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5 Trösten ist die Königsdisziplin

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Beim nächsten Trauertreffen spürt man deutlich, dass sich etwas verändert hat. Die Atmosphäre, die Stimmung, die Gruppe hat sich verändert.

Rosmarie fragt: »Will jemand von einem Treffen oder einem Gespräch erzählen? Hat sich überhaupt jemand auf ein Treffen eingelassen?«

Zuerst will keiner anfangen, und dann möchten plötzlich alle erzählen.

Moritz fängt an: »Ich habe mich mit Eliane auf der Rigi getroffen, und wir hatten gute Gespräche. Zumindest sehe ich das so.«

Ich nicke.

Er fährt fort: »Dieses Treffen war für mich ein Meilenstein. Ich bin ein großes Stück weitergekommen. Mehr möchte ich dazu gar nicht sagen.«

Da alle auf mich schauen, bestätige ich seine Worte und halte mich kurz: »Es war einfach ein schöner Nachmittag mit guten, sehr persönlichen Gesprächen.«

Vielleicht bilde ich es mir ein, aber es wirkt, als habe sich Moritz’ Körperhaltung verändert. Er sitzt viel aufrechter und lockerer auf seinem Stuhl. Und er trägt heute statt seines ewigen karierten ein widerlich buntes Hemd. Ich frage mich, ob er das von ganz, ganz hinten aus seinem Kleiderschrank gezupft oder neu erstanden hat.

»Hast du deshalb heute kein Foto deiner Mutter neben deine Kerze gelegt?«, fragt Rosmarie.

Moritz nickt und sagt nichts dazu.

Die religiöse Doris und Eva, die ihr Kind verloren hat, haben sich nicht getroffen.

»Aber wir haben einige E-Mails ausgetauscht«, sagt Eva, und Doris doppelt nach: »Fast jeden Tag. Wie Brieffreundinnen.«

Rosmarie platzt fast vor Stolz, weil ihr Experiment gelungen ist. Am Anfang unserer Treffen hätte sie sich nun wie wild Notizen gemacht. Aber das haben wir ihr abgewöhnt. Seither zeichnet sie die Gespräche einfach über ihr Handy auf. Wir sind damit einverstanden. Es stört uns nicht, ihre ständigen Notizen hingegen verunsicherten uns und machten uns nervös.

Marie-Theres, unsere Älteste, hat Anita, die erst gerade ihren Mann auf tragische Weise verloren hat, bei sich zu Kaffee und Kuchen eingeladen.

Marie-Theres berichtet: »Anita war schockiert, zu erfahren, wie wenig ich mich in den letzten drei Jahren von meinem Köbi habe lösen können. Sie fand, das mache ihr überhaupt keine Hoffnung, keinen Mut. Das hat mich irgendwie wachgerüttelt.«

»Möchtest du mehr dazu sagen? Wird sich etwas ändern? Hat sich etwas geändert?«, fragt Rosmarie.

Marie-Theres nickt und sagt zu Anita: »Magst du es ihnen erzählen?«

Anita zögert zuerst, aber dann platzt sie heraus: »In Marie-Theres’ Wohnung wird man erschlagen vor lauter Fotos und Andenken an ihren Köbi. Aber das ginge ja alles noch …«

Sie zögert wieder, doch Marie-Theres nickt ihr zu. Also erzählt Anita weiter: »Was mich wirklich umgehauen hat – Marie-Theres hat immer noch Köbis Urne zu Hause, und sie liegt bei ihr im Ehebett.«

Einen Moment lang schweigen alle. Dann wird es unruhig. Jetzt reden alle gleichzeitig oder murmeln irgendeine Betroffenheitsbekundung. Doris bekreuzigt sich und fragt sich wohl gerade, ob das vielleicht eine Sünde sein könnte.

Verboten ist es jedenfalls nicht. In der Schweiz können wir mit der Asche der Verstorbenen machen, was wir wollen. Es besteht keine Friedhofspflicht wie etwa in Deutschland. Trotzdem: Auch ich habe noch nie von einem Fall wie diesem gehört. Mir selber wäre so etwas im Traum nie in den Sinn gekommen.

Ich habe vor Jahren einmal für eine Zeitung ein Interview mit einem Bestatter gemacht. Er zeigte mir allerlei Verrücktes, was man mit Asche von Verstorbenen anstellen kann. Sie sich um den Hals hängen beispielsweise, in eigens dafür hergestellten Anhängern. Sogar Diamanten werden aus Asche gemacht – oder aus Haaren. Die kosten dann richtig viel Geld, also mehrere tausend Franken. Ein Konsumentenmagazin hat da einmal darüber berichtet und bemängelt, dass niemand beweisen könne, dass so ein Diamant wirklich aus der Asche des Verstorbenen hergestellt worden sei.

Rosmarie hat sich als Erste wieder gefangen und fragt Marie-Theres: »Was gibt dir das – die Urne neben dir im Bett? Wie fühlt sich das an?«

Marie-Theres zuckt etwas hilflos mit den Schultern. »Anfangs war es einfach so, dass ich Köbi noch etwas bei mir haben wollte. Es fühlte sich gut an.«

Rosmarie bohrt weiter: »Und jetzt?«

»Jetzt wäre ich längst bereit, die Asche an den Ort zu bringen, den sich Köbi gewünscht hat. Aber ich kann das nicht allein. Und von meiner Verwandtschaft kann ich keinen fragen, weil die ja alle denken, Köbis Asche sei in der Urne gewesen, die bei der feierlichen Bestattung im Gemeinschaftsgrab versenkt wurde.«

Das kann ich verstehen.

Rosmarie fragt: »Wo wollte Köbi denn begraben werden?«

»Auf Rigi Kulm«, sagt Marie-Theres. »Ganz oben. Da war er immer so gern. Mein Köbi war ja sportlich bis zum Schluss. Die Rigi war sein Lieblingsberg. Er war öfter da oben, als es mir lieb war.«

Rosmarie fragt: »Was möchtest du jetzt tun? Wie können wir dir helfen?«

»Ich suche jemanden, der mit mir und der Asche auf die Rigi fährt. Dann setzen wir Köbi dort bei.«

Moritz sagt sofort: »Ich bin dabei.«

Anita: »Ich auch.«

Worauf ich erkläre, dass ich gern auch mit von der Partie sei. Auch Eva und Doris wollen mitkommen.

Rosmarie wirkt beunruhigt. Als würde ihr Experiment nun doch noch aus dem Ruder laufen. Die ganze Trauergruppe allein unterwegs?

»Ich begleite euch«, erklärt sie entschieden, allerdings mit wenig Begeisterung.

Schnell einigen wir uns auf den nächsten Donnerstag. Statt eines Abendtreffens machen wir also einen Tagesausflug.

»Das Wetter wird aber nicht gerade nett sein«, warnt Eva, die gerade auf dem Handy nachgeschaut hat.

»Das ist doch gut. Dann sind nicht so viele Leute unterwegs«, meint Marie-Theres ungerührt. »Ihr müsst wirklich nicht alle mitkommen. Aber schön ist das schon. Danke. Ich lade euch dann alle zum Mittagessen ein. Gern. Ihr seid wundervolle Pinguine!«

Wir lachen. Ja, so viele Pinguine hat die Rigi ganz bestimmt noch nie gesehen. Dieser Aufmarsch kommt einer Pinguin-Invasion gleich.

Rosmarie hat wieder eine kleine Übung für uns vorbereitet, aber es fällt ihr schwer, uns zur Ruhe zu bringen. Wir sind aufgeregt wie ein Haufen Kinder, denen man gerade den Verlauf der Schulreise vorgestellt hat.

Sie räuspert sich und bittet um Aufmerksamkeit.

»Neulich hat sich eine Frau darüber beschwert, dass man nach einem Todesfall so viele Floskeln zu hören bekomme. Vieles davon sei nicht hilfreich – im Gegenteil. Habt ihr auch solche Beispiele?«

Eva sagt wie aus der Pistole geschossen: »Gott gibt jedem nur das Päckchen mit, das er auch wirklich tragen kann. – Stimmt einfach nicht.« Dabei schaut sie eindringlich zu Doris hinüber, die leicht errötet.

Ich steuere auch etwas bei: »Die Zeit heilt alle Wunden. – Total falsch. Zeit macht alles erträglicher, das wäre vielleicht richtig. Viele Wunden heilen nie, vernarben vielleicht nur ganz langsam. Und sogar Narben können einen von Zeit zu Zeit quälen.«

Alle nicken.

Doris erzählt: »Eine Frau sagte mir, kurz nachdem mein Mann gestorben war, sie könne mit mir fühlen, denn gestern sei gerade ihr Meerschweinchen gestorben.«

Einige lachen. Aber es ist kein fröhliches Lachen.

Eva meldet sich wieder: »Du hast ja dein ganzes Leben noch vor dir. – So was ist doch kein Trost! Wenn es einem richtig schlecht geht, möchte man gar nicht das ganze Leben noch vor sich haben. Da wäre es ja tröstlicher, wenn jemand sagen würde: Du hast dein halbes Leben schon überstanden, jetzt schaffst du sicher auch noch den Rest.«

Marie-Theres bringt den absoluten Hammer: »Als mein Mann Köbi starb, lag meine Schwester Hanne im Sterben. Es ging ihr sehr schlecht, und sie brauchte viel Zuwendung. Eine Bekannte fand, das sei doch gut für mich, dass es meiner Schwester gerade so schlecht gehe. Dass ich so gebraucht werde, helfe mir jetzt sicher über Köbis Tod hinweg.«

Moritz schimpft über das Loslassen: »Alle reden immer gleich vom Loslassen. Du musst jetzt loslassen. Aber was meinen sie eigentlich damit? Vergessen und das Thema wechseln?«

Anita weint, während sie erzählt, dass man ihr kurz nach dem Tod ihres Mannes erklärt habe, sie sei ja noch so jung, dass sie auf jeden Fall bald wieder einen neuen Mann an ihrer Seite haben werde.

Eva nickt heftig und sagt: »Bei uns hieß es, wir könnten ja noch viele Kinder bekommen.«

Rosmarie streicht sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und sagt: »Gut, gut. Oder – schlecht, schlecht. Eines ist klar: Trösten ist eine ganz schwierige Sache. Ihr seid ja eigentlich Experten. Sagt mir, was ihr stattdessen hättet hören wollen oder was ihr auf einer Beileidskarte hättet lesen wollen. Was sagt ihr zu Menschen, die gerade jemanden verloren haben?«

Betretenes Schweigen.

Noch mehr betretenes Schweigen.

»Na? Wer wagt es?«, fordert uns Rosmarie heraus. Ich glaube, es gefällt ihr, dass sie uns einen Moment lang sprachlos gemacht hat.

Doris findet als Erste wieder Worte: »Mir tat es extrem gut, als eine Sozialarbeiterin meiner Pfarrei mir eine Karte schickte, auf der ganz groß ihre Handynummer geschrieben stand. Ich könne sie jederzeit anrufen. Viele haben immer wieder gesagt, ich könne sie jederzeit anrufen, aber das wirkte so dahergesagt. Aber diese große Handynummer, die zeigte mir: Sie meinte es ernst. Das tat wirklich gut.«

Allgemeines verständnisvolles Nicken im Kreis.

Da wage ich zu erzählen: »Ich habe so viele Kärtchen bekommen und ständig nach einem Trost, einem hilfreichen Satz gesucht. Es waren alles nur unpersönliche Floskeln. Bis auf eine Karte, auf der mir Orlanda – eine Freundin – riet, mich in die Dankbarkeit zu flüchten. Dankbarkeit bringe einen automatisch in eine positivere Grundstimmung. Und ich sei ja sicher für vieles dankbar, nach so vielen gemeinsamen Jahren.« Ich schweige kurz, weil ich gegen meine Tränen kämpfe, und fahre dann fort: »Es funktioniert, jedenfalls manchmal, ein bisschen.«

Das gefällt allen.

»Mir hat jemand geschrieben, Trauer sei der Preis der Liebe. Und das Einzige, was bei Trauer helfe, sei zu trauern. Das klingt auf den ersten Blick nicht sehr aufmunternd, aber ich las dann doch sehr viel Verständnis aus diesen Zeilen heraus, was mir guttat«, erzählt Anita.

Auch diese Aussage findet große Zustimmung. Man braucht oder will doch gar keine Aufmunterung, keine Kopf-hoch-Sprüche.

Doch nun kommen keine weiteren Beiträge aus der Gruppe.

Schweigen.

Rosmarie ergreift wieder das Wort: »Seht ihr, wie schwierig das ist mit dem Trösten? Seid also nachsichtig mit den Menschen um euch herum. Und ich weiß: Viele ziehen sich sogar zurück, statt auf euch zuzugehen. Weil ihnen eben auch die Worte fehlen. Daher einmal mehr mein Rat: Geht auf die Menschen zu, die ihr an eurer Seite haben möchtet. Zeigt ihnen, wie sie euch helfen könnten. Helft ihnen beim Helfen. – Bis nächste Woche können wir ja alle ein wenig Dankbarkeit üben. Und uns dann darüber austauschen, ob das wirklich geholfen hat.«

Alle sind einverstanden.

Und den Rest der heutigen Zeit widmen wir uns der Organisation unserer Reise auf die Rigi.

Rigi

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