Читать книгу Die Soziologie Pierre Bourdieus - Boike Rehbein - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеWozu eine weitere Einführung in Bourdieus Soziologie? Dieses Lehrbuch ist keine Einführung. Zum einen ist es für fortgeschrittene Studierende sowie Interessierte gedacht, die bereits etwas von oder über Bourdieu gelesen haben, sich weiter in seine Soziologie vertiefen möchten und vielleicht mit ihren Mitteln arbeiten wollen. Zum anderen liefert das Buch keinen Überblick über alle Werke und Gedanken Bourdieus, sondern sucht die Entwicklung des Kerns seiner Soziologie nachzuzeichnen. Ein Buch für diese Zielgruppe und mit dieser Zielsetzung gibt es meines Wissens noch nicht, zumindest nicht in deutscher Sprache. Ich hoffe, den inneren Zusammenhang der Werke und Gedanken Bourdieus aufzeigen zu können. Ferner möchte ich zur Lektüre Bourdieus anregen. Schließlich und vor allem soll das Buch dazu auffordern, mit Bourdieu zu forschen und zu denken.
Zwei Gründe rechtfertigen die Veröffentlichung von Sekundärliteratur zu Bourdieu. Erstens ist er mittlerweile ein Klassiker der Soziologie und gegenwärtig einer der am häufigsten zitierten Intellektuellen. Zweitens sind seine Schriften nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Der bloße Status Bourdieus als Klassiker ist vielleicht noch kein hinreichender Beleg für seine Bedeutung. Ich meine allerdings, dass dieser Status eine sachliche Berechtigung hat. Die Höhe der Reflexion, die Bourdieu erreicht hat, sollte heute nicht mehr unterschritten werden. Man kann durchaus sagen, dass er die Messlatte für die Soziologie höher gehängt hat. Die Reflexionshöhe erschließt sich nicht von selbst. Viele der Werke Bourdieus wirken beim ersten Lesen naiv, als sei er nicht mit dem Wissen seiner Zeit vertraut gewesen und habe Probleme der Logik oder der Methode nicht gesehen. Methodologische Schwierigkeiten, Begriffsklärungen, strategische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Geistesgeschichte finden in seinen Veröffentlichungen einen vergleichsweise geringen Raum. Die Leserschaft wird in erster Linie mit Ergebnissen konfrontiert, weniger mit Argumentationen und scholastischen Erörterungen.
Die Werke verarbeiten schwierige und fundamentale Probleme der Erkenntnistheorie in Verbindung mit zum Teil banal anmutendem empirischen Material. Was beim Lesen begegnet, sind Daten und wenig konsistent gebrauchte, undefinierte Begriffe. Dass eine außergewöhnliche theoretische Arbeit dahinter steckt, fällt nicht ins Auge. So unwahrscheinlich es wirkt, einer der wichtigsten Bezugspunkte Bourdieus ist Immanuel Kant. Bourdieu hat nicht nur an empirischen Gegenständen, sondern auch an einer soziologischen Vernunftkritik gearbeitet. Er wollte das, was bei Kant reine, überzeitliche Erkenntniskategorien sind, auf soziale Verhältnisse zurückführen und gleichzeitig Kants Philosophie als Ausdruck einer bestimmten Zeit und sozialen Position in ihr aufweisen. Er erklärte, seine Arbeit sei »im Grunde immer der Versuch […], die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand zu machen und die mit den Erkenntniswerkzeugen gegebenen Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (1997e: 221).
Die soziologische Vernunftkritik war kein Selbstzweck, sondern als gelerntem Philosophen reichte Bourdieu die unreflektierte Fortführung (irgend) einer soziologischen Tradition nicht aus. Er wollte die Grundlagen der eigenen Erkenntnis kritisch beleuchten und möglichst weit gehend ausweisen. Indem Bourdieu in den Arbeiten der soziologischen Tradition unhinterfragte oder nicht überzeugende Voraussetzungen aufdeckte, vermied er sie und aus ihnen resultierende Unzulänglichkeiten der Forschung. Hieraus hat er eine regelrechte Methode gemacht, die an Gaston Bachelard anschließt. Er kontrastierte zwei einander widersprechende Ansätze der Tradition, um ihre Stärken und Schwächen abzuwägen. Die theoretischen Folgerungen, die er aus der Kontrastierung zog, arbeitete er dann am empirischen Material ab, um dieses und die Theorie zugleich kritisch zu beleuchten und anzureichern.
Man könnte sagen, dass Bourdieus Vorgehensweise zu einer Soziologie führte, die auf einer mittleren Ebene anzusiedeln ist. Sie steht zwischen Theorie und Empirie, Universalgeschichte und Momentaufnahme, Ethnologie und Soziologie, Globalem und Lokalem. Und ihre Theoreme haben eine mittlere Reichweite, sowohl örtlich wie zeitlich. Die mittlere Ebene ist mit einer Wissenschaftstheorie verknüpft, die nicht in Ableitungen und Substanzen, sondern in Konfigurationen und Relationen denkt. Der Ansatz scheint mir zukunftsweisend zu sein (vgl. Rehbein 2013). Die hier noch abstrakt wirkenden Bemerkungen zur Bedeutung Bourdieus werden im zweiten und dritten Kapitel ausführlich erläutert.
Neben Bourdieus Bedeutung ist der beschwerliche Zugang zu seinen Gedanken eine Rechtfertigung für Sekundärliteratur. Seine Schriften sind keine erholsame Lektüre. Man möchte meinen, dass er sich ständig wiederholt, jede Wiederholung aber leicht variiert. Die Sätze sind lang und komplex aufgebaut, konsistente Erklärungen sind selten. Theoreme und Begriffe werden je nach empirischem Gegenstand und Ort in der Darstellung leicht modifiziert. Bourdieu hat seinen schwierigen Stil mit zwei Argumenten gerechtfertigt. Erstens wolle er sich auf diese Weise gegen böswillige Lesarten schützen, zweitens sei die Komplexität der sozialen Welt nur durch komplexe Sätze und Darstellungen wiederzugeben (1992b: 70ff; 1993b: 14, 37; Leitner 2000: 152). Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass Bourdieu versuchte, seine eigene Sichtweise und den jeweiligen Zweck in die Darstellung zu integrieren. Ferner bemühte er sich, gegen den Strom zu schwimmen, Elemente herrschender Diskurse zu vermeiden und möglichst schwer greifbare Termini zu verwenden (1993b: 38). Er gestand jedoch zu, dass letztlich nur wohlmeinende Leser und Leserinnen diese Maßnahmen begriffen – also Menschen, die der Maßnahmen gar nicht bedürften (1993b: 14).
Da seine Werke komplex, an die äußeren Umstände angepasst und eng mit der Empirie verwoben sind, ist es einfach, Bourdieu zu kritisieren. Es wimmelt in seinem Werk von Schwächen in der Argumentation, kleineren und größeren Widersprüchen, ungenügend belegten Aussagen. Wer nach der Widerlegung einer Aussage von Bourdieu ablässt oder sich ihm gar überlegen glaubt, wird den ungeheuren Reichtum seiner Werke nicht ergründen können. Er suchte stets, der Sache gerecht zu werden, anstatt auf Konsistenz zu beharren. Wie Jürgen Habermas sah er die soziale Welt auf eine ungeheuer komplexe und differenzierte Weise. Beide entsagten dem soziologischen Denkstil, die Vielfalt auf wenige Gesetze zu reduzieren. Bourdieus Begriffe arbeiten unentwegt, damit ändern sie sich, schillern, lassen sich nicht eindeutig definieren. Aus diesem Grund bringt es wenig, die einschlägigen Zitate anzuführen, um in Stein hauen zu können, was mit dem Begriff des Habitus oder dem des Kapitals gemeint ist. Man wird abweichende Zitate finden, die nicht weniger »richtig« sein müssen. Die Widerlegung und die Definition isolierter Elemente von Bourdieus Soziologie verkennen meines Erachtens die relationale und konfigurationale Denkweise. Vor allem aus diesem Grund möchte ich den Zusammenhang der Kerngedanken nachzeichnen, anstatt einen Überblick oder Definitionen anzubieten.
Glücklicherweise sind fast alle Einführungen in Bourdieus Denken sehr gut und auf hohem Niveau. Bei UTB ist unlängst ein Buch für Anfänger erschienen (Fuchs-Heinritz, König 2005), auf das der vorliegende Band aufbaut. Ferner sei auf die großartige Einführung von Markus Schwingel (1995) und das leicht verständliche Werk von Christian Papilloud (2003) hingewiesen. In englischer Sprache sind unter anderem die Einführungen von Derek Robbins (1991), David Swartz (1997) und Deborah Reed-Danahay (2005) zu empfehlen. Schließlich bieten interessante Sammelbände, in denen Bourdieukenner über ihre Spezialgebiete schreiben, einen guten Überblick. Ich denke hier vor allem an die Bände von Klaus Eder (1989a), Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1993), Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich (1994), Uwe Bittlingmayer et al. (2002), Boike Rehbein, Gernot Saalmann und Hermann Schwengel (2003), Jörg Ebrecht und Frank Hillebrandt (2004), Margareta Steinrücke (2004) sowie Catherine Colliot-Thélène, Etienne François und Gunter Gebauer (2005). Das ist nur eine kleine Auswahl.
Inzwischen gibt es ein »Bourdieu-Handbuch« (Fröhlich, Rehbein 2009), in dem alle Grundbegriffe und Hauptwerke Bourdieus ausführlich erklärt werden. Das wie ein Lexikon aufgebaute Werk umfasst auch zahlreiche Einträge zu Einflüssen im Denken Bourdieus und zu seiner Rezeption. Als Einführung ist das Handbuch nicht geeignet, aber Anfänger können Erläuterungen von Begriffen und Texten finden, während Fortgeschrittene sich über Details und Zusammenhänge versichern können. Die Einträge im Handbuch wurden von anerkannten Experten und Expertinnen im deutschsprachigen Raum verfasst. Im Folgenden werde ich nicht an jeder Stelle auf die entsprechenden Artikel des Handbuchs hinweisen, denn man kann davon ausgehen, dass zu jedem wichtigen Begriff und Werk Bourdieus ein Artikel vorliegt, den man bei Interesse ergänzend lesen möge.
Am besten ist es, Bourdieu selbst zu lesen. Um die genannten Hindernisse abzubauen, möchte ich zum Einstieg einige Texte empfehlen. Wer wenig Zeit hat und lediglich an einem Überblick interessiert ist, möge die Sammlung mit dem Titel »Praktische Vernunft« (1998c) lesen, dann »Die feinen Unterschiede« (1982c) und schließlich »Soziologische Fragen« (1993b). Wer etwas tiefer einsteigen will, kann nach dem Band über Algerien, »Die zwei Gesichter der Arbeit« (2000c), die Bücher »Die Illusion der Chancengleichheit« (1971), »Entwurf einer Theorie der Praxis« (1976), »Die feinen Unterschiede« (1982c), »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (1998e) und »Der Staatsadel« (2004a) lesen. Am sinnvollsten ist die chronologische Lektüre, die gleichwohl systematisch orientiert ist und die Schriften chronologisch wie systematisch gruppiert. Das ist auch das Vorgehen, das in diesem Buch gewählt wurde.
Der Aufbau des Buches versteht sich nicht von selbst. Zu den wichtigsten Lehren Bourdieus gehört die soziologische Selbstanalyse. Die sozialen Bedingungen der eigenen Sichtweise müssen hinterfragt werden, um nicht blind Vorurteile zu reproduzieren. Die Forderung mündet zwar in einen Zirkel – weil auch die Selbstanalyse einen Standpunkt und dessen soziale Bedingungen voraussetzt –, aber der Zirkel kann hermeneutischer, also fruchtbarer, Natur sein. Ich fühle mich durch diese Bemerkungen in die Pflicht genommen, einige der Voraussetzungen darzulegen, die ich in diesem Buch an Bourdieus Soziologie herantrage. Meine Perspektive auf die Soziologie Bourdieus ist zweifellos durch meine Ausbildung und durch meinen eigenen Umgang mit dieser Soziologie bestimmt. Mein Umgang ist nicht rezeptiv und nicht orthodox. Er beschränkt sich nicht auf die Lektüre und auf die Gegenstände, die Bourdieu durch seine eigenen Arbeiten gleichsam legitimiert oder gar geweiht hat. Wenn ich seine Soziologie auf die Grammatik, Südostasien, Aspekte der Globalisierung und globale Ungleichheit übertrage, so überdehne ich sie vielleicht (Rehbein 2004, 2007, 2013, 2015; Rehbein, Sayaseng 2004; Rehbein, Souza 2014). Möglicherweise missdeute ich sie, um sie auf Gegenstände anzuwenden, für die sie nicht geschaffen wurde. Diese Möglichkeit sollte man beim Lesen zumindest im Hinterkopf behalten. Ich will gleichsam zu einem ähnlichen, aktiven Umgang mit Bourdieu anregen. Aus diesem Grund weise ich an vielen Stellen möglicherweise zu ausführlich auf Schwächen und Lücken in Bourdieus Werk hin. Die Hinweise sollten nicht als – ohnehin vermessener – Versuch einer Widerlegung oder Besserwisserei missverstanden werden, sondern als Aufforderung, an dieser Stelle weiterzudenken.
Gleichzeitig nähere ich mich den Werken Bourdieus etwas vorsichtiger, als es die meisten Interpreten tun. In der Philosophie, die noch zur Promotion mein Hauptfach war, interpretiert man Texte auf recht philologische Weise. Das bedeutet beispielsweise, stets den Zusammenhang der Texte zu beachten, Interpretationen abzusichern und auf Mehrdeutigkeit zu achten. Meine Ausbildung nötigt mich dazu, nah am Text zu bleiben und Textstellen nicht eklektisch zusammenzusuchen. Meist werden in der Literatur zu Bourdieu Zitate relativ sorglos aus den verschiedensten Schriften und Perioden nebeneinander gestellt. Auf die orthodoxen Anhänger Bourdieus wird meine Interpretation seines Werks daher zugleich häretisch (oder nicht hinreichend loyal) und pedantisch wirken.
Meine Herangehensweise an Bourdieus Schriften wird sicher zumindest unbewusst von meinem Bild des Menschen Bourdieu beeinflusst. Wenn ich hier aus meiner Erinnerung einige Umrisse dieses Bildes skizziere, möchte ich einen Eindruck des Menschen, aber auch meiner Perspektive auf ihn vermitteln, die möglicherweise verzerrend wirkt. Die kritische Aufarbeitung an der eigenen Perspektive lehrte Bourdieu in seiner letzten Vorlesung am Collège de France. In seinem postum veröffentlichten »Soziologischen Selbstversuch« (2002b) führte er die soziologische Selbstanalyse exemplarisch an seiner eigenen Biographie durch. Auch wenn zweifellos manch ein Aspekt der Biographie im Rückblick verfälscht wurde, scheint mir das Werk ihre wichtigsten Konturen nachzuzeichnen. Es bietet nicht nur einen guten Überblick über Bourdieus Lebensgeschichte, sondern auch eine leicht zugängliche Anwendung seiner Soziologie.
Bourdieu verkörperte seine Lehre. Er war den wissenschaftlich Interessierten in seiner Umgebung ein Vorbild, indem er seine Forschung mit großem Ernst und außergewöhnlichem Engagement verfolgte. »Pierre Bourdieu war Tag und Nacht Wissenschaftler.« (Jurt 2003b: 170) Dabei war er persönlich bescheiden und uneitel. Stets trug er ein einfaches Oberhemd mit Sakko, durch seine Kleidung fiel er unter keinen Umständen auf. Im Gegensatz zu vielen berühmten Pariser Intellektuellen legte er auf eine modische Inszenierung seiner Person keinen Wert. (Und Mode hat in Paris einen anderen Stellenwert als in Gelsenkirchen). Sein Blick war immer wach, seine Ausstrahlung wohlwollend und zurückhaltend. Bei Menschen, die ihn nur kurz trafen, wird er keine nachhaltige Wirkung hinterlassen haben. Das galt umso mehr bei Vorträgen und Vorlesungen, die selten so eindrucksvoll waren wie die von Derrida oder Deleuze. Bourdieu rang oft nach Worten, verhaspelte sich, schweifte ab und war undeutlich. Die mündliche Undeutlichkeit war für ihn teilweise, wie im Schriftlichen, Programm. Er wollte nicht leicht verstanden werden, um weniger leicht missverstanden zu werden. Seine Zuhörer- und Leserschaft sollte sich bemühen müssen, eigene Erkenntnis zu erarbeiten, anstatt leicht zugängliche Resultate zu schlucken: »ich sage meinem Publikum aus Prinzip immer das, was am schwierigsten zu verdauen ist« (2003a: 79).
Bourdieus ausgeprägte Selbstreflexivität erwuchs gleichsam aus seinem eigenen Habitus. Man kann vielleicht sogar behaupten, dass sich in ihr die Verwunderung über sich selbst ausdrückte. Ein Landjunge hatte es auf den begehrtesten Soziologie-Lehrstuhl ganz Frankreichs gebracht. Bourdieu betonte immer wieder, dass er sich im akademischen Umfeld fremd fühlte. Die Verhaltens- und Denkweisen seiner Kolleginnen und Kollegen, die ihnen zur zweiten Natur geworden waren, betrachtete er mit innerer Distanz. Die selbstverständlichen Modi wissenschaftlichen Arbeitens, von der passiven Lektüre über die Zitierweise bis hin zur monologischen Forschung, waren ihm gerade nicht selbstverständlich. Er prüfte die Begriffe, Denk- und Verhaltensweisen, die er gelernt hatte, immer wieder mit kritischem Blick und Distanz. Eben das ist mit Selbstreflexivität gemeint. Im Laufe der Zeit wurde die Selbstreflexion theoretischer, indem Bourdieu sie mit seiner soziologischen Theorie auflud. Er betrachtete also sein eigenes Tun, wie er das der anderen sozialen Akteurinnen und Akteure betrachtete – und in gewisser Weise auch umgekehrt.
Einem Menschen wie Bourdieu fliegen nur wenige Herzen zu. Die Zuneigung seiner Umgebung hat er sich im wahrsten Sinne erarbeitet. Wer ihn nämlich bei der Arbeit erlebt hat, musste beeindruckt sein. Es ging ihm um die Sache, nicht um seine eigene Person. Gleichzeitig waren ihm alle Menschen seiner Umgebung in ihren persönlichen Anliegen wichtig. Und schließlich – um diese fast pathetische Heranführung abzurunden – konnte man sich seinem moralisch-politischen Impuls kaum entziehen, der sich durchaus in Marx’ Forderung verbalisieren lässt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1976: 385). Und wer von Bourdieus Feuer erst einmal angesteckt war, konnte es schwerlich wieder ersticken. Es kam nur vor, dass die Besessenheit, mit der Bourdieu seine Forschung verfolgte, Menschen in seiner Umgebung die Luft zum Atmen nahm. Die anderen seiner Schülerinnen und Schüler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit seinem Tod 2002 einen »Vater«, ein Vorbild und einen Freund verloren. Die Stelle, die er im Raum einnahm, ist leer geblieben. So scheint es angemessen.
Das Buch ist großenteils systematisch aufgebaut, bemüht sich aber darum, die Systematik mit Bourdieus Denkweg zu verknüpfen. Die ersten sieben Kapitel markieren Schritte in Bourdieus Denken, die teilweise gleichzeitig begonnen und teilweise gleichzeitig durchgeführt wurden, wobei das achte Kapitel sich auf die Rezeption seiner Forschung bezieht. Obwohl Bourdieus Werk eine außergewöhnliche Einheit aufweist, werden Grundbegriffe und Theoreme selten in zwei Arbeiten genau gleich vorgebracht, weil die jeweilige Stoßrichtung unterschiedlich war. Das ist ein sachlicher Grund dafür, nicht beliebig Zitate aus verschiedenen Arbeiten miteinander zu kombinieren und zur gegenseitigen Erläuterung heranzuziehen. Einige Missverständnisse in der Sekundärliteratur erwachsen aus dieser philologischen Unbekümmertheit, die durch die Einheitlichkeit von Bourdieus Werk gefördert wird. Im Folgenden soll vorsichtiger operiert werden. Die jeweiligen Denkschritte werden fast ausschließlich an einzelnen Arbeiten oder an Arbeiten aus derselben Periode demonstriert. Das gilt etwas weniger für die Kapitel zwei und drei, in denen die erkenntnistheoretischen und begrifflichen Grundlagen erläutert werden. Aber auch die Abschnitte dieser beiden Kapitel konzentrieren sich jeweils auf ein Buch und ziehen weitere Arbeiten nur heran, um die Weiterentwicklung von Bourdieus Denken darzulegen. Das Vorgehen bringt mit sich, dass einige bedeutende Werke Bourdieus nicht ausführlich diskutiert werden, allen voran »Die Regeln der Kunst« (1999) und die »Meditationen« (2001f).
Das erste Kapitel versucht, die Geburt wesentlicher Gedanken Bourdieus in Algerien nachzuzeichnen, wo er seine ersten Forschungen durchgeführt hat. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die er in Grundzügen nach seiner Rückkehr aus Algerien ausgearbeitet hat. Im ersten Theorieentwurf Bourdieus sind die meisten der Grundbegriffe enthalten, die im dritten Kapitel skizziert werden. Die folgenden drei Kapitel resümieren Bourdieus Forschungen zu drei wichtigen Themengebieten: zum Bildungswesen, zu den Lebensstilen und zum symbolischen Universum. Das fünfte Kapitel (zu den Lebensstilen) ist hauptsächlich ein Kommentar der »Feinen Unterschiede«. Das siebte Kapitel ist Bourdieus politischer Soziologie (oder soziologischer Politik) gewidmet, die sein letztes Lebensjahrzehnt charakterisiert. Im letzten Kapitel wird die Rezeption seiner Werke, insbesondere in Deutschland skizziert. Dabei wird auch gezeigt, wie man mit Bourdieu arbeitet und arbeiten kann. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung, die in den ersten Kapiteln eher der Lebensgeschichte Bourdieus, danach eher dem Zusammenhang zwischen den Gedanken und Kapiteln gewidmet ist. Der Hauptteil jedes Kapitels gliedert sich in mehrere Abschnitte, die sich auf ein Thema oder ein Werk konzentrieren.
Man könnte bildlich sagen, das Buch entfalte sich und ziehe sich wieder zusammen. Es geht aus von Bourdieus Begegnung mit dem Kolonialismus, aus der seine Soziologie erwuchs, und schließt im siebten Kapitel mit seiner Kritik an einer gegenwärtigen Form des Kolonialismus. Die Kapitel zwei und sechs beziehen sich auf den Bereich des Symbolischen, das zweite Kapitel auf die Theorie, das sechste auf die Praxis. In den Kapiteln drei und fünf werden die wichtigsten Begriffe Bourdieus erläutert, im früheren abstrakt, im späteren in Verbindung mit dem empirischen Material. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Angelpunkt der bourdieuschen Soziologie, der Lehre von der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Kapitel greifen ineinander und kommunizieren gleichsam unterirdisch miteinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. Allerdings sollte – wie bei Bourdieu – kein Satz ohne das Ganze des Buches als absolut und uneingeschränkt gültig verstanden werden.
Die Bücher Bourdieus werden nach dem Erscheinungsjahr zitiert – möglichst aus der deutschen Übersetzung. Die Verweise in Klammern enthalten Jahreszahlen (und zumeist Buchstaben), die sich auf die Literaturliste am Ende des Buches beziehen. Zitate sind – moderat – der neuen Rechtschreibung angepasst, um den Lesefluss zu erleichtern. Ein »Fn« nach der Seitenzahl bedeutet, dass sich die entsprechende Stelle in einer Fußnote findet. Bourdieus Auffassungen werden um der Lesbarkeit willen nicht durchgehend im Konjunktiv wiedergegeben. Damit hängt auch ein häufiger Zeitenwechsel zusammen. Von der in Vergangenheitsformen referierten Lebensgeschichte wird zur Darstellung der Soziologie im Präsens übergegangen – und zurück. Die Grenzen sind dabei fließend. Aus stilistischen Gründen habe ich nicht immer neben der männlichen auch die weibliche Form benutzt. Das wird aus dem Zusammenhang ersichtlich.
Für die Lektüre des Manuskripts und kritische Anmerkungen danke ich Gerhard Fröhlich, Rolf-Dieter Hepp, Karsten Kumoll, Gernot Saalmann und Kai Thyret. Zahlreiche Aspekte dieses Buches habe ich mit verschiedensten Menschen besprochen, deren Anregungen und Informationen auf die eine oder andere Weise in den Text eingegangen sind. Hierfür danke ich Carina Braun, Patrick Champagne, Gunter Gebauer, Remi Lenoir, Jochen Rehbein, Franz Schultheis, Kristina Schulz, Michael Vester, Loïc Wacquant und Anja Weiß. Danken und gedenken will ich an dieser Stelle der 2005 verstorbenen Steffani Engler. Des Weiteren danke ich Joseph Maran und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Jahresprojekt über »Zeichen der Herrschaft« (Heidelberg/Freiburg). Auch meine Lehrveranstaltungen waren in dieser Hinsicht förderlich. Mein ganz besonderer Dank gilt allen Studierenden, die im Sommersemester 2005 mein Seminar über Bourdieu an der Universität Freiburg besucht und ihre Auffassungen eingebracht haben. Das Seminar war Grundlage der ersten Auflage dieses Buches.