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DER PLAN

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König Oyster saß grübelnd in seinem Arbeitszimmer und beobachtete die zahlreichen Leuchtfische, die ihm Licht spendeten. Er hatte Kopfschmerzen, und seine Augen brannten wie Feuer.

„Schwarm zwei, drei, vier und fünf kann sich für heute frei nehmen“, befahl er.

„Schwarm eins und sechs hält sich in der Vorhalle zur Verfügung. Für den Rest des Abends genügt mir die Leuchtmuschel als Lichtquelle“, fuhr er fort. „Also, meine lieben Freunde, worauf wartet ihr noch?“, fragte der König ungeduldig, als er das Zögern seiner Lichtdiener bemerkte.

„Wirklich nur die Leuchtmuschel, Hoheit? Wird das nicht zu dunkel sein?“, wagte der Leuchtfisch-Geschwaderkommandant einzuwenden.

„Unsinn“, brummte der König. „Tut, was ich euch befohlen habe. Und jetzt ab durch die Mitte.“

Die Leuchtfischgarde formierte sich, salutierte mit einem synchronen, zackigen Flossenschlag und verließ schnurstracks den Raum. König Oyster sah ihnen schmunzelnd hinterher. „Sie sind wirklich rührend um mich besorgt“, murmelte er und wandte sich wieder seinen Sorgen zu.

Zwei Fragen stellen sich vorrangig, überlegte er. Und zwar: Wie werde ich die im Planktongrund lagernden Giftfässer wieder los? Und wie schütze ich mein Reich und mein Volk vor der Willkür und Gewissenlosigkeit der Menschen? „Gehe ich gewaltsam vor?“, dachte er laut weiter. „Oder verlasse ich mich lieber auf meine Klugheit und auf meine List?“

„Gewalt bringt nie etwas Gutes, Majestät. Das hat uns doch die Vergangenheit zur Genüge gelehrt“, sagte Weytolus, der Großwesir, und außerdem des Königs Freund und engster Berater.

König Oyster zuckte bei dessen unverhofftem Auftauchen erschrocken zusammen. Natürlich hatte er wie immer Weytolus nicht kommen hören, und obwohl er seinem Großwesir das Privileg eingeräumt hatte, zu kommen und zu gehen wann immer es diesem beliebte, ging ihm dessen unverhofftes Auftauchen manchmal doch ganz schön auf die Nerven. Vielleicht sollte ich ihn der normalen Hofordnung unterstellen, überlegte der König. Aber dann ist Weytolus gekränkt, und das möchte ich auf keinen Fall.

„Wenn du dich doch bloß nicht immer so heimlich still und leise anschleichen würdest, Weytolus“, beschwerte er sich. „Irgendwann bekomme ich bei deinem plötzlichen Auftauchen einen Herzschlag und falle tot um.“

„Ich habe mein Erscheinen durch hörbares Räuspern rechtzeitig angekündigt, Majestät“, sagte der Großwesir pikiert.

„Das muss ich wohl überhört haben.“

„Jawohl, Hoheit. Das habt Ihr ganz offensichtlich. Ihr wart so in Gedanken versunken, dass Euch höchstens ein Meeresbeben in die Gegenwart zurückgebracht hätte“, erwiderte Weytolus sichtlich gekränkt.

„Hmm. Soso. Ein Meeresbeben, meinst du. Das hätte uns gerade noch gefehlt“, brummte der König. „Male bloß nicht den Teufel an die Wand, mein Freund.“

„Das war doch nur so eine Redensart von mir, Hoheit“, beschwichtigte ihn Weytolus. „Schaut, ich habe Euch frische Blumen mitgebracht.“ Und noch während er sprach, schüttelte er das Füllhorn, welches er stets mit sich führte, und Hunderte pastellfarbener Blütenköpfe lösten sich aus dem Behältnis und schwebten vor des Königs Augen als zartfarbig schimmernder Teppich lautlos zu der bogenförmig gewölbten Decke empor.

„Zauberhaft. Ganz zauberhaft“, murmelte König Oyster, der Blumen über alles liebte.

„Ich bin glücklich, Majestät, Euch bei all Euren Sorgen eine kleine Freude bereitet zu haben“, sagte Weytolus bescheiden.

„Sorgen. Ja, mein Lieber. Sorgen habe ich weiß Gott“, seufzte der König.

„Eure Klugheit wird uns eine Lösung für unsere Sorgen finden lassen“, erwiderte sein Großwesir.

Unsere Sorgen?“

„Ja, Hoheit. Eure Sorgen sind auch die meinen, und ich werde Euch bei deren Lösung mit Rat und Tat zur Seite stehen“, versprach Weytolus selbstbewusst.

„Mit Klugheit werden wir es schaffen, meinst du?“

„Ja, Majestät. Nur mit Klugheit und mit List.“

„So, meinst du. Schön wäre es ja, denn ich hasse Gewalt. Doch was nützt die eigene Friedfertigkeit, wenn der Gegner nicht darauf eingeht, sondern die Gewalttätigkeit auf seine Fahne geschrieben hat“, seufzte er deprimiert.

Die unter der Kuppeldecke schwebenden Blüten verhielten sich, als hätten sie des Königs sorgenvolle Worte verstanden; jedenfalls reagierten sie so.

Der Blütenteppich senkte sich plötzlich, schwebte auf den König zu und verharrte etwa einen Meter über dessen Kopf. Ein besonders schönes, in zarten Pastellfarben schimmerndes Exemplar löste sich aus der Masse und ließ sich auf des Königs rechter Hand nieder.

„Wunderschön“, murmelte König Oyster, und ein weiches Lächeln verklärte sein Gesicht. Die Blüte zwischen Zeige- und Mittelfinger balancierend spürte er, wie seine Depression so schwerelos wie ein Schmetterling davon flog. Vorsichtig legte er die Blüte in eine Alabasterschale und stellte diese auf seinen rosafarbenen, aus einer Riesenmuschel geformten Schreibtisch. „Du bist wahrlich ein Zauberer, Weytolus“, sagte er lächelnd.

„Ach nein, Majestät, das ist des Lobes zu viel. Ich wollte doch nur ...“

„Doch, doch, mein Lieber“, unterbrach ihn sein König. „Du bist mir in all den Jahren ein treuer Freund gewesen. Glaube mir, mein Bester, ich weiß sehr wohl, was ich an dir habe.

Ich bin sehr froh, dich als Freund und Berater an meiner Seite zu wissen“, sagte er mit seltener Offenheit. „Besonders jetzt, bei all den Schwierigkeiten, die ich auf uns zukommen sehe“, fügte er bedrückt hinzu.

Weytolus errötete vor Freude und Stolz über des Königs Lob.

„Du meinst also, wir sollten gewaltlos gegen die rücksichtslosen Umtriebe der Menschen vorgehen?“, fragte der König und kam mit dieser Frage zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück, bevor sein Großwesir so unvermutet aufgetaucht war.

Dieser kannte die Sprunghaftigkeit seines Herrschers und ließ sich keine Sekunde lang verblüffen. „Ja, Hoheit. Mit Klugheit und List werden wir am Ende die Sieger sein“, erwiderte Weytolus überzeugt. „Wir müssen die Menschen mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten schlagen.“

„Und wie stellst du dir das vor?“

„Ganz einfach, Majestät. Wir müssen sie bei ihrer Habgier und bei ihren Ängsten packen“, erwiderte sein Großwesir.

„Aber wir können doch nicht die ganze Welt verändern!“, rief der König.

„Nein, Hoheit, das steht leider nicht in unserer Macht“, bedauerte Weytolus. „Aber wir können den Lebensraum unseres Volkes schützen.“

„So? Und wie soll das vor sich gehen? Bildest du dir etwa ein, die Menschen ließen sich vertreiben?“, fragte König Oyster ironisch.

„Vertreiben? Nein, Majestät, so etwas zu denken wäre mehr als unrealistisch“, erwiderte der Großwesir gelassen. „Doch kennt Ihr zufällig das unter den Menschen geläufige Sprichwort, welches in etwa besagt: Willst du bei deinem Gegner etwas erreichen, dann versuche es mit Zuckerbrot und Peitsche?“

König Oyster schüttelte den Kopf. „Nein, kenne ich nicht. Aber kennst du, mein friedliebender Freund, den Menschenspruch: Auge um Auge, Zahn um Zahn?“

„Oh ja, Majestät. Dieser Ausspruch ist mir wohl bekannt“, nickte Weytolus. „Doch glaubt mir, eine derartige Vorgehensweise hat noch niemals etwas Gutes bewirkt. Hass zieht Hass nach sich, und der Gewalt folgt noch mehr Gewalt, immer und immer mehr, bis alles im Chaos versinkt.“

Der König hatte seinem Großwesir aufmerksam zugehört. Als dieser schwieg, lehnte er sich in seinem blattförmigen, in den schönsten Grüntönen des Universums schimmernden Sessel zurück, schloss die Augen und lauschte still in sich hinein.

Schweigen senkte sich wie eine schalldichte Decke über den Raum. Alles und jedes schien den Atem anzuhalten; kein noch so leises Geräusch war zu vernehmen.

Der Herrscher der Unterwasserwelt überlegte, suchte nach einer Lösung für den Fortbestand seines Volkes und seines Reiches. Und für diesen Augenblick des Insichversinkens, des Suchens, schien die Welt stillzustehen, schien dem König eine Atempause gönnen zu wollen.

Zehn Minuten vergingen. Dreißig Minuten. Fünfundvierzig Minuten. Eine Stunde. Des Königs schwere, violettfarbene Augenlider hoben sich nur wenige Millimeter, um Sekunden später plötzlich wie eine Jalousie hochzuschnellen. Ein gewaltiger Atemzug dehnte seinen imposanten Brustkorb, und ein zufriedener Seufzer brachte den vorm Eingang hängenden Muschelvorhang zum Klingen.

„Ich habe eine Idee“, durchdrang König Oysters sonore Stimme die bleischwere Stille des Raumes, vertrieb diese, und schaffte Platz für den normalen Fortgang des täglichen Lebens.

„Ich werde mir die Gier und die Angst der Menschen zu Nutze machen und dafür sorgen, dass die Umwelt für uns und auch für künftige Generationen lebensfähig bleibt. Und ich werde erreichen, dass die Zuflüsse zu meinem Reich endlich sauberer werden und es auch bleiben.“

„Und der Planktongrund? Was soll mit den dort lagernden Giftfässern geschehen, Majestät?“

„Ganz einfach: Wir bringen sie den Menschen zurück. Die Wale werden dafür sorgen.“

„Zurückbringen?! Und wenn sie die Fässer erneut im Planktongrund oder an anderer Stelle versenken?“, fragte Weytolus skeptisch.

„Das werden sie nicht, Weytolus.“

„So, meint Ihr, Hoheit? Und was sollte sie davon abhalten, wenn ich fragen darf?“

„Ihre Furcht und ihre Geldgier“, lächelte der König.

„Furcht, Hoheit?“

„Ja, Weytolus, Furcht! Denn sollten die Menschen meinem Vorschlag nicht zustimmen, werde ich Olmokan, den Hüter der Meere, um Hilfe bitten.“

„OLMOKAN?!

Oh Gott der Meere, sei uns gnädig“, flüsterte der Großwesir entsetzt.

„Keine Sorge. Vertrau mir. Ich habe einen Plan. Komm her zu mir, mein treuer Weytolus. Nein, noch näher. Ich werde ihn dir erklären. Und wenn wir Erfolg haben, wird unser Überleben gewährleistet sein.“

König Oyster und sein Reich

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