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FÜNF TAGE SPÄTER

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Alle waren sie gekommen! Aus den entlegensten Winkeln waren sie angereist. Selbst diejenigen Meeresbewohner hatten sich auf den Weg gemacht, die unter dem Einfluss der Meeresverschmutzung und Verseuchung monströs verändert und schuldlos zu wahren Horrorgeschöpfen mutiert waren.

Nach jahrelanger Abgeschiedenheit in ihren Verstecken lebend, hatten sie diese verlassen, um sich zur größten und wichtigsten Versammlung aller Zeiten aufzumachen, in der es um Untergang oder Fortbestand aller Meeresbewohner ging.

Gewaltige Monsterkrabben, deren Vorfahren einstmals ganz gewöhnliche Krabben waren; Riesenfische mit rasiermesserscharfen, weit aus den Mäulern herausragenden Zähnen; zweiköpfige Fische mit skalpellscharfer, schwertförmiger Rückenflosse; Kraken, groß wie ein Fußballstadion, deren zig meterlange, mit unzähligen kürbisgroßen Saugnäpfen besetzte Tentakel Schiffe zum Kentern bringen konnten; und ellenlange, dreiäugige Wesen mit rasiermesserscharfen Dornen auf borkigen Rücken. Sie alle strebten einträchtig Seite an Seite dem gewaltigen Unterwasserkomplex König Oysters zu.

Doch was mussten sie sehen? Was war mit ihrer einstmals so schönen Heimat geschehen? Was, um des Meeresgottes Willen, war während der Zeit ihrer Zurückgezogenheit mit ihrer Welt passiert? fragten sie sich entsetzt. Und viele wären am liebsten wieder in ihre Abgeschiedenheit zurückgekehrt, hätte sie ihr Verantwortungs-bewusstsein und ihr Gemeinschaftssinn nicht davon abgehalten.

Als Müllhalde bot sich ihnen der einstmals so saubere Meeresgrund dar. Zwar waren ihnen Schiffswracks und vermodernde Anker nicht fremd. Aber wieso entsorgten die Menschen ihren Wohlstandmüll im Meer? Was hatten Getränkedosen und Flaschen, Autowracks und Kühlschränke, Möbelstücke und verrostete Fahrräder, Fässer mit gefährlichen Chemikalien und was nicht noch alles mehr auf dem Meeresboden zu suchen?

Geschah es aus Gedankenlosigkeit? Oder Dummheit? Vielleicht aus Gewinnsucht? Wahrscheinlich traf alles zu, jedoch am meisten wohl Letzteres. Denn wann ging es bei den Menschen einmal nicht ums Geld?

Die armen verunstalteten Geschöpfe seufzten bitter und sehnten sich zurück zu ihren Verstecken. Aber dorthin konnten sie vorläufig nicht, denn ihr König brauchte sie. Er benötigte ihre Hilfe, um sein Volk zu retten und nur das alleine zählte. Also hatten sie ihren Weg fortgesetzt, waren Tag und Nacht geschwommen, um den Palast ihres Königs rechtzeitig zu erreichen.

Oh ja, dachte König Oyster. Adamos hat ganze Arbeit geleistet, hat wieder einmal eindrucksvoll seine Vertrauenswürdigkeit und Loyalität bewiesen.

Zufrieden schaute er von seinem Thronsessel auf sein Volk herab. Er hatte um ihr Erscheinen gebeten und kaum einer seiner Untertanen hatte sich dieser Aufforderung entzogen.

Wale aller Größen; Wasserschlangen; vergnügt plappernde Delphine; quicklebendige Robben; Kleinstmeereslebewesen; Fische verschiedenster Art; Haie sowie die armen mutierten Wassergeschöpfe dümpelten friedlich inmitten der übrigen Meeresbewohner.

Der Artenreichtum; die Vielfalt der Formen, teils harmonisch, teils regelrecht bizarr; die unterschiedlichen Größen; dazu die kaum vorstellbare Farbpalette der Anwesenden könnten einen Maler schier um den Verstand bringen, dachte der König beeindruckt.

Die Menge war unüberschaubar, schien den riesigen Kuppelsaal fast zu sprengen, obwohl die zur Seite geschobenen Wände ihn um mindestens das Dreifache vergrößerten.

Dicht an dicht drängten sich Leiber in den mannigfaltigsten Formen geduldig neben- und aneinander; lauschten seine Untertanen atemlos und voller Hoffnung den Worten ihres Herrschers, mit denen er ihnen seinen Plan erläuterte. Seinen klugen, seinen listigen Plan!

Ja, dachten die Lauschenden. So könnte es, nein! So wird es gelingen!

„Es ist sehr schade, dass ausgerechnet Xzostra und Krokan, die für das Gelingen meines Planes unverzichtbar sind, heute nicht bei uns sein können“, sagte der König bedauernd. „Aber unser lieber Barnibu wird die beiden finden und schleunigst zu mir bringen. Habe ich recht, mein Freund?“, fragte König Oyster den blauen Delphin.

„Selbstverständlich, Majestät“, versicherte dieser.

„Sehr schön, mein Guter. Dann fasse ich jetzt noch einmal zusammen. Also, nochmals zu Punkt eins:

Unsere Freundin Xzostra, die Königsschlange, wird gemeinsam mit Krokan, dem Krokodil, Kontakt zu den Menschen aufnehmen. Und um das Übel direkt bei der Wurzel zu packen, werden sie direkt mit dem schlimmsten Verursacher unserer Probleme sprechen.“

„Wenn er sich da man bloß nicht irrt“, flüsterte Portza, eine Artgenossin Xzostras. „So wie ich die liebe Xzostra kenne, wird sie stinksauer sein, dass der König über ihren Kopf hinweg so einfach über sie bestimmt. Sie wird ihm fix was husten und ganz sicher keine Aufträge für ihn übernehmen“, meinte die Königsschlange ironisch. „Und schon gar nicht zusammen mit Krokan, denn den kann Xzostra ja nun überhaupt nicht leiden“, fügte Portza grinsend hinzu.

Pssssss“, zischte ein Schwertfisch ärgerlich.

„Du kannst mich mal, du Blödmann“, zischte Portza unfein zurück. Schwieg jedoch von jetzt an.

„Xzostra und Krokan werden es zunächst im Guten versuchen“, sprach König Oyster weiter. „Sollte dieser Mensch jedoch ... Wie heißt er doch noch gleich, Weytolus?“

„Hasso Knudsen, Hoheit.“

„Danke, mein Bester. Also, sollte dieser Mensch namens Hasso Knudsen Vernunftgründen gegenüber jedoch nicht zugänglich sein“, fuhr der König fort, „werden wir die Geschütze der Einschüchterung und Furcht auffahren müssen, obwohl ich eine friedliche Lösung bevorzugen würde. Aber wenn es denn sein muss.“ Er seufzte und sprach weiter: „Hand in Hand mit der Einschüchterungsmethode werden wir diesen Menschen bei seiner Habgier packen.“

„Und was machen wir, wenn das auch nichts nützt?“, rief vorlaut ein dicker Butt aus den hinteren Reihen.

„Tja, dann werde ich wohl noch schwerere Geschütze auffahren müssen“, erwiderte der König unbehaglich bei dieser Vorstellung von Gewalt und Gnadenlosigkeit.

„Schwerere Geschütze?! Welche denn?“, kreischte eine immer etwas hysterische Makrelenfrau.

Des Königs Gesicht verdüsterte sich. Schatten verdunkelten seine sonst so leuchtenden Farben. Erneut aufflackernde Sorgen wischten die gerade eben noch zur Schau gestellte Zuversicht aus seinem gutmütigen Gesicht. Blicklos starrte er über die Menge hinweg in ... Ja, in was? Sah er in die Zukunft? Oder schaute er zurück in die Vergangenheit? Was sah König Oyster in diesem Moment?

Er sah Bilder aus der Vergangenheit vor sich. Schreckliche Bilder. Grausame Bilder. Bilder, die erneut wahr werden konnten. Bilder, die eine traurige Zukunft in sich bargen. Denn König Oyster sah OLMOKAN!

„Majestät, die Menge wird unruhig“, flüsterte Weytolus.

Des Königs Hand strich so fest über seine Stirn, als wolle er die trüben Gedanken hinwegfegen, und in seine Augen kehrte das Leben zurück. Ein neuerlicher tiefer Seufzer vertrieb seine deprimierenden Visionen fürs erste. Doch sie würden zurückkommen, und das war so gewiss wie Ebbe und Flut Tag für Tag kommen und gehen.

Flossenschlagen. Kratzen. Scharren. Das Malen horniger Kiefer aufeinander. Seine Untertanen wurden nervös, erwarteten eine Antwort auf des Butts Frage. Hier ist meine Antwort, dachte König Oyster, und sie besteht nur aus einem einzigen Wort:

„OLMOKAN!“, stieß er hervor.

Die Menge zuckte in einer synchronen Wellenbewegung zusammen. Was sagte ihr König da?

OLMOKAN?!

Der Meeresgott sei uns gnädig!

Stille, dunkel und schwer wie zu alt gewordener, verdickter Sirup kroch aus Ecken und Winkeln, Spalten und Löchern, legte sich auf Atemwege, kroch in Kiemen und Lungen.

OLMOKAN!

Oh Gott der Meere, was kommt da auf uns zu!

„Aber, Majestät, Olmokan darf doch niemals wieder gestört werden“, brach Adamos´ tiefe Stimme das drückende Schweigen.

Nicht zu fassen, dachte Hannibah bewundernd. Er hat es tatsächlich gewagt seinen Namen auszusprechen. Wie verdammt heldenhaft dieser Wal doch ist!

Schschschttt! Nicht den Namen nennen“, kreischte Trukku entsetzt. „Er könnte uns hören!“

Alle hielten vor Schreck den Atem an.

„Und wenn schon, Trukku“, sagte König Oyster gelassen.

„Na, Ihr habt vielleicht Nerven, Majestät“, stieß Maradon, die einzige noch lebende Schildkopfamphibie, zum ersten Mal in ihrem langen Leben den gebührlichen Respekt ihrem König gegenüber vergessend, entsetzt hervor. „Was ist, wenn ER erwacht?“

„Was soll schon sein, Maradon“, sagte der König ruhig. „Eines steht doch fest. Sollte unsere Welt dem Untergang geweiht sein, würde auch Olmokan darunter zu leiden haben.

Denn ganz allein in einer verseuchten Unterwasserwelt würden ihm weder seine besonderen Fähigkeiten noch seine gewaltigen Kräfte etwas nützen. So unüberwindbar Olmokan auch sein mag“, fuhr er fort, „ohne sauberes Wasser und ohne sein Volk wäre er das unglücklichste und einsamste Lebewesen der Welt.“

„Aber er schläft tief verborgen in seiner Höhle und will nicht gestört werden“, wandte Barnibu, der blaue Delphin, ein. „Ihr selbst, Majestät, habt ihm ewige Ruhe zugesichert. Wollt Ihr Euer Versprechen etwa brechen?“

„Wie euch bekannt sein dürfte, halte ich grundsätzlich einmal gegebene Versprechen“, erwiderte der König gelassen. „Aber in diesem Ausnahmefall, wo das Leben meines gesamten Volkes auf dem Spiel steht, würde ich mich, falls erforderlich, dieses eine Mal darüber hinwegsetzen.

Ich bin sicher, Olmokan würde es verstehen, denn letztendlich geht es ja auch um seine Zukunft. Außerdem wissen wir ja noch nicht einmal, ob er überhaupt noch schläft. Vielleicht ist er schon lange wach und wartet auf ein Zeichen von uns.“

„Aber Ihr habt versprochen, ihn nicht zu stören“, kreischte Wada, die weiße Rundkopfschlange.

„Kein aber“, donnerte König Oyster. „Ich sage es hier und jetzt, und ich sage es nur dieses eine Mal: Sollten Xzostra und Krokan keinen Erfolg haben, werde ich Olmokan um Hilfe bitten. Das ist mein letztes Wort. So, und nun werde ich dort fortfahren, wo ich vorhin unterbrochen wurde.“

„Alles nur großspuriges Gerede“, zischte Portza verächtlich. „Der König wird es niemals wagen IHN aufzuwecken.“

„Ich komme nun zu Punkt zwei meines Planes, den Giftfässern“, fuhr König Oyster fort. „Hierzu gibt es nicht mehr viel zu sagen. Wir machen es wie bereits ausgiebig besprochen: Die Wale bringen die Fässer dorthin zurück, woher sie gekommen sind, nämlich zu Hasso Knudsen, der von der Hallig Okkerland aus seine schmutzigen Geschäfte betreibt.“

„Ha, dieser Mensch wird Augen machen“, kicherte Loba.

„Das hoffe ich sehr“, erwiderte König Oyster und fuhr fort:

„In Punkt drei behandelten wir das Thema der Überwachung und erzielten auch hier Einigkeit. Die Delphine werden mit ihrem fantastischen Radarsinn die an unserem Gebiet vorbeifahrenden Schiffe überwachen, um das Ablassen von Öl oder anderen Stoffen sofort zu verhindern.“

„Und wenn man sie jagt?“, rief Hannibah.

„Ja, was ist, wenn sie getötet werden?“, kreischte eine bunt gescheckte Muräne.

„Das wird nicht geschehen, meine Liebe“, beruhigte sie der König. „Bei Anzeichen von Gefahr wird ihnen Zebolon mit seinem Clan zu Hilfe eilen.“

Zebolon, der Riesenkrake, nickte würdevoll und fletschte die Zähne.

„Punkt vier beinhaltet ...“

„So ein Quatsch“, zischte Wada gelangweilt. „Das hatten wir doch schon alles. Jetzt kaut er den ganzen Plan nochmal durch, aber ohne mich.“ Sie drehte sich um, schlängelte geschickt zum Ausgang und verschwand.

Ganz anders Robby. Das schneeweiße, seidenweiche Fellgesicht ihrem Großvater zugewandt, verschlang sie geradezu jedes seiner Worte. Ja, dachte sie, so klug und so listig und dabei doch so gütig, möchte ich auch regieren, wenn ich einmal Königin sein werde. Ich werde meinem geliebten Großvater nacheifern, und ich werde nicht mehr so gedankenlos mit meinen Brüdern, Andros, Remolos und Taros, herumtollen, nahm sich Robby in diesem denkwürdigen Augenblick vor.

Großvater soll stolz auf mich sein. Ich beweise ihm, dass ich eine würdige Nachfolgerin sein werde. Und so kann ich ihm auch am besten seine Liebe und Güte vergelten, die er mir und meinen Brüdern nach dem frühen Tod unserer Eltern schenkte, dachte das kleine Robbenmädchen zärtlich.

Ach ja, unsere armen Eltern, erinnerte sich Robby und Schatten der Trauer verdunkelten ihr eben noch so strahlendes Gesicht. Die schwere Hand des unwiederbringlichen Verlustes umkrampfte ihr Herz und Schmerz durchströmte ihre Glieder. Wie gerne hätten wir unsere zärtliche Mama und unseren lieben Papa behalten, dachte sie verzagt. Und wer ist immer wieder Schuld an all unserem Schmerz?

Natürlich die Menschen!

Immer und immer wieder die Menschen, die von allem nie genug bekommen und alles gebrauchen können. Wie das Fell unserer armen Eltern, die sie erschlugen. Was taten sie mit ihren Körpern? Was haben die Mörder mit ihrem Fell gemacht? Schuhe?! Andenken für Touristen?

Ach, lieber Gott, weshalb hast du es zugelassen und lässt es immer wieder aufs Neue zu? Es ist so furchtbar! So sinnlos. So viel vergeudetes Leben, dachte das kleine Robbenmädchen, und dicke Tränen rollten aus ihren großen, schwarzen Augen über ihr Gesicht. Ein Orkan der Begeisterung riss Robby aus ihren trüben Gedanken. König Oysters Rede war beendet, und jetzt sonnte er sich in der Zustimmung und dem Applaus seines Volkes.

„Robby?“ Des Königs Hand streichelte sanft den runden Kopf seiner Enkelin. „Ist alles in Ordnung?“

„Hmmm“, murmelte diese und kuschelte sich an ihn.

„Nicht traurig sein, Kleines“, sagte König Oyster, der den Grund für die Traurigkeit seiner Enkelin kannte. „Wir werden die Menschen lehren, uns zu achten und zu respektieren“, fügte er voller Hoffnung hinzu.

Robby nickte stumm. Wird sich seine Hoffnung wirklich erfüllen? dachte sie. Schön wäre es ja. Doch ein Rest von Skepsis blieb.

König Oyster und sein Reich

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