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KAPITEL SECHS

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Als sie auf dem Revier eintrafen, ging Mackenzie zuerst die Original-Berichte durch, um sich die Fotos des Tatorts anzusehen. Bisher hatten sie und Ellington lediglich digitale Kopien erhalten. Sie verteilte die Fotos auf dem großen Tisch, der den Großteil des Platzes in ihrer Büronische einnahm und beugte sich darüber. Während sie die Bilder betrachtete, machte sich Ellington auf seinem Handy Notizen.

Das Mädchen war noch ziemlich jung gewesen, vermutlich nicht älter als zwanzig, dachte Mackenzie. Sie war blond und hatte ein Gesicht, das die meisten wohl als hübsch einstufen würden. Aber sie hatte etwas an sich, was selbst in ihrem emotionslosen, leeren Gesicht erkennbar war und Mackenzie glaubte, dass es sich bei dem Mädchen möglicherweise um eine Ausreißerin oder Vagabundin gehandelt haben könnte. Das – oder sie hatte erst kürzlich etwas traumatisches erlebt. Ihre Haut hatte eine Färbung, die auf Schmutz oder harte Lebensumstände schließen ließ.

„Keine Identität“, sagte sie und sprach dabei mehr zu sich selbst als mit Ellington. „Ich frage mich, ob sie im Zeugenschutzprogramm war.“

„Zeugenschutzprogramm?“, fragte Ellington. „Ist das nicht etwas weit hergeholt? Vor allem, da ihr Führerschein vermutlich gefälscht ist.“

„Naja, sie hat keinen richtigen Ausweis und ist vor irgendetwas davongerannt. Wenn sie im Zeugenschutzprogramm und auf der Flucht war, würde uns das zumindest einen Anhaltspunkt geben. Vielleicht hat jemand aus ihrer Vergangenheit sie gefunden.“

„Und genau deshalb liebe ich dich“, sagte Ellington. „Du untersuchst lieber eine Theorie, die weder Hand noch Fuß hat, als zuzugeben, dass wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen.“

„Man kann immer irgendwo anfangen“, sagte Mackenzie, die noch immer die Fotos betrachtete. „Nur manchmal ist der erste Anhaltspunkt der schwerste.“

Sie zog ihr Handy heraus, während ihr Blick zwischen ihrem Telefonbuch und den Fotos des toten Mädchens auf dem Tisch hin und her wanderte.

„Wen rufst du an?“, fragte Ellington.

„Ich werde mich vom Büro in DC zum Polizeirevier der US Marshals durchstellen lassen, um vielleicht eine Liste zu bekommen.“

Ellington, der von dem Vorschlag offensichtlich überrascht war, nickte amüsiert. „Ja, viel Glück damit.“

Während der Anruf beantwortet, sie in die Warteschleife geleitet und dann schließlich zum Büro der Marshals durchgestellt wurde, sah sie sich weiter die Bilder an. Die Verletzungen, die vom Zusammenstoß mit dem Fahrzeug stammten, waren auf den Bildern nicht sichtbar, aber der brutale Spalt in ihrer Kehle blendete sie. Der Teer unter ihr war ein bisschen feucht und glitzerte, was das dunkle Rot, das aus ihrem Hals trat, fast surreal wirken ließ.

„Hier spricht die Stellvertretung des Chiefs, Manning“, ertönte eine raue Stimme am anderen Ende der Leitung. „Mit wem spreche ich?“

„Special Agent Mackenzie White vom FBI. Ich arbeite an einem Fall in Salt Lake City und glaube, dass eine junge Frau involviert ist, die Teil des Zeugenschutzprogramms war. Wir haben absolut keine Identität. Ihre Fingerabdrücke sind in keinem System und der Führerschein, der bei ihrer Leiche gefunden wurde, ist ein Fake. Es ist ein Schuss ins Dunkle, aber ich hoffe, dass sie möglicherweise in Ihrem System ist.“

„Agent White, Sie wissen, dass ich Ihnen die Identitäten der Menschen, die unter unserem Schutz stehen, nicht geben darf. Das würde mindestens ein Dutzend verschiedener Gesetze und Richtlinien brechen.“

„Dessen bin ich mir bewusst. Aber was, wenn ich Ihnen ein Bild schicke? Mit einer Gesichtserkennungssoftware sind Sie vielleicht in der Lage, etwas herauszufinden …“

„Entschuldigung, aber selbst, wenn Sie nur vermuten, dass sie Teil des Zeugenschutzprogramms war, würde das Verschicken eines Fotos bereits mehrere Regeln brechen.“

„Da es sich um ein Tatortfoto handelt, denke ich, dass es erlaubt ist“, keifte Mackenzie. „Man hat sie mit einem Fahrzeug angefahren und ihr dann die Kehle aufgeschnitten. Ich schicke Ihnen also kein Glamour-Foto.“

Manning seufzte tief und Mackenzie wusste, dass sie ihren Willen bekommen würde. „Schicken Sie mir das Bild und ich werde es durch die Gesichtserkennungssoftware laufen lassen. Natürlich kann ich nichts versprechen. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Danke.“

„Wir melden uns, sobald wir können.“ Er gab ihr die Informationen durch, wohin sie das Foto schicken sollte und legte dann auf.

Ellington hatte sich während ihrem Telefonat mit Manning den Bericht des Gerichtmediziners genauer angesehen. „Hast dich durchgesetzt, hm?“

„Hast du je daran gezweifelt?“

Er schüttelte den Kopf und überreichte ihr den gerichtsmedizinischen Bericht. „Das ist der aktuellste Report, ganz frisch, nur etwa fünf Stunden alt. Irgendwie interessant, findest du nicht auch?“

Sie überflog die offensichtlichen Inhalte des Berichts, bis sie die aktuellsten Ergebnisse fand. Was sie las, war tatsächlich interessant. Die Updates des Gerichtsmediziners und auch das medizinische Gutachten gaben an, dass das Opfer in der Vergangenheit mehrere Knochenbrüche erlitten hatte, die nicht richtig verheilt waren. Zwei Rippen, das linke Handgelenk und ein Wulstbruch am rechten Arm. Der Mediziner hatte notiert, dass die Knochen im linken Handgelenk vermutlich nie korrekt gerichtet worden waren.

„Denkst du an Misshandlung?“, fragte Mackenzie.

„Ich denke, dass sie vor jemandem weggelaufen ist und in der Vergangenheit Knochenbrüche erlitten hat, die nicht behandelt wurden. Also ja – Misshandlung oder vielleicht sogar noch dunkler. Ich frage mich, ob sie vielleicht gefangen gehalten wurde. Sie sieht nicht unbedingt gesund aus. Laut Bericht wiegt sie gerade mal fünfzig Kilo. Und du siehst es in ihrem Gesicht auf den Bildern … sie sieht irgendwie … ich weiß nicht …“

„Verhärtet aus“, beendete Mackenzie seinen Satz.

„Ja, das ist ein gutes Wort.“

„Also vielleicht war sie eine Gefangene und hat es geschafft, ihrem Schänder zu entkommen. Und als er sie erwischt hat, kam es ihm wohl gelegener, sie einfach umzubringen, als erneut gefangen zu nehmen.“

„Aber die Sorglosigkeit der Tat – der Schänder musste gewusst haben, dass sie keine Identität besitzt.“

Das war ein guter Punkt, über den beide schweigend nachdachten. Mackenzie dachte an ein Mädchen, das erst durch ein feuchtes Feld und dann auf die regennasse Straße rannte. Sie war barfuß gewesen, hatte ihre Sandalen in der Hand getragen. Das Szenario stellte sie vor zwei Fragen, aber sie war sich nicht sicher, welche wichtiger war.

Die erste war, woher sie kam und wovor sie wegrannte.

Die zweite Frage allerdings schien dringender zu sein: „Wo wollte sie hin?“, fragte Mackenzie laut. „Es kann kein Zufall sein, dass sie sich diese Wohngegend ausgesucht hat. Ich weiß, dass es keine Beweise dafür gibt, dass sie das Feld durchquert hat, von dem Sheriff Burke gesprochen hat. Aber was, wenn? Sie hätte in jede Richtung gehen können, hat sich aber für diese Nachbarschaft entschieden. Also warum?“

Ellington lächelte und nickte, während er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken ließ. „Warum finden wir es nicht heraus?“

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