf. Auch wenn ich mich an schöne Erlebnisse mit Mario erinnern will, kommt mir immer dieser Moment in die Quere: Ich finde ihn am Boden liegend vor und gerate in Panik. Und ich weiß sogar noch, welches Lied von Udo Jürgens gerade aus der Stereoanlage dröhnte:

Wie könnt’ ich von dir gehen?

Mario konnte es.

Mario war ein eingefleischter Fan von Udo Jürgens. Als der Sänger 2014 als Achtzigjähriger bei einem Spaziergang in Gottlieben bewusstlos zusammenbrach und trotz Wiederbelebungsversuch an Herzversagen starb, betonte Mario immer wieder, dass er sich genau so einen Tod wünschen würde, irgendwann. Das sei doch eine Gnade, ein Geschenk.

Gnade?

Geschenk?

Vielleicht für ihn.

Für mich war es die Hölle. Und aus dieser Hölle habe ich mich noch immer nicht wirklich befreit. Und jedes Mal, wenn ich einen ersten Schritt mache, dann gibt mir ganz bestimmt jemand zu verstehen, dass es noch viel zu früh dafür sei. Viel zu früh.

Woher wissen die das?

Wer bestimmt das?

Seit ein paar Wochen besuche ich eine Trauergruppe. Diese hat mich dazu angestachelt, Marios Kleider wegzugeben. Gut, es gab da auch noch die Anregung, ein paar besondere Stücke zu behalten. Oder aus ein paar alten Hemden ein Kissen zu nähen. Schöne Ideen. Ich habe einfach Marios Schlafanzüge sorgfältig in meine Kommode umgeräumt und ziehe sie regelmäßig an. Sie riechen nicht mehr nach Mario, aber sie erinnern mich an seine Wärme, seine Umarmungen.

Es ist schwierig, mit einem Verlust umzugehen, mit dem Loslassen anzufangen, wenn die ganze Wohnung so aussieht, als würde der Verstorbene gleich wieder heimkommen: die Finken beim Hauseingang, die Jacke an der Garderobe, die Aktentasche im Flur, die Zahnbürste im Glas und die Bierflaschen noch immer im Kühlschrank.

Warum kann Marie mich nicht verstehen?

Warum versucht sie es gar nicht erst?

Marie wünscht sich, dass sich hier nichts verändert.

Ich aber weiß, dass ich Veränderungen brauche.

Und nein, ich räume Mario nicht aus meinem Leben.

Ha! Als ob man so was könnte! Und als ob ich das jemals wollte! Mario wird immer ein Teil von mir bleiben.

Rigi

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