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1.3 Der Geist des Kapitalismus

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Bourdieu hat schnell erkannt, dass sich der »Geist des Kapitalismus« kulturell und sozial nicht einheitlich verbreitete. Wie aber der vorkapitalistische Geist aussah, war weit schwieriger zu ermitteln. Er brauchte viele Jahre, um zu erkennen, dass seine – auch für uns heute selbstverständlichen – Vorstellungen von Wirtschaft bei den Kabylen und zahlreichen anderen Algeriern völlig unbekannt waren. Ökonomische Verhaltensweisen, Denkmuster und Akteure sind historisch erst im Laufe einer komplexen Entwicklung entstanden und nicht in der »menschlichen Natur« angelegt (2000c: 7f). Im Frühstadium der kapitalistischen Entwicklung waren Verhaltensmuster erforderlich, die Max Weber als »asketisch« und »protestantisch« bezeichnete, also Vorsorge, Abstinenz und Sparsamkeit, während im entfalteten Kapitalismus Kredit, Konsum und Genuss an ihre Stelle getreten sind (2003c: 22). Die Wirtschaftswissenschaft setzt einen bestimmten Typ des homo oeconomicus stets voraus, ohne seine historische, soziale und kulturelle Bedingtheit zu untersuchen. Daher bezeichnet Bourdieu sie als »die moralischste der Moralwissenschaften« (ebd.).14 Ein rationales, kalkulierendes Denken und Verhalten wird von ihr eher gefordert als empirisch aufgewiesen.

Wie passte sich nun das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Algerier an die kapitalistische Wirtschaft an? Bourdieu wollte diese Frage nicht im Anschluss an Max Weber »subjektivistisch« untersuchen, für den das Verstehen von Motiven und Zielen ein wichtiger Bestandteil der Methode war (1963: 315). Für Bourdieu reichte es, die Entstehung eines rationalen Kalküls als bloße Reaktion auf einen Zwang zu untersuchen. Der Kapitalismus wurde den Algeriern von den Kolonialherren aufgezwungen. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als auf ihn zu reagieren. Das schien Bourdieu eine gute methodische Voraussetzung zu sein, um den »Geist des Kapitalismus« zu untersuchen.

»Da sich in unseren Gesellschaften das ökonomische System und die Einstellungen in relativer Harmonie befinden, übersieht man leicht, dass das ökonomische System sich als Feld objektiver Erwartungen darstellt, die von Subjekten nur erfüllt werden können, wenn sie über einen bestimmten Typ ökonomischen, allgemeiner: zeitlichen, Bewusstseins verfügen.« (1963: 316; eigene Übersetzung)

Hinter diesem Satz lässt sich erneut Bourdieus Einsicht erahnen. Das Individuum wird in eine soziale Welt eingeübt. Aus diesem Grund ist es an deren Strukturen und Erfordernisse (»objektive Erwartungen«) angepasst. In Algerien war das nicht mehr der Fall. Daher konnte man sowohl die Anpassungsprozesse als auch die Strukturen (die Erwartungen) besonders klar erkennen. Dass auch hierbei eine Form des Verstehens zum Tragen kam, gestand Bourdieu erst in seinem Spätwerk zu (vgl. 1997b). In Algerien meinte er noch, den Gegenstand durch den Einsatz objektivistischer Instrumente erschöpfend bearbeiten zu können.15

Den Kern von Bourdieus Forschung in Algerien bildete die Einsicht in die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Strukturen. In diesem Zusammenhang erlangt der Begriff der Zeit in zweierlei Hinsicht eine zentrale Bedeutung. Erstens enthält die Beobachtung der Ungleichzeitigkeit zwischen kapitalistischen und traditionalen Strukturen den Keim von Bourdieus Einsicht. Zweitens unterscheiden sich kapitalistischer und traditionaler Habitus in erster Linie durch ihre Verfügung über die Zukunft. Der ökonomische Habitus hängt von der objektiven Zukunft seiner Gruppe und der Einschätzung von dieser Zukunft ab (1963: 346, 382). Das Verhältnis zur Zeit untersuchte Bourdieu noch genauer. Er ermittelte eine unterschiedliche Einstellung bei Bauern, Subproletariern, Arbeitern und Kapitalisten. Die Vorstellung eines ökonomischen Werts der Zeit war der algerischen Tradition völlig fremd (1962b: 1031). Alles hatte seine Zeit (2000c: 56ff). Man war immer beschäftigt, aber man arbeitete nicht: Was getan werden musste, wurde getan, gemäß dem Lauf der Zeit (1964a: 78, 157). Im Frühjahr sät man, im Herbst erntet man, bei Regen hängt man die Wäsche ab usw. »Tatsächlich ist der vorkapitalistischen Wirtschaft nichts fremder als die Vorstellung von einer Zukunft als einem Feld des Möglichen, dessen Erforschung und Beherrschung dem Kalkül anheim gestellt wäre.« (2000c: 32) Genau diese Vorstellung aber ist für kapitalistisches Handeln unerlässlich. Wie verhielten sich nun die verschiedenen Gruppen der algerischen Gesellschaft zu ihr?

Die Bauern behielten weit gehend ihre traditionelle Einstellung zur Zeit bei. Die Zeit hatte kein rationales Maß und keinen ökonomischen Wert. Umgekehrt wurde die Arbeit nicht in Zeit und Produktivität gemessen (1964a: 78). Die Bauern folgten dem Rhythmus der Natur und der Tradition (1964a: 157). Ihre Ehre gebot es ihnen zu arbeiten, nicht aber die ökonomische Notwendigkeit (1964a: 163). Der Ertrag der Arbeit hing nicht von der Produktivität der Arbeit ab, sondern von nicht zu beeinflussenden Mächten (2000c: 55). Max Weber hatte Bourdieu zufolge den Unterschied zwischen Tätigkeit und Müßiggang in der traditionalen Gesellschaft durch seine Unterscheidung von rationalem und traditionalem Handeln verwischt (2000c: 54). Diese Unterscheidung ist eine moderne, die den Kapitalismus voraussetzt. Sie wurde auch von der modernisierten Stadtbevölkerung Algeriens vorausgesetzt, die die Bauernschaft als unterbeschäftigt, nicht wertvoll und zurückgeblieben betrachtete (1964a: 81, 157). In der Bauernökonomie waren handwerkliche und kaufmännische Tätigkeiten den landwirtschaftlichen, die den Lebensunterhalt sicherten, untergeordnet. Im Kapitalismus war das umgekehrt (2000c: 12f).

Unterbeschäftigt waren auch die Subproletarier. Sie hatten sich die Definition von Arbeit als produktive und bewertete Arbeitszeit jedoch schon teilweise zu eigen gemacht. Wenn sie nicht oder zu wenig arbeiteten, vergeudeten sie ihre Zeit (1962b: 1032f). Gleichzeitig aber konnten sie ihre Zeit nicht rational planen und ein kalkulierendes Denken entwickeln, weil sie keine Verfügung über ihre eigene Zukunft hatten (1962b: 1040). Sie konnten nicht einfach arbeiten oder mehr arbeiten, sondern waren von Gelegenheiten abhängig. Unterhalb einer gewissen Einkommensschwelle und Beschäftigungsstabilität war keine Rationalität möglich (2000c: 20). Und erst wer seine Arbeit frei wählen konnte, war in der Lage, eine berufliche Moral (also nach Weber: einer kapitalistischen Wirtschaftsethik) zu entwickeln (1963: 298). Proletariat und Kleinbürgertum vermochten, ihr Leben zu planen, ihre Ziele in eine hierarchische Ordnung zu bringen und utilitaristisch zu handeln (1962b: 1040). Diese beiden Klassen waren in Algerien zahlenmäßig jedoch sehr klein. Noch kleiner war die algerische Bourgeoisie, die allein im engeren Sinne kapitalistisch handeln konnte, indem sie Kapital einsetzte und Mehrwert akkumulierte. Die Mehrheit der algerischen Kapitalbesitzer operierte im Handel, weil hier das eingesetzte Kapital sehr schnell verwertet wurde, während der Zyklus in der Industrie sehr viel länger und unübersichtlicher war (1963: 376f). Mit dem algerischen Unternehmertum hat sich Bourdieu allerdings nicht eingehender beschäftigt.

Zusammenfassend charakterisierte Bourdieu die Entstehung eines Geistes des Kapitalismus nicht mehr als Anpassung, sondern als »Konversion« (2000c: 14). Das Weltbild »verkehrte« sich vollständig, wurde nicht nur modifiziert (2000c: 17). Die Menschen mussten ihr Weltbild geradezu neu konstruieren. Darin waren sie den europäischen Frühkapitalisten ähnlicher als den gegenwärtigen Wirtschaftssubjekten (2000c: 26f). Die Konversion gelang, weil die Menschen den kapitalistischen Geist durch den Kontakt mit der europäischen Wirtschaft »atmeten« (1963: 314). Ähnlich wie Karl Polanyi formulierte Bourdieu:

»Alle zentralen Charakteristika vorkapitalistischer ökonomischer Praktiken finden ihren gemeinsamen Nenner darin, dass die von uns als ökonomisch angesehenen Verhaltensweisen noch nicht als solche konstituiert und verselbstständigt sind, d. h. noch nicht als aus einer besonderen Ordnung stammend betrachtet werden, eine Ordnung, welche von Gesetzen anderer Art beherrscht wird als jene, welche gewöhnliche gesellschaftliche Beziehungen, insbesondere zwischen Verwandten, bestimmen.« (2000c: 8)

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