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1.4 Ethno-soziologische Methoden

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Die ethnologische Situation bietet eine Besonderheit, die zugleich Vorteil und Nachteil ist. Man kennt den Gegenstand nicht aus eigener Erfahrung und hat deshalb Distanz zu ihm. Diese Situation bietet die Möglichkeit, den Erkenntnisprozess zu beobachten und die eigenen Voraussetzungen in den Blick zu bekommen und kritisch zu hinterfragen. Sie zwingt aber auch dazu, die zuvor unbekannten, fremden Menschen zu verstehen, ihre Perspektive kennen zu lernen und zumindest hypothetisch nachzuvollziehen. In dieser Situation befand sich Bourdieu während seiner Forschungen in Algerien. Er hat sie nicht mehr verlassen, sondern mit nach Frankreich zurückgenommen.

In Algerien befand er sich in einer besonderen Variante der ethnologischen Situation, denn er war als Soldat einer Kolonialmacht gekommen. Einerseits schien ihm der Kolonialkrieg die Erkenntnis zu begünstigen, denn er offenbarte die wesentlichen Eigenschaften der algerischen Gesellschaft (1962a: 308). Darüber hinaus ermöglichte er die Erkenntnis der Kolonialherrschaft. »Der Krieg bringt mit einem Schlag die wahren Grundlagen der kolonialen Ordnung ans Tageslicht, nämlich das Kräfteverhältnis, mit dem die herrschende Kaste die beherrschte Kaste unter Vormundschaft hält.« (2003a: 22) Andererseits aber erschwerte er den Forschungsprozess und die Kommunikation mit den Menschen, die Bourdieu gegenüber misstrauisch waren und stets nur über ihre Leiden sprechen wollten (1963: 260f). Ferner bedienten sie sich nicht ihrer eigenen Sprache, sondern beschränkten sich auf Worthülsen (1963: 259). Bourdieu beobachtete nun, dass ihre Worte oft von ihren Handlungen abwichen (2003a: 32). Das wurde ihm zur Grundlage der Fragen, die er im Forschungsprozess stellte. Er hatte vor, den Worten und Handlungen der Menschen den Sinn wiederzugeben, den sie vor der Kolonialherrschaft hatten (1963: 259f). Das erwies sich jedoch als problematisch – ebenso wie seine strikte Trennung von traditionaler und moderner Gesellschaft. Glücklicherweise konzentrierte er sich darauf, die soziale Wirklichkeit so zu untersuchen, wie sie sich ihm darbot, und den Auswirkungen von Kolonialherrschaft und Krieg nachzuspüren.

Bei der Beschäftigung mit den Kabylen kam ihm zu Gute, dass er selbst auf dem Land aufgewachsen war und viele der Aspekte des Bauernlebens kannte. Dem Misstrauen und der Fremdheit begegnete er durch einen folgenreichen Kunstgriff. Er hatte sich mit dem algerischen Wissenschaftler Abdelmayek Sayad angefreundet, der ihn bei der Feldforschung begleitete.16 Auf diese Weise ergab sich stets ein doppeltes Bild. Einer war vertraut, der andere fremd; einer schrieb, der andere hörte zu und stellte die Fragen; einer beobachtete, der andere handelte. Die Einbeziehung und Ausnutzung verschiedener Perspektiven auf denselben Gegenstand zeichnete Bourdieus Methode bis zuletzt aus. Hierzu gesellt sich eine Vielheit der Instrumente, die er in keiner Weise orthodox und schulmäßig trennte (Schultheis 2003a: 27). Bourdieu kaufte sich eine gute Kamera und machte in Algerien unzählige Photographien (siehe 2003b). Photographie ist auch ein Weg zu den Menschen, sie eröffnet den persönlichen Kontakt, ermöglicht die Aufzeichnung von Details und Vergänglichem, beeinflusst ihn aber wenig und ist wenig selektiv. Bourdieu machte standardisierte und offene Interviews, kontrollierte und zufällige Beobachtungen, sammelte und analysierte Sprichwörter, notierte Haushalts- und Zeitbudgets, fertigte Schemata und Zeichnungen an (Schultheis 2003a: 30).

»Ich bin einfach ins kalte Wasser gesprungen, so wie man Kinder ins Wasser stößt, damit sie schwimmen lernen. Ich arbeitete gleichzeitig an tausenderlei Fragen und Themen von der Gabe, über den Kredit bis hin zu Verwandtschaftsbeziehungen und hatte irgendwie schon das Gefühl, auf dem rechten Wege zu sein, ohne dass ich aber genauer hätte sagen können, worin meine Methode denn eigentlich konkret bestand« (zitiert nach Schultheis 2003a: 33).

Mit Sayad arbeitete er nach eigener Aussage über Wochen von sechs Uhr morgens bis drei Uhr nachts (2003b: 39). Schließlich befragte er mit seinen Kollegen vom INSEE rund 2000 Personen (von denen er 200 für eine genauere Erhebung mit eigenen Fragen auswählte) (Schultheis 2000: 173).17

Ein wichtiges ethnologisches Instrument hat Bourdieu allerdings vergessen, was er später sehr bedauerte: das Tagebuch (2003b: 38). Das Bedauern beruht sicher zum Teil darauf, dass das Tagebuch eine besonders gute Grundlage für die Gleichzeitigkeit von Forschung und Selbstreflexion bietet, die Bourdieus Ansatz auszeichnet und schon in Algerien entwickelt war.

»Da ich überzeugt bin, dass man sich entfernen muss, um sich anzunähern, dass man sich selbst einbringen muss, um sich auszuschließen, dass man sich objektivieren muss, um die Erkenntnis zu entsubjektivieren, war mein erstes Objekt der anthropologischen Erkenntnis ganz bewusst die anthropologische Erkenntnis selbst, und die Differenz, die sie notwendigerweise von der praktischen Erkenntnis unterscheidet.« (2003a: 45)

Erst die Enthüllung des eigenen Vorverständnisses ermöglicht eine verstehende Annäherung an den Gegenstand. Ganz im Geiste Gadamers vermittelte Bourdieu seine Konstruktion des Gegenstands mit seinen Beobachtungen des Gegenstands. Daraus erwuchs seine Erkenntnis der kulturellen Einbettung der Wirtschaft und letztlich auch seine Einsicht in die Ungleichzeitigkeit.

»Nichts hatte mich darauf vorbereitet, die Ökonomie, und erst recht nicht die eigene, als ein Glaubenssystem zu denken, und ich musste nach und nach auf dem Wege der ethnographischen Beobachtung und verstärkt durch meine statistischen Untersuchungen die praktische Logik der vorkapitalistischen Ökonomie erlernen, während ich gleichzeitig damit befasst war, deren Grammatik mehr schlecht als recht zu beschreiben.« (2000c: 16)

Die Soziologie Pierre Bourdieus

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