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2 Trauern wie Pinguine

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Als ich vor zwei Monaten nicht mehr aufhören konnte zu weinen, plötzlich, ohne dass es einen besonderen Anlass dafür gegeben hätte, nicht einmal ein Thonbrötchen, suchte ich Hilfe bei meiner Hausärztin. Ich hatte schließlich einen Job und furchtbare Angst, so ein Weinkrampf könnte einmal im falschen Moment über mich kommen, vielleicht mitten in einem Interview mit einer wichtigen Persönlichkeit oder während einer Gemeindeversammlung. Ich hatte meine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle. Meine Hausärztin überwies mich an eine Psychiaterin im gleichen Haus.

Es war leicht, mich auf Frau Dr. Fuchs einzulassen. Mir gefiel die würdig ergraute Dame sofort. Ihre Augen, umrahmt von unzähligen Lachfältchen, strahlten Wärme und Empathie aus. Sie machte ein paar Tests mit mir, ließ mich zum Beispiel Farben und Formen sortieren und auswählen und hörte mir aufmerksam und verständnisvoll zu. Am Ende erklärte sie beruhigend, ich sei keineswegs krankhaft depressiv, hätte bloß eine Änderungsstörung. Sie empfahl mir ein leichtes Antidepressivum und schlug mir eine Therapie vor.

»Eine Therapie? Was soll ich da?«, fragte ich widerspenstig.

»Mit jemandem reden, der Ihnen bei Ihrer Trauerarbeit helfen kann, der Sie unterstützen kann«, erklärte Frau Fuchs ruhig.

»Ich brauche einfach Zeit. Ich brauche wohl auch keine Antidepressiva«, versuchte ich abzuwiegeln und wollte schnell wieder gehen.

»Wenn Sie alles allein schaffen, Frau Engel, warum sind Sie dann heute hier?«, fragte Frau Fuchs, und ihre Augen bohrten sich in meine.

Eins zu null für Frau Dr. Fuchs.

Zeit heilt alle Wunden.

Sagt man.

Aber ich glaube, ich saß dort auf diesem blauen Polsterstuhl bei der Psychiaterin, weil ich mir diese Zeit nicht geben wollte oder, besser: weil ich die Zeit nicht aushielt. Weil ich keine Geduld mehr hatte. Weil ich mein altes Leben zurückhaben wollte, meinen inneren Frieden, die Leichtigkeit. Jetzt. Sofort. Weil diese Zeit so schmerzte und ich vielleicht einfach ein verwöhntes Ding war, das solche Schmerzen bisher nicht gekannt hatte und daher nicht damit umgehen konnte – und es auch nicht wollte.

Das alles hätte ich sagen können, aber ich schwieg, und eine Träne rann über mein Gesicht. Nur eine kleine. Höchstens zehn Milligramm.

»Sie könnten auch eine Trauergruppe besuchen. So eine Art Selbsthilfegruppe. Mit ausgebildeten Betreuerinnen. Was meinen Sie? Würde Ihnen das eher entsprechen?«

Was für eine Frage!

Würde Ihnen eine Trauergruppe eher entsprechen?

Natürlich nicht! Ich sah mich schon dort sitzen.

Ich bin Eliane Engel und änderungsgestört.

Aber ich erklärte mich einverstanden mit diesem Kompromiss. Und ich versprach, das Antidepressivum ganz genau nach den Anweisungen der Füchsin einzunehmen. Man müsse es »einschleichen«, meinte sie. Und auf keinen Fall dürfe man es einfach wieder absetzen. Da müsse man es dann wieder »ausschleichen«.

Einschleichen.

Ausschleichen.

Trauergruppe.

Mensch! Diese Wörter wollte ich meinem Wortschatz wirklich nie antun. Ich hatte das Gefühl, ziemlich tief gesunken zu sein, und zwar zu einem Zeitpunkt – also nach fast einem Jahr –, zu dem ich längst wieder »normal« sein wollte und sollte, zumindest nach meinen eigenen Vorstellungen.

Das Antidepressivum hatte bei mir auch in kleinster Dosis eine wunderbare Wirkung. Ich fühlte mich nicht fremd, nicht berauscht oder gedämpft, aber sofort befreit von einem schweren Druck. Als hätte man mir einen tonnenschweren Rucksack abgenommen. Und ich hatte wieder die Kontrolle über meine Gefühle. Jedenfalls meist. Zumindest musste ich mich nicht mehr davor fürchten, gar nicht mehr mit dem Weinen aufhören zu können, wenn mir mal wieder die Tränen kamen.

Und jetzt treffe ich mich jede Woche mit anderen Trauernden. Zu meinem ersten Besuch in Goldau war ich widerwillig und bockig erschienen, entschlossen, mich nicht einzubringen und niemals meine innersten Gefühle vor Fremden nach außen zu kehren, meine Zeit dort einfach abzusitzen. Und heute freue ich mich auf diese Treffen. Wir sind eine Gruppe. Wir tun einander gut.

Eva ist die Jüngste in unserem Kreis. Sie hat ihren sechs Jahre alten Sohn Enrico bei einem Autounfall verloren. Zuerst habe ich mich gefragt, warum sie nicht bei ihrem Ehemann Trost findet. Aber dann habe ich begriffen: Sie hat Angst um diese Beziehung. Der Tod eines Kindes belastet eine Ehe sehr. Dafür habe ich großes Verständnis. Zuerst schweißt der Tod sicher zusammen, aber dann muss jeder mit seiner eigenen Trauer umgehen, und das geht nicht immer gemeinsam und im gleichen Tempo. Das sehe ich ja bei mir und meiner Tochter Marie. Ich bewundere Eva, weil die junge, zarte Frau so zerbrechlich wirkt in ihrer Trauer, aber doch stark ist. Ich mag es, wie sie redet. Sie wählt ihre Worte sorgfältig, sie spricht wenig – aber wenn, dann hört ihr jeder zu.

Moritz ist sechzig Jahre alt und hat vor drei Jahren seine Mutter verloren. Obwohl er Frau und Kinder hat, sitzt er hier in der Trauergruppe und weint fast bei jedem Treffen. Das bringt mich an die Grenzen meines Verständnisses. Seine Mutter war ganz langsam über Jahre hinweg dement geworden und starb dann an einer Lungenentzündung. Er hatte also genug Zeit, sich von ihr zu verabschieden, könnte man meinen. Warum schafft er es nicht, sie loszulassen?

Nein, wir werten nicht. Nein, wir schauen nicht, wessen Trauer mehr wiegt oder ob einer mehr Recht zu trauern hat als der andere. Sonst wären wir ja gerade so wie all die Menschen in unserem Umfeld, die uns nicht verstehen können, die uns in unserer Trauer nicht so nehmen können, wie wir sind.

Die Grundregeln unserer Treffen finde ich gut, und ich bemühe mich, sie einzuhalten.

Theoretisch.

Da ist aber zum Beispiel auch Doris. Sie ist Mitte vierzig und ein bisschen schwierig. Einerseits ist sie extrem katholisch und dabei oft päpstlicher als der Papst, aber auch wenn sie überzeugt davon ist, dass ihr Ehemann, der vor einem Jahr gestorben ist, nun bei Gott ist, sozusagen direkt an seiner Seite hockt, glücklich und erleuchtet, scheint sie selber doch sehr, sehr unglücklich zu sein, was ich nicht ganz verstehen kann. Ihr Glaube müsste ihr doch genug Trost spenden. Das scheint bei Doris nicht zu funktionieren.

Neulich hat sie zu Eva, deren Sohn Enrico erst vor fünf Monaten gestorben ist, allen Ernstes gesagt: »Gott gibt jedem nur das Päckchen mit, das er auch wirklich tragen kann.«

Da bin ich zum ersten Mal ein bisschen ausfällig geworden. Ich erklärte der Verklärten erbost: »Das stimmt einfach nicht! Viele zerbrechen an ihrem Schicksal und bringen sich um, verfallen irgendwelchen Drogen oder landen in der Psychiatrie. Weil das verdammte Päckchen zu schwer war!«

Doris meinte ungerührt: »Dann haben diese Menschen nicht wirklich geglaubt. Wenn man glaubt, dann vertraut man, dann kann man sich geborgen fühlen, auch in schweren Zeiten.«

Gerade als ich Doris entgegnen wollte, was auch meine Psychiaterin mich gefragt hatte, nämlich: »Warum bist du dann hier?«, wechselte Rosmarie das Thema.

Rosmarie, unsere Leiterin, ist sehr jung. Anfangs dachte ich: Viel zu jung. Ja, auch ich habe manchmal Vorurteile. Es kommt mir vor, als würden überall an wichtigen Stellen immer nur junge Leute sitzen. Der Notarzt, der zu meinem Mario kam, der war praktisch noch ein Kind! Mein neuer Zahnarzt sieht so jung aus, dass ich misstrauisch sein Diplom studiert habe, das an der Wand im Wartezimmer hängt. Dabei ist es wohl einfach so, dass ich immer älter werde.

Aber Rosmarie ist nicht nur jung, sie ist vor allem sehr intelligent und einfühlsam. Sie schließt nächstes Jahr ihr Psychologiestudium ab, und wir sind das Objekt ihrer Masterarbeit. Manchmal verzweifelt sie fast an uns, dann verdreht sie kurz ihre schönen Augen. Aber immerhin liefern wir ihr jede Woche neu wirklich gutes Material – wir sind ja ein recht bunter Haufen.

Rosmarie trägt mit Vorliebe farblose Kleider, bevorzugt Grau- und Beigetöne. Wahrscheinlich glaubt sie, dass sie so, zusammen mit ihrer altmodischen Brille, älter aussieht, als sie ist. Tut sie auch. Was auch wieder schade ist. Vielleicht erhofft sie sich von ihrem strengen Outfit auch mehr Autorität. Als könnte man sich Autorität anziehen!

Marie-Theres ist unsere Älteste. Ihr Ehemann ist schon seit drei Jahren tot. Aber sie kommt einfach nicht darüber hinweg, fühlt sich einsam und verlassen. Sie war ja auch fast ihr ganzes Leben mit ihm zusammen: fünfzig Jahre! Jetzt ist die rüstige Siebzigjährige allein. Sie hat nie etwas ohne ihren Köbi gemacht. Nichts. Gar nie. Sie ist direkt vom Elternhaus aus mit ihm zusammengezogen. Ihre drei Kinder können ihr in ihrer Trauer und Einsamkeit nicht wirklich helfen, weil sie über den ganzen Erdball verteilt leben. Und Marie-Theres sieht sich außerstande, die Schweiz ohne die Begleitung ihres Köbi zu verlassen. Sonst könnte sie ja eigentlich der Reihe nach ihre Kinder besuchen. Das wäre bestimmt spannend und würde sie auf andere Gedanken bringen. Aber nein, das macht sie nicht. Das kann sie nicht.

Weiter gehört Anita zu unserem Grüppchen. Sie ist wohl die Traurigste unter uns. Falls es da einen Wettbewerb gäbe, würde sie ihn gewinnen. Sie trägt selten etwas zu einem Gespräch bei, außer Tränen. Ihr Mann hat sich vor wenigen Monaten umgebracht. Anita ist vierzig, und sie war erst zwei Jahre verheiratet.

Ja, und dann bin da eben noch ich, Eliane Engel, fünfzig Jahre alt. Witwe mit einer erwachsenen Tochter. Journalistin. Eine Frau, die keine Geduld mehr hat mit dem Trauerprozess und die den Schmerz nicht mehr länger ertragen will. Eine »Änderungsgestörte«. Die braunen Haare trage ich kinnlang, und die ersten grauen Strähnen ignoriere ich. Ansonsten: mittelgroß, mittelschlank, mittelschön. Es gab einen Mann, der mich attraktiv, witzig und intelligent fand – aber der lebt nicht mehr.

Wir sechs bilden also den harten Kern dieser Trauergruppe um unsere Leiterin Rosmarie. Manchmal stoßen neue Trauernde zu uns. Aber viele finden dann doch nicht, was sie suchen, und steigen wieder aus.

Heute sind alle ganz außer sich, weil Rosmarie eine herzige Geschichte mitgebracht hat. Sie zeigt uns auf einer Großleinwand ein wunderschönes, berührendes Foto von zwei australischen Zwergpinguinen, die sich mit ihren Flossen umarmen. Sie stehen auf einem Felsen und betrachten die Lichter Melbournes. Da sie zu einer von Forschern genau beobachteten Gruppe gehören, weiß man: Beide haben ihre Partner verloren. Einer davon ist eine Sie, eine alte Dame, der andere ein junges Männchen. Sie kümmern sich jetzt umeinander. Sie stehen regelmäßig nahe zusammen und schauen auf das Lichtermeer der Stadt. Der deutsche Fotograf Tobias Baumgaertner, der das Bild gemacht hat, schrieb dazu: »Während die anderen Pinguine schliefen oder herumliefen, schienen diese beiden einfach nur da zu stehen und jede Sekunde zu genießen, die sie zusammen hatten.« Immer wenn es Abend werde, würden die beiden zusammenrücken und sich gegenseitig trösten.

Das Foto berührt mich.

Sehr.

Marie-Theres meint, die beiden seien eine Mini-Trauergruppe.

Doris fragt: »Leben Zwergpinguine denn monogam? Gibt es überhaupt Tiere, die monogam leben?«

Eva zückt ihr Handy, obwohl das in der Trauergruppe eigentlich verpönt ist, ignoriert Doris’ strengen Blick und verkündet bald einmal: »Es gibt erstaunlich viele Tiere, die monogam leben. Schabrackenschakale, Regenbogenpapageien, Schwertwale … Und natürlich Seepferdchen. Die sind ja bekannt für ihre Treue. Und ganz klar: Zwergpinguine.«

Rosmarie betont jedoch, das Bild drücke für sie vor allem aus, dass sich zwei Menschen durchaus gegenseitig beistehen können, selbst wenn beide trauern. Trauer könne auch verbinden. Und da wir heute ja sozusagen unter uns seien, nur der harte Kern anwesend sei, wolle sie ein kleines Experiment wagen. In eine Kartonschachtel, in der laut Aufschrift früher einmal Raviolibüchsen verpackt waren, hat sie mit unseren Namen beschriftete Kärtchen gelegt.

»Ich ziehe jetzt jeweils zwei Kärtchen. Die beiden von euch, deren Namen draufsteht, versuchen dann, in den nächsten Tagen einmal Kontakt miteinander aufzunehmen. Ihr könnt kurz telefonieren. Wenn euch das zu viel ist, schreibt ihr euch eine Ansichtskarte. Vielleicht trefft ihr euch aber auch zu einem Kaffee? Es ist euch überlassen. Jeder tut, was ihm möglich ist. Die Kontaktdaten haben wir ja längst ausgetauscht.«

Wie bitte?

Hier in diese Trauergruppe zu kommen, das ist eine Sache. Aber möchte ich beispielsweise Doris bei mir zu Hause bewirten? Und könnte ich den Schmerz von Anita aushalten?

Diese Rosmarie hat ja Ideen!

Wir sind wirklich das Experimentierfeld für ihre Masterarbeit. Weiß sie eigentlich, was sie da tut?

»Ich werde beim nächsten Mal nicht überprüfen, ob und welche Treffen stattgefunden haben. Es ist nur eine Anregung, eine Idee. Seht es als Chance. Traut euch. Seid offen. Seid Zwergpinguine!«

Ich will kein Pinguin sein!

Schon gar nicht ein Zwerg.

Aber schon geht es los. Die Verlosung beginnt. Und wer wird für mich ausgelost? Die Spannung steigt.

Und dann werde ich aufgerufen.

Mit Moritz.

Ausgerechnet!

Er schaut mich an, und ich kann in seinem Pokerface nicht erkennen, was er denkt. Ich selber versuche im Moment, überhaupt nicht darüber nachzudenken.

Rosmarie will dann noch wissen: »Hat jemand in den letzten vierzehn Tagen etwas Besonderes erlebt, das er mit uns teilen möchte? Hat jemand einen kleinen Fortschritt gemacht? Hat jemand Tipps vom letzten Treffen umgesetzt?«

Ohne es zu wollen, nicke ich, und Rosmarie spricht mich sofort an: »Erzähl, Eliane. Wenn du magst.«

»Ich habe die Kleider von meinem Mario in Altkleidersäcke geräumt.«

»Und wie hast du dich dabei gefühlt? Und wie fühlst du dich jetzt, Eliane?«

»Meine Tochter hat mir schwere Vorwürfe gemacht.« Es wird unruhig im Kreis. »Aber ich fühle mich trotzdem gut damit. Es war wirklich an der Zeit.«

Rosmarie fragt: »Du hast noch ein paar Sachen behalten?«

Ich nicke wieder, will aber dazu nicht noch mehr sagen.

»Wenn deine Tochter mit dem Tod ihres Vaters nicht zurechtkommt, liebe Eliane, dann sollte sie sich selber auch eine Trauergruppe suchen, statt auf dir herumzuhacken«, sagt Moritz plötzlich heftig.

Interessant. Von ihm hätte ich jetzt wirklich keine Unterstützung erwartet.

Rundherum bestätigen alle diese Aussage. Und das tut mir unerwartet gut. Natürlich wusste ich, dass ich jetzt auch mal für mich schauen muss. Aber so eine Bestätigung ist sehr wohltuend. Ich staune selber, dass ich das anscheinend brauche.

Eva meldet sich zu Wort und sagt, dass sie erstmals seit dem Tod ihres Sohnes mit ihrem Mann über ein weiteres Kind gesprochen habe. »Es soll kein Ersatz für Enrico sein. Das nicht. Aber wir wollten immer Kinder. Und wir könnten immer noch Kinder haben.«

Rosmarie findet das schön. »Lasst euch Zeit. Aber redet darüber. Wir wollen dann alle zur Taufe kommen!«

Das gibt ein kleines Gelächter in der Runde. Wir lachen eigentlich oft und viel, wenn man bedenkt, dass wir eine Trauergruppe sind.

»Wir gehören keiner Kirche an. Es gibt keine Taufe«, erklärt Eva, »aber zu Kaffee und Kuchen würden wir euch dann trotzdem gern einladen.«

Oh.

»Dann ist Enrico ohne Taufe gestorben?«, fragt Doris und vergisst fast zu atmen, bekreuzigt sich sogar.

Ich erinnere mich nur vage daran, dass wir im Religionsunterricht einmal furchtbare Dinge lernten über den Tod ohne Taufe. Von wegen Erlösung von der Erbsünde und so. Heute kann mich das nicht mehr erschrecken.

Eva sowieso nicht. Sie antwortet ungerührt: »Wenn dein Gott so großherzig und gütig ist, wie du immer sagst, wird er Enrico in den Himmel aufnehmen, falls es den überhaupt gibt.«

Sie scheint in dieser Beziehung völlig mit sich im Reinen zu sein. Das gefällt mir.

Die Zeit ist schon wieder um, und Rosmarie hat wie immer das letzte Wort, bevor wir uns verabschieden. Diesmal sagt sie, dass wir alle ab und zu einen Pinguin brauchen, der seine Flossen um uns legt.

»Und denkt doch auch daran, dass man ab und zu Hilfe und Nähe einfordern muss und darf. Wenn sich Freunde und Bekannte vielleicht unerwartet zurückgezogen haben, dann müssen wir uns halt selber mal wieder bei ihnen melden. Und wenn wir keinen Pinguin finden, bei dem wir uns anlehnen können, dann seien wir selber ein Pinguin – für andere. Ihr habt ein Namenskärtchen in der Tasche. Denkt darüber nach. Ich wünsche euch allen eine gute Woche.«

Schließlich löscht jeder die Kerze, die in der Mitte des Kreises für seinen Verstorbenen brennt. Das ist eine schöne Zeremonie, beim Anzünden und beim Löschen. Dazu läuft immer die gleiche, leise Musik. Ich nehme das Foto von Mario wieder an mich, das ich jeweils bei der Kerze ablege, wie das auch alle anderen tun.

Und dann gehen wir wieder unserer Wege.

Rigi

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