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1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit

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Die Beschäftigung mit der algerischen Gesellschaft führte Bourdieu zur Soziologie. Nach seinen ersten ethnographischen Studien beschäftigte er sich mit Max Webers »Protestantischer Ethik« (in 1988). Die Frage nach den Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus, die Weber am historischen Material untersucht hat, konnte Bourdieu an die algerische Gegenwart richten. Damit befand sich Bourdieu im Zentrum der Soziologie. Die Soziologie entwickelte sich als Disziplin großenteils durch das Bemühen, die Entstehung des Kapitalismus und ihre Folgen theoretisch einzuholen. Sie erwuchs gleichsam aus der Entfaltung des Marktes und der Wirtschaftswissenschaften. Der Kapitalismus bildete nicht nur das Kernproblem der frühen soziologischen Klassiker (insbesondere Marx, Durkheim, Simmel und Weber), sondern kann auch heute noch als Horizont der soziologischen Arbeit gelten.

Bourdieu reiht sich in dieser Hinsicht nahtlos in die Folge der Klassiker ein. Er wandelte sich vom Philosophen zum Soziologen, als er in Algerien die Ausbreitung des Kapitalismus unmittelbar vor Augen geführt bekam. Er erkannte, dass die sozialen Probleme nicht nur aus dem Kolonialkrieg erwuchsen, sondern auch aus der Konfrontation zweier unvereinbarer Wirtschaftsweisen, besser gesagt: aus der Verdrängung einer »traditionalen« Wirtschaft durch eine kapitalistische. Aus der Untersuchung dieser Frage wollte er nicht nur etwas über Algerien lernen, sondern auch Erkenntnisse über den Kapitalismus insgesamt gewinnen (2003a: 43). Er erkannte, dass die algerische Gesellschaft höchst unterschiedlich vom Kapitalismus durchdrungen war und die soziale wie ökonomische Ungleichheit mit der Ausbreitung des Kapitalismus zunahm. Bourdieu versuchte nun, alle Aspekte des Phänomens zu untersuchen. Er beschäftigte sich mit Unterschieden in der Arbeitsmoral, im ökonomischen Denken, im Konsumverhalten, mit Klassenstrukturen, Klassenbewusstsein, Lebensführung und vielem mehr. Die zahlreichen Arbeiten, die ab 1958 in rascher Folge erschienen, enthalten seine wichtigsten Forschungsergebnisse. Für sich wären sie wertvolles und höchst interessantes wissenschaftliches Material, höben sich von der Masse soziologischer Literatur jedoch kaum ab. Zwei Aspekte kamen zusammen, um den »Kristallisationskern« zu bilden, der die neuartige und wegweisende soziologische Theorie Bourdieus ermöglichte. Ein Aspekt war Bourdieus Position zwischen den Disziplinen, Ideologien und sozialen Welten, der andere war eine wissenschaftliche Einsicht.

In Algerien entwickelte Bourdieu eine eigene Fragestellung. Man kann sie als entwicklungssoziologisch oder wirtschaftssoziologisch bezeichnen. Aber Bourdieu beschäftigte sich kaum mit den Diskussionen, die in diesen Bereichen geführt wurden. Vielmehr übertrug er die ethnologischen Methoden auf die Fragestellung Max Webers, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit kapitalistisches Handeln möglich ist. Aus dieser Kombination entwickelte sich Bourdieus Frage. Sie wurde dadurch ermöglicht, dass er nicht den vorgezeichneten Wegen folgte, sondern völlig disparate und unzusammenhängende Bereiche miteinander verband. Er selbst meinte später, die Eigentümlichkeit seines Ansatzes sei dadurch ermöglicht worden, dass die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus in Algerien weder von der Ethnologie noch von der Soziologie besetzt gewesen sei (2003a: 45). Ende der Fünfzigerjahre sei die Soziologie für die Industrienationen, die Ethnologie für die anderen zuständig gewesen; Orientalismus und philologische Orientierung prägten die Auseinandersetzung mit Algerien (ebd.: 40). Daher konnte er sich »frei« bewegen. Als Philosoph kam er nach Algerien, um dort als Soldat zu dienen. Als Soldat entdeckte er die Leiden der Algerier unter der Kolonialherrschaft. Um die Leiden zu verstehen, bediente er sich ethnologischer Methoden. Diese Methoden wandte er auf eine soziologische Fragestellung an, die sich in eine kulturtheoretische verwandelte. Daraufhin bediente er sich quantitativer soziologischer Methoden. All diese Momente gingen in sein Denken ein und verbanden sich später zu seiner soziologischen Theorie.

Bourdieu selbst hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die ausgetretenen Pfade mied. Ein wenig Ehrgeiz, wissenschaftliches Neuland zu betreten, wird dabei eine Rolle gespielt haben. Ein größeres Gewicht aber dürfte seiner eigentümlichen Laufbahn zukommen, die ihn dazu bestimmte, sich in jeder Umgebung fremd zu fühlen. In seinem »Selbstversuch« (2002b) erklärt er das Phänomen sehr plausibel in Begriffen seiner eigenen Theorie. Seine Denkrichtung, so Bourdieu, habe sich vor allem durch intellektuelle Abneigungen und Verweigerungen ergeben, die er selten benannt habe, beispielsweise gegen de Sade, Bataille und Klossowski (2002b: 10). Die Abneigung gegen einige Denker führte nicht dazu, dass er sich anderen anschloss. Vielmehr fühlte er sich in keiner Schule zu Hause. Sein früh entwickelter Eigensinn zeigt sich beispielsweise darin, dass er bereits in seinem ersten Buch, »Sociologie d’Algérie« (1958) die Unterdrückung der Frau konstatierte, für ein soziologisches Problem hielt und als solches analysierte (1958: 14f, 86). Das Thema war seinerzeit keineswegs in Mode und schon gar nicht mit akademischen Weihen gesegnet. Dennoch widmete ihm Bourdieu 1962 einen eigenen Aufsatz. Und als es später in Mode kam, bewies Bourdieu seinen Eigensinn erneut, indem er sich weigerte, die geläufigen Positionen anzuerkennen. In seinem 1998 veröffentlichten Buch über »La domination masculine« (1998b; dt. 2005b) greift er auf seine Forschungen in Algerien zurück, um standardisierten und vereinfachenden Sichtweisen des Themas entgegenzuwirken.

Die eigentümliche Kombination verschiedener Denkweisen, Erkenntnisinteressen und Methoden ermöglichte Bourdieus Einsicht. Eine Einsicht ist weder eine Theorie noch ein empirisches Datum, sondern die Erfassung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen Phänomenen oder Begriffen. Viel mehr als eine Einsicht darf man als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin kaum erhoffen. Auf der Grundlage einer Einsicht lassen sich Phänomene anders deuten und erklären. Ein Beispiel für eine Einsicht ist Thomas Kuhns Erkenntnis, dass wissenschaftlicher Fortschritt keine kumulative Entwicklung ist, sondern Brüche beinhaltet, an denen eine alte Theorie durch eine neue ersetzt wird. Und der Keim eines Bruchs ist eben eine Einsicht. Sie kann in alte Theorien integriert werden, vermag aber auch als Zeitbombe zu fungieren, die langfristig zum Bruch führt.

Bourdieus Einsicht kann man mit dem Terminus »Ungleichzeitigkeit« umschreiben. Kapitalismus und traditionale Wirtschaft waren nicht passgenau auf zwei soziale Gruppen verteilt, sondern variierten nach verschiedenen Parametern. Ferner konnten Menschen in einigen Bereichen kapitalistisch handeln, ohne das konsistent zu tun oder entsprechend zu denken. Bourdieu schloss: Das Beharrungsvermögen erlernter Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster hat zur Folge, dass Menschen an sozialen Wandel nicht hinreichend angepasst sind. Und das gilt natürlich insbesondere für die Menschen, die dem Wandel passiv ausgesetzt sind und ihn nicht beeinflussen können. 1962 schrieb er in einem Aufsatz über die Revolution in Algerien: »Die Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache ist nicht gering zu schätzen. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass sich Verhaltensweisen, Haltungen und Kategorien des Denkens nicht so leicht verändern lassen.« (2003a: 32f) Rückblickend meinte er, erkannt zu haben, dass am Schnittpunkt zwischen vorkapitalistischer und kapitalistischer Ökonomie der Habitus nicht aus den Strukturen abgeleitet werden konnte (2000c: 21). Verallgemeinert lautete die Erkenntnis, dass soziale und kulturelle Merkmale keine festgeschriebene Bedeutung und keine konstanten Träger haben, sondern je nach sozialem Kontext, historischem Zeitpunkt und Lebensphase variieren können. Sogar innerhalb der Individuen selbst konnten verschiedene Schichten existieren. 1964 stellte Bourdieu fest, dass in jedem Subjekt die alte und die neue Logik, das alte und das neue Ethos koexistierten, die kulturelle Syntax und Sprache bestehe aus unvereinbaren Fragmenten (1964a: 163). Später konnte Bourdieu die Einsicht durch Ernst Cassirers relationale Wissenschaftstheorie begründen und zu einer konsistenten Theorie ausbauen. Diese Entwicklung wird Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels sein.

Die Einsicht stellte sich nicht von selbst ein. Sie benötigte wohl gut zehn Jahre, um zu reifen. Obgleich bereits der Anfang des ersten Buchs den Keim zur Einsicht enthält, ist sie noch nicht Grundlage der Untersuchung. Die algerische Gesellschaft lasse sich schwer analysieren, heißt es dort, weil sich die Trennlinien in vielfacher Weise überschnitten (1958: 6). Dann aber folgt eine recht klare und kategorische Gliederung in traditionale und moderne Gesellschaft. Die nächsten Veröffentlichungen hatten einen entweder politischen, ethnologischen oder soziologischen Schwerpunkt und ließen die transdisziplinäre Einsicht nicht zur Geltung kommen. Sie beschäftigten sich in erster Linie mit jeweils einem Widerspruch der Kolonialgesellschaft, mit dem Krieg (1959), mit dem Geschlechterverhältnis (1962a), mit der Klassenstruktur (1963), mit der Migration und dem Stadt-Land-Gegensatz (1964a). Erst in der Untersuchung über die Entstehung eines kalkulierenden Denkens (»Algérie soixante«) ist die Einsicht und damit auch Bourdieus Einsicht voll entfaltet.4

Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse von Bourdieus Veröffentlichungen über Algerien skizziert, die teils Etappen auf dem Weg zur Entfaltung der Einsicht, teils Elemente eines Ganzen markieren. Sie münden in den Versuch, die Ungleichzeitigkeit strukturalistisch zu erklären. Da Bourdieus Einsicht jedoch nur fruchtbar zu machen war, wenn man an der Differenz zwischen Individuum und Struktur festhielt, war der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern ermöglichte Bourdieu die Entwicklung seiner eigenen Theorie, deren erste Fassung in der »Theorie der Praxis« (1976; 1972) vorgelegt wurde. Sie wird im dritten Kapitel behandelt.

Die Soziologie Pierre Bourdieus

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