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1.2 Traditionen
ОглавлениеZunächst hatte Bourdieu die Einsicht in eine Ungleichzeitigkeit innerhalb der algerischen Gesellschaft, die durch die Frage angeregt worden war, warum die Menschen nach westlichen Maßstäben in der Wirtschaft irrational handelten, obwohl sich die westliche Marktwirtschaft bereits ausgebreitet hatte. Er entdeckte, dass eingeübte Verhaltensweisen noch fortbestehen, auch wenn sich die Bedingungen bereits geändert haben. Die Menschen in Algerien handelten nicht irrational, sondern sie folgten den Verhaltensmustern, die sie gelernt hatten und über Jahrhunderte die einzig angemessenen gewesen waren. In dieser Einsicht liegt der Ursprung des Habitusbegriffs, wie auch Bourdieu selbst später meinte (Schultheis 2000: 166; siehe drittes Kapitel).5 Mit der Einsicht drängte sich darüber hinaus die Erkenntnis auf, dass die Wirtschaft kein selbständiges System ist, das vollständig aus sich heraus erklärbar wäre. Vielmehr müssen auch die jeweiligen soziokulturellen Bedingungen betrachtet werden. Nur so wird beispielsweise das »irrationale« Verhalten der Menschen in Algerien erklärbar.
Zu Beginn war Bourdieus Beschäftigung mit Algerien noch stark von einem Dualismus geprägt:
»[D]ie Erscheinungen des sozialen, ökonomischen und psychologischen Zerfalls müssen offenbar verstanden werden als Resultat des Zusammenwirkens von ›externen Kräften‹ (Eindringen der westlichen Zivilisation) und von ›internen Kräften‹ (ursprüngliche Strukturen der einheimischen Zivilisation).« (1959: 54; übersetzt von Fuchs-Heinritz, König 2005: 14)
Auf der einen Seite standen die Franzosen, auf der anderen die Algerier. Dem entsprachen zwei Wirtschaftsweisen, eine kapitalistische und eine traditionale. Bourdieu meinte, die koloniale Gesellschaft sei durch einen ökonomischen Dualismus gekennzeichnet (1962 in 2003a: 37). Eine einflussreiche Strömung der gerade entstehenden Entwicklungssoziologie suchte die Kolonialgesellschaften auf genau diese Weise zu verstehen, als duale Gesellschaften, und die Wirtschaftssysteme als duale Ökonomien. Man kann von Glück sagen, dass Bourdieu die Diskussionen in der Entwicklungssoziologie entweder nicht kannte oder sich nicht intensiv mit ihnen beschäftigte. Sonst hätte er vermutlich nicht erkennen können, dass der Dualismus die vielfältigen Verschränkungen von Tradition und Moderne verdeckt.6
Wenn Algerien in den Fünfzigerjahren nur als Konfrontation von kolonialen und traditionalen Formen zu verstehen war, musste sich Bourdieu auch mit der traditionalen Gesellschaft beschäftigen. Das tat er, wie wir gesehen haben, mit größtem Engagement. Die ersten Ergebnisse veröffentlichte er in der »Sociologie d’Algérie«. Das Werk ist noch stark dualistisch geprägt. Auch in den folgenden Werken bemühte sich Bourdieu noch, die Grundzüge der vorkapitalistischen Gesellschaft herauszuarbeiten – die es so schon lange nicht mehr geben konnte, war doch die algerische Küste mindestens seit dem antiken Griechenland integraler Bestandteil der Mittelmeerzivilisation und seit 1830 unter französischem Einfluss gewesen. Auch wenn die Ergebnisse einen idealisierten Charakter haben und nicht mehr den Standards der heutigen Ethnologie genügen, sind sie sehr interessant.
Die traditionale Gesellschaft untersuchte Bourdieu bei den Kabylen, einer ethnischen Gruppe im Bergland Nordalgeriens. Die Kabylei war wegen ihrer Topographie in den Fünfzigerjahren noch recht isoliert. Seine Bevölkerung lebte vom Anbau von Oliven, Feigen und Gemüse (1958: 9ff). Nur wenige Menschen waren zum Islam übergetreten. So meinte Bourdieu, bei den Kabylen einen »ursprüngliche Lebensweise« vorzufinden. Seine Beschreibung der Lebensweise erinnert stark an Emile Durkheim, indem die traditionale Gesellschaft als eine Art totale Gemeinschaft mit mechanischer Solidarität gedeutet wird (1958: 22ff). Durkheim hatte die Auffassung vertreten, dass es in traditionalen Gesellschaften wenig Spielraum für individuelle Abweichungen gebe und die Gesellschaft gleichsam die Substanz der Individuen sei. Selbst wenn Bourdieu für seine »Sociologie d’Algérie« Durkheim nicht gelesen haben sollte – was unwahrscheinlich ist – waren seine Gedanken doch so verbreitet, dass sie Bourdieu sicher vertraut waren. Zweifellos bildeten sie den theoretischen Boden, auf dem seine Einsicht heranwuchs. Denn Bourdieu behielt stets die Auffassung bei, dass die Menschen ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung erwarben. In diesem Sinne blieb für ihn die Gesellschaft die Substanz der Individuen. Die Existenz ungleichzeitiger Gesellschaften in Algerien führte ihn jedoch zu einer Neubestimmung von Durkheims Konzeption. Die Menschen erwerben Bourdieu zufolge zwar ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung, aber diese Muster erweisen sich als träge, indem sie sich nicht gleichzeitig mit den sozialen Verhältnissen ändern. Die Gesamtheit der Muster ist eben der Habitus (siehe 3.1). Der Habitus wird von der Gesellschaft »eingepflanzt«, so dass ein Mensch sozial determiniert ist, aber nach seiner Einpflanzung entwickelt er eine eigene Dynamik, die nicht mit der Dynamik der Gesellschaft identisch ist. Der Habitus bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten, aber er beinhaltet nicht die zukünftigen Bedingungen, auf die er reagieren muss. Die Bedingungen sind vielleicht determiniert, und der Habitus ist determiniert, aber ihr Zusammentreffen eröffnet verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die Gesellschaft nicht verändert, wirkt der Habitus determinierend. Denn die Bedingungen der Einübung sind auch die Bedingungen der Anwendung, das gegenwärtige Denken, Wahrnehmen und Verhalten ist mit dem zukünftigen identisch. Genau das behauptet Bourdieu von den Kabylen (1958: 22ff). Hätte er auf der Basis von Durkheim lediglich ethnologische Feldforschung betrieben, so hätte er den vorangehend skizzierten Gedanken kaum entwickeln können. Es ist wiederum die Vielfalt der Ansätze und Probleme, die ihn über Durkheim hinausführte.
Bourdieu kam zum Ergebnis, dass die Familie der Kern und das Modell der gesamten kabylischen Gesellschaft sei (1958: 11, 20f). Das ist nicht überraschend, denn es gilt für die meisten oder vielleicht alle traditionalen Gesellschaften. In der kabylischen Gesellschaft würden, so Bourdieu, alle Verhältnisse nach dem Vorbild der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmt, die Menschen könnten sich Beziehungen sogar nur nach diesem Muster vorstellen (1958: 21). Das Individuum sei zuerst und vor allem Mitglied einer Familie und sodann ein Mitglied der Gruppe (des Dorfes). Daher empfinde es die Regeln der Gemeinschaft nicht als Zwang, sondern als Teil seines eigenen Bewusstseins (1958: 22). Das Gemeinschaftsgefühl mache politische und rechtliche Institutionen überflüssig (1958: 24). Die Angst vor der Gemeinschaft – insbesondere vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft – sei bereits eine hinreichende Garantie für Konformität (1958: 22, 86). Mangelnde Konformität beschmutze das eigene Ansehen und sei ein Angriff auf die Gemeinschaft (1958: 25; 2000c: 46). Diese doppelte Sicherung bezeichnete Bourdieu als »Ehre« (1958: 23). Sie sei der einzige Verhaltenskodex.7 Tatsächlich aber sei die Ehre auch sozial abgestuft, und diese Hierarchie scheint mir eine wichtige zusätzliche Garantie der Konformität zu sein. Jede Familie habe einen Chef, ebenso jeder Clan und jeder Stamm (1958: 12, 61). Hierbei handelt es sich um die jeweils ältesten Männer. Sicherlich hatten auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft ihre eindeutig festgelegte (niedrigere) soziale Position (Rehbein 2004). Jede kabylische Großfamilie besitze ein Stück Land, meist ein bis zwei Hektar (1958: 11). Durch die Besitzgemeinschaft und die Anpassung des Konsums an den Jahreszyklus gebe es keinen Hunger. Da sich diese Verhältnisse prinzipiell nicht änderten, sei eine Ökonomie im Sinne eines vorausschauenden Kalküls unnötig und sogar sinnlos (1958: 11, 95; 2000c: 45).
Diese Strukturen schienen nun auch dort erhalten zu bleiben, wo die Moderne Einzug hielt – wenn die Gemeinschaften zumindest teilweise fortbestanden. Dort erwarben die Algerier und Algerierinnen weiterhin ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von ihren Vorfahren, die kulturellen Werte würden mündlich übermittelt (1958: 83). Selbst in den Städten kümmerten sich die Menschen nicht um Produktivität, Effizienz und Gewinn, sie behielten den gewohnten Tagesablauf bei (1958, 55f). Was aber geschah dort, wo die traditionalen Gemeinschaften zerstört wurden oder wo der Druck zur Anpassung an die Moderne zu groß wurde? Aus den traditionalen Strukturen fielen vor allem die Menschen heraus, die eine Lohnarbeit finden mussten und nur instabile Beschäftigung fanden. Sie waren vereinzelt.
»Der Mensch der ländlichen Gemeinschaften, der stark in gemeinschaftliche Bande verwoben ist, eng von den Alten angeleitet und von einer Fülle von Traditionen unterstützt wird, macht dem isolierten und hilflosen Herdenmenschen Platz, der aus den organischen Einheiten herausgerissen ist« (2003a: 26).
Die Auswirkungen der Vereinzelung, des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, der sozialen Differenzierung untersuchte Bourdieu in den Jahren nach dem Erscheinen der »Sociologie d’Algérie« genauer. Besser gesagt, er führte die begonnenen Detailuntersuchungen fort. In ihnen tritt sein Ansatz schon recht deutlich hervor, auch wenn seine Einsicht noch nicht ganz entfaltet ist. Er fand heraus, dass gerade der Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit die Traditionen zerstörte (1962b: 1039). Die Angst vor Arbeitslosigkeit bestimmte zunehmend das Denken und Handeln der städtischen Bevölkerung (1963: 268). Die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen brachen mit der Tradition, obwohl sich ihre Lebensweise auf den ersten Blick nicht von der traditionalen unterschied: unregelmäßiger Wechsel von Arbeit und »Freizeit«, keine Planung der Zukunft, keine Ersparnisse, keine Reflexion auf die Bedingungen und erst recht keine Bemühung zur Veränderung der Bedingungen (1962b). Unter den oberflächlichen Ähnlichkeiten verbargen sich jedoch grundlegende Differenzen: Die traditional Lebenden waren immer »beschäftigt«, auch wenn sie nicht arbeiteten, sie waren in eine Gemeinschaft integriert, sie mussten für ihren Lebensunterhalt keine Schulden machen, sie brauchten sich nicht um ihre Zukunft zu kümmern, während die Tagelöhner, Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten nicht für ihre Zukunft sorgen konnten, unehrenhaft Schulden machen mussten und vereinzelt waren (ebd.). Da sie nicht für die Zukunft planen konnten, entwickelten sie auch kein kapitalistisches Kalkül. Das war nur den Unternehmern und den stabil Beschäftigten möglich (siehe unten; vgl. Rehbein 2004). Hier sah Bourdieu die entscheidende Trennlinie in der algerischen Gesellschaft, zumindest in der städtischen. Sie ließ sich genauer bestimmen als Differenz zwischen fester Stelle und Gelegenheitsarbeit. Quantitativ ermöglichte erst ein Einkommen über 600 Francs eine rationale Planung der Zukunft und damit ein kapitalistisches Kalkül (1963: 361ff). Die Trennlinie wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Menschen oberhalb der Trennlinie nahmen die kapitalistische Denkweise an und wiesen den geringsten Unterschied zwischen Ideologie und Verhalten auf. Dennoch machte sich auch bei ihnen noch die Trägheit des traditionalen Habitus bemerkbar. Die Menschen kehrten jederzeit zu wirklichen oder vermeintlichen Traditionen zurück, wenn die kapitalistischen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten verschwanden (1963: 366).
Der Kapitalismus entwickelte sich also nicht gleichmäßig. Man konnte nicht einmal sagen, dass er auf dem Land langsam und in der Stadt schnell entstand. Eher entwickelte er sich in verschiedenen Klassen unterschiedlich schnell, genauer gesagt: die Entwicklung hing von den Existenzbedingungen der Menschen ab (2000c: 24f). Bourdieu führte das kapitalistische Denken also nicht auf einen Geist und nicht auf eine Klasse zurück, aber auch nicht auf ein Bündel kultureller Merkmale. Er unterschied mehrere Klassen mit unterschiedlich ausgeprägtem kapitalistischen Denken, das wiederum der individuellen Laufbahn und den jeweiligen Bedingungen entsprechend noch einmal variierte.
»Da alles Verhalten das Resultat einer Transaktion zwischen Muster und Situation ist und die Individuen gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Zustand mit sehr unterschiedlichen Situationen konfrontiert sind, wird das System der Verhaltensmuster, das gemeinsame Erbe, tendenziell durch Systeme ersetzt, die für jede Klasse spezifisch sind« (1963: 382; eigene Übersetzung).
Als »Faktoren der Differenzierung« wirken sich dabei die ökonomische Notwendigkeit, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, der Kontakt mit der europäischen Gesellschaft, das Einkommen, das Bildungsniveau und die Ideologie der Klasse aus (ebd.). Diese Gedankenfigur kommt der entfalteten Einsicht und dem Ansatz des reifen Bourdieu schon recht nahe.
Auf der Basis seiner »Faktoren der Differenzierung« unterschied Bourdieu in der städtischen Gesellschaft Algeriens vier Klassen: Subproletariat, Proletariat und Semiproletariat (neue Arbeiter und traditionelle Arbeiter), Kleinbürgertum, Bourgeoisie (1963: 365ff). Die Klassen bestimmten sich also nicht allein – wie bei Marx – durch ihren Besitz an Produktionsmitteln, aber auch nicht allein nach ihrem Einkommen. Bourdieu hielt auch nicht an der alten Einteilung in Stadt und Land bzw. westliche und traditionale Gesellschaft fest. Vielmehr überlagerten sich all diese Unterschiede mit weiteren wichtigen Differenzen. Diese differenzierte Betrachtung der Sozialstruktur ist ein wichtiger Beitrag Bourdieus zur Soziologie und hat die Sozialstrukturforschung nachhaltig verändert (siehe 5. Kapitel).
Bourdieu stellte, wie wir gesehen haben, nicht beliebige Fragen. Ihn interessierte das Leiden der Menschen in der Kolonialgesellschaft. Das moralische Elend der Menschen schien ihm dabei noch gravierender als das materielle Elend (2003a: 26).8 Auch wenn er sich diesem Leiden auf eine innovative, eigensinnige Weise näherte, war er dabei alles andere als naiv. Die Frage nach dem Kapitalismus stellte er in enger Auseinandersetzung mit Max Weber. »Es war eine webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte …« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2000: 166) Webers Antwort, dass die ethisch-religiöse Orientierung eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Kalküls spiele, verwarf Bourdieu rasch. Algerien habe viel mit nicht-islamischen Gesellschaften gemeinsam, der Islam sei weder Ursache noch Folge der Sozialstruktur (1958: 96). Und die Sozialstruktur fasste Bourdieu in marxschen Begriffen.
Aus heutiger Sicht erscheint der Verweis auf Marx vielleicht etwas irreführend, denn Ausführungen über »Das Kapital« – also Begriffe wie Wert, Arbeitszeit, Profit – sucht man in Bourdieus Frühschriften vergeblich. Mit dem Verweis auf Marx konnte nur der Klassenkampf gemeint sein. Während des algerischen Kolonialkriegs bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Frage nach der Revolution das beherrschende Thema der politischen Linken. Und das war keine Spinnerei Pariser Intellektueller, sondern rund um die Welt Realität. Nachdem das geographisch größte Land 1917 eine sozialistische Revolution erlebt hatte, folgte 1949 mit China das bevölkerungsreichste Land. Die französische Kolonie Indochina verlor 1954 Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten die Teilung Koreas akzeptieren mussten. Überall in der »Dritten Welt« entstanden sozialistische Befreiungsbewegungen. Die USA, die 1945 Frankreich noch dafür getadelt hatten, seine Kolonialherrschaft wiederherstellen zu wollen, stellten sich wenig später auf die Seite der Kolonialherren. Nun hieß es für sie, Sozialismus oder Freiheit (Kapitalismus). Für die meisten Pariser Intellektuellen war die Frage längst beantwortet. Ihre Fragen lauteten, wo die Revolution stattfinden sollte, ob sie dem chinesischen oder dem sowjetischen Vorbild zu folgen hätte, ob die Bauern oder die Arbeiter sie vollziehen würden.
Bourdieu konnte sich dem politischen Diskurs, der ja reale Grundlagen hatte, nicht entziehen. Er wollte nur nicht intuitiv Partei ergreifen, sondern die Fragen wissenschaftlich beantworten: »man musste die Frage beantworten, ob die Bauern oder das Proletariat die revolutionäre Klasse sind. Ich habe versucht, diese fast metaphysischen Fragen in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen.« (2003a: 44) Auch in dieser Hinsicht stand Bourdieu quer zu allen Fronten. Die »fast metaphysischen Fragen« mussten in Paris am Schreibtisch gelöst werden, während sich echte Wissenschaftler mit allem beschäftigten, nur nicht mit der Revolution. Wenn man sich mit der Entstehung eines kapitalistischen Denkens beschäftigte, so war man Anhänger Max Webers, und wenn es um den Klassenkampf ging, musste man sich hinter Marx stellen. Und in Algerien stand man als Franzose auf der falschen Seite. Bourdieu missachtete diese eindeutigen Zuordnungen. Wenn Bourdieu Webers Frage »in marxschen Begriffen stellte«, so heißt das, dass er eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht in der Religion suchte, sondern in den Klassenkämpfen. Umgekehrt setzte er keineswegs die marxsche Lehre der zwei Klassen voraus, sondern suchte die Klassen empirisch zu bestimmen, und zwar nicht nur ökonomisch.
Zu diesem Zweck ergänzte er die Fragebögen der großen statistischen Untersuchung über die algerische Bevölkerung um Fragen nach revolutionären Projekten. »Dabei habe ich festgestellt, dass das Subproletariat zwischen einem großen Veränderungswillen und einer fatalistischen Hinnahme der Welt, so wie sie ist, hin- und herschwankt.« (2003a: 44) Die Erkenntnisse über das algerische Subproletariat hat Bourdieu mit seiner Ethnologie der Kabylen und den Einsichten in die Entstehung des Kapitalismus zu einer vorläufigen Beschreibung der Sozialstruktur Algeriens insgesamt verknüpft, deren Grundzüge oben erwähnt wurden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse noch etwas detaillierter betrachtet werden. Sie können unter drei Schlagworten zusammengefasst werden: Zerstörung der ländlichen Strukturen, Perspektivlosigkeit (der Landflüchtigen und der Subproletarier) und Folgen des Kolonialsystems.
Die Zerstörung der ländlichen Strukturen kann nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden. Viele Aspekte des Kolonialsystems griffen ineinander, die zusammen die Struktur einer Konfiguration oder eines Kaleidoskops bildeten (1958: 82). Bourdieu interessierte sich wenig für die Beschreibung der gesamten Konfiguration, sondern konzentrierte sich – wie oben ausgeführt – auf die Entstehung des Kapitalismus und das Klassenbewusstsein. Vor diesem Hintergrund war die Zerstörung ländlicher Strukturen insofern interessant, als sie Menschen aus den traditionalen Netzen befreite und zum Eintritt in kapitalistische Strukturen nötigte. Gleichsam nebenbei beobachtete Bourdieu, wie sich die »traditionale« Lebensweise auf dem Land änderte. Er erkannte beispielsweise, dass die Verwandlung von (zuvor gemeinschaftlichem) Grundbesitz in Eigentum die ländliche Sozialstruktur fundamental veränderte. Die Menschen gerieten in Versuchung, ihr Land, das jetzt ihr Eigentum war, unter dem Marktwert zu verschleudern, um Mittel für den augenblicklichen Konsum zu haben (2000c: 39). Und ehe sie sich’s versahen, standen sie ohne Land und ohne Geld da. Es bleiben die Auswege des – traditionell verpönten – Kredits und der Lohnarbeit. Bourdieu betrachtete die Registrierung des Grundbesitzes als eine Strategie der Kolonialverwaltung, das Land auf legalem Weg in den Besitz der Weißen zu bringen, die über die finanziellen Mittel verfügten, es zu erwerben (1964a: 16).9
Neben dem »Push-Factor« der legalen Enteignung wirkte Bourdieu zufolge der »Pull-Factor« des Konsums auf die jüngere Landbevölkerung (1963: 371f). Dieser wurde noch verstärkt durch die westliche Bildung, die ältere Algerier nicht hatten. Dadurch wurde die traditionelle Hierarchie innerhalb der Familie und damit innerhalb der Gemeinschaft aufgeweicht (2000c: 80). Die Autorität und das Wissen der Älteren verloren an Wert. Das galt auch für die soziale Position der Bauern insgesamt, die über die neue Welt nichts wussten (1964a: 92f). Die Stellung der Frau verbesserte sich durch die Aufweichung nicht unbedingt, weil ihre wirtschaftliche Abhängigkeit zunahm (2000c: 81f). In traditionalen Gemeinschaften mussten Frauen keinen Schleier tragen, weil die Bereiche von Mann und Frau sozial klar getrennt waren. Da die Trennung in der Welt der Lohnarbeit und der Stadt nicht mehr aufrecht zu erhalten war, mussten die Frauen nun Schleier tragen oder ganz zu Hause bleiben, um der geltenden Deutung des Islam zu entsprechen (1964a: 132ff).
Schließlich wurden die ländlichen Strukturen durch den Krieg zerstört. Bis 1960 war insgesamt etwa ein Viertel der algerischen Bevölkerung umgesiedelt worden (1964a: 13). Ferner verursachten die Kriegshandlungen auch physische Zerstörung, verwandelten Bauern in Soldaten und verlangten nach neuen Organisationsformen. Die meisten Umgesiedelten fanden sich in Städten wieder, wo sie neben Angehörigen anderer Gemeinschaften und Clans wohnten, mit denen sie kein soziales Netz verband (1963).
Bei den Menschen, die von ihrer traditionalen Gemeinschaft abgetrennt waren, ohne in neue Strukturen eingebunden zu werden, diagnostizierte Bourdieu eine objektive und subjektive Perspektivlosigkeit. Sie ist es, die er als »moralisches Elend« bezeichnete (siehe oben). Die in prekären Situationen lebenden Stadtbewohner (die Bourdieu als »Subproletariat« klassifizierte) waren am stärksten davon betroffen. Sie hatten weder objektive noch subjektive Möglichkeiten, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Traditionales Handeln war entwertet und den Bedingungen nicht angepasst, für kapitalistisches Handeln fehlten die Mittel und die Kenntnisse (1963, insbesondere 347–361).10 »Traditionalismus der Hoffnungslosigkeit und Mangel an Lebensentwürfen sind zwei Gesichter einer einzigen Wirklichkeit.« (2000c: 85) Als virtuellen Fluchtpunkt des Daseins ermittelte Bourdieu die Arbeitslosigkeit (2000c: 95). Das Subproletariat war nicht an einem Aufstieg oder an einer Arbeit orientiert, sondern an der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Die Wünsche und Hoffnungen der Menschen aber, die keine realen Möglichkeiten hatten, erwiesen sich in Befragungen als völlig irreal (2000c: 87ff). Erst bei steigendem Einkommen waren sie erfüllbar. Diese Diagnose ist leider immer noch höchst aktuell.
Die Folgen der Konfrontation von kapitalistischer und traditionaler Gesellschaft ergeben sich aus der voranstehend skizzierten Diagnose nahezu von selbst. Die Grundlage der traditionalen Wirtschaft und Gesellschaft, die Familie, wurde gelockert oder gar aufgelöst. Die Mitglieder einer Familie waren nicht mehr in ein klar strukturiertes Ganzes integriert, sondern mussten – tendenziell allein – auf dem freien Markt die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen suchen (1963: 322f). Der ökonomische Druck machte alte Verhaltensmuster sinnlos oder unmöglich, aber an ihre Stelle traten nicht unbedingt »rationale« kapitalistische Verhaltensmuster. Denn den meisten Menschen fehlten die subjektiven und objektiven Mittel, sich in der neuen Ordnung rational zu verhalten (1963: 338). Infolgedessen suchten viele Menschen in einem fruchtlosen Traditionalismus – oder eher: Konservatismus (Saalmann 2005b) – Zuflucht, während andere absurde Verhaltensweisen entwickelten (1963: 338; 1964a: 19).
Eine gewisse Veränderung des traditionalen Habitus gelang in zwei Bereichen. Den ersten bildete der Konsum. Die Algerier kannten von der europäischen Lebensweise in erster Linie den Luxus, den sie in der Folge ebenfalls begehrten. Sie waren »kapitalistische Konsumenten, bevor sie kapitalistische Unternehmer« werden konnten (1963: 372; eigene Übersetzung). Diese Veränderung konnte in allen Klassen geschehen, am ehesten aber natürlich bei Menschen, die engen Kontakt mit der europäischen Bevölkerung hatten. Den zweiten Bereich der Veränderung bildete die europäische Arbeitswelt, insbesondere das Unternehmertum. Hierbei spielten das Militär und die Emigration eine nicht zu vernachlässigende Rolle (2000c: 14).11 Allerdings gab es kaum algerische Unternehmer, da den Algeriern Kapital, Wissen und Führungsqualitäten fehlten (1963: 375). Im Handel und Handwerk hingegen blieben die traditionalen Verhaltensmuster noch weit gehend erhalten, weil der ökonomische Druck fehlte (1963: 376). Der gesellschaftliche Aufstieg gelang also in erster Linie Menschen mit engem Kontakt zu Europäern, einer gewissen Bildung und Kenntnis der französischen Sprache (2000c: 116f). Nur diesen Menschen schrieb Bourdieu ein revolutionäres Potenzial zu, weil sie mit den Europäern auf einer Ebene kommunizieren und realistische Forderungen erheben konnten.12 Das Subproletariat konnte nur mit einer Sprache reagieren, die nicht mit seiner Wirklichkeit verknüpft war und nicht von ihm selbst stammte (2000c: 97f). Ferner hatten die von ökonomischer Not geprägten Menschen keinen Blick für das Ganze, sondern nur für ihre unmittelbare Not (2000c: 101).
»Mit einer Dauerstellung, geregeltem Lohn und mit dem Auftauchen realer Aufstiegsperspektiven kann ein weltliches, offenes und rationales Bewusstsein entstehen. Dann sieht man, wie die Widersprüche zwischen den maßlosen Erwartungen und den verfügbaren Möglichkeiten schwinden, zwischen den auf imaginärer Basis geäußerten Meinungen und den wirklichen Haltungen. Die Handlungen, Wertungen und Erwartungen sind einem Lebensplan untergeordnet. Dann, und nur dann, kann die revolutionäre Haltung die Flucht in den Traum ersetzen, die fatalistische Resignation oder das wütende Ressentiment […] Beschäftigungsstabilität und sicherer Lohn sind die Voraussetzung für den Zugang zu modernen Wohnformen, für die Gewöhnung an diese und für eine Lebensweise mit elementarem Komfort. Weil sie [die dauerhaft Beschäftigten] ihr Berufsleben mit der industriellen Gesellschaft in Kontakt bringt, konnten sie ferner moderne Techniken, Verhaltensmodelle und Ideale annehmen und integrieren« (2003a: 36).
Auf dem Land waren die Folgen ähnlich vielfältig wie in der Stadt. In den Tälern, wo sich der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft unmittelbar vollzog, wurden die traditionalen Strukturen zerstört. Teilweise aber blieben sie erhalten, und zwar genau dort, wo die Menschen weiterhin als Bauern ihren eigenen Boden bestellten (1964a: 30, 76). Je mehr Familienmitglieder eine Lohnarbeit hatten oder suchten, desto mehr erodierten die alten Strukturen. Im Bergland war der Kontakt mit der kapitalistischen Gesellschaft weniger unmittelbar, so dass die alten Strukturen hier eher fortbestanden. Der traditionelle Gegensatz zwischen Berg- und Talbewohnern wurde dadurch noch verstärkt (1964a: 30).13 Eine weitere Folge war die Entstehung des kapitalistischen Denkens, das Max Weber auch als »Geist des Kapitalismus« bezeichnet hat. Bourdieus Untersuchungen dazu ist der folgende Abschnitt gewidmet.