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1.2 Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft

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»Alzheimer lässt grüßen!« Dieser Ausspruch wird oft leichtfertig eingesetzt. Wird etwas vergessen, ist ein Gegenstand nicht auffindbar oder wird ein Wort nicht umgehend gefunden, kommt es schnell zu dieser Äußerung. Alzheimer ist eine Form von Demenz.

Demenz, lat.: dementia, »ohne Geist« bzw. mens = Verstand, de = abnehmend, wird übersetzt mit »ent-geistigt«. Vom Geist verlassen, ohne Geist, ist eine harte, einseitige, kurzsichtige Umschreibung und schreit nach Veränderung. Redewendungen, die darauf hinweisen, dass diese Lebensform menschenunwürdig oder ein »Lebendig-tot-Sein« ist, können nicht akzeptiert werden. Diese Erkrankung erzeugt Verluste, dennoch sind Menschen mit Demenz wertvolle Mitglieder der Gesellschaft. Die Würde des Menschen geht nicht verloren. Sie ist unantastbar. So steht es geschrieben im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Die Angst vor Menschen mit Demenz löst oft Distanzierung, Abgrenzung, Unsicherheit und Hilflosigkeit aus. Wie könnte diese Angst verblassen und wie können wir die Begegnung zwischen dementen und nicht dementen Menschen positiv stärken? Der Kern aller Anstrengungen, die Gruppe dementer Menschen adäquat zu begleiten, liegt im Selbstwert derjenigen Personen, die mit ihnen zusammen sind. Menschen mit Demenz haben andere Kompetenzen. Sie eröffnen uns neue Lernfelder. Menschen, die sich selber wertschätzen, können ihnen gegenüber Neugier und Lernbereitschaft entwickeln und Zugang zu dieser fremden, ungewohnten Seins-Ebene finden.

Eine notwendige Voraussetzung für die Begleitung eines Menschen mit Demenz ist die Fähigkeit, für sich selbst gut sorgen zu können, um den unbekannten Herausforderungen und veränderten Lebenssituationen gewachsen zu bleiben.

Der Autonomieverlust der Begleitpersonen während der Betreuung von Menschen mit Demenz kann zu einer wachsenden Selbstentfremdung und Gesundheitsgefährdung führen. Es ist wichtig, gesundheitsschädigende und kräftezehrende Situationen zu vermeiden und ihnen frühzeitig entgegenzuwirken. Alle Begleitenden sind aufgefordert, Überforderungen zu unterlassen, sich nicht in die Fallen des Helfersyndroms zu begeben, auch keine Aufopferungshaltung einzunehmen oder sich von Mitleidsgefühlen überschwemmen zu lassen. Die schmerzhaften, schweren Belastungen durch das kaum verstehbare Verhalten dieser Menschen werden dadurch nur vergrößert. Pflegende Angehörige sind oft gesundheitlich gefährdeter als die Betroffenen. Schuldgefühle und perfektionistische Ansprüche an sich selbst und Andere verstärken diesen Zustand.

– Unperfekt ist perfekter als perfekt. –

Gespräche mit dem Hausarzt oder qualifiziertem Fachpersonal frühzeitig in Anspruch zu nehmen, ist entlastend und bringt Verständnis für diese oft unverständliche Situation. Das rechtzeitige Einholen von Informationen sowie Kontakte mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die über hervorragende Kenntnisse, umfassende Gesprächskompetenz sowie flächendeckende Vernetzung verfügt, sind als Informationsquelle unverzichtbar. Die Inanspruchnahme von Selbsthilfegruppen oder Treffen für Angehörige, Tageseinrichtungen und Besuchsdienste wirken in dieser kritischen, bedrückenden Lebenslage entlastend.

Menschen mit Demenz sind kaum noch über die kognitive Ebene zu erreichen. Diskussionen, Streitgespräche und Rechthaberei sind im Kontakt mit ihnen zu vermeiden, von Überzeugungshandlungen und Klärungsversuchen gilt es, sich zu distanzieren und zu verabschieden. Aussagen wie »Mutter, das kennst du doch, das haben wir doch immer so gemacht!« oder »Mutter, das habe ich dir soeben erklärt!« sowie »Mutter, das weißt du doch!«, sind zu vermeiden.

Eine enorme Herausforderung ist der zwangsläufige Rollentausch in der Eltern-Kind-Beziehung oder zwischen Ehepartnern. Menschen mit Demenz verlieren ihre Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Sie sind in einem Stadium wie Kleinkinder, die handlungsunfähig, wehrlos, schutzbedürftig, abhängig, unsicher und auch häufig ängstlich sind. Wärme, Zärtlichkeit und einfühlsame Zuwendungen sind existenziell. Das bezeichne ich als emotionale Nahrung. Wird diesen Veränderungen und Bedürfnissen keine Rechnung getragen, suchen sich Menschen mit Demenz einen Ausgleich durch herausforderndes Verhalten, wie Aggressionen oder depressiven Rückzug. Die gravierende Persönlichkeitsveränderung der eigenen Eltern oder des Partners mitzuerleben, ist eine besonders beklemmende Tatsache. Es braucht viel Bereitschaft und Mut, einen solchen Rollentausch anzunehmen und einzuüben, um sich auf dieser fremdartigen Ebene zu bewegen und durch einen Blickrichtungswechsel unerwartete Möglichkeiten zu entdecken.

Damit Integration und Wertachtung der Betroffenen gestärkt werden, sind auf der anderen Seite Isolation und Degradierung zu unterlassen. Wer Unterstützung durch Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn oder den Besuchsdienst annimmt, schafft sich wesentliche Entlastung, denn die Freiräume dienen zum »Auftanken« der eigenen Kräfte. Dies kommt wiederum dem Betroffenen zugute. Es heißt: »Wenn es mir gut geht, geht es auch meiner Umgebung gut.« Menschen mit Demenz haben einen ausgeprägten Spürsinn für Echtheit, Authentizität und das Bedürfnis, als Person gesehen, beachtet, angenommen und wertgeschätzt zu werden. Sie nur auf die Rolle des Empfangenden zu reduzieren, ist keine Basis für ein wertschätzendes Miteinander. Über den Verlust der früheren Fähigkeiten entwickeln diese Menschen neue Ausdrucksformen und Kompetenzen, die zu sehen, zu beachten, zu fördern, zu verstärken und zu loben sind. Menschen mit Demenz haben Fähigkeiten, die ihnen mit Hilfe von aufgeschlossenen, lernbereiten Begleitenden ungeahnte Lebensqualität ermöglichen. Diese neue Sichtweise erleichtert es, Unbekanntes zu entdecken, damit zu experimentieren und sich von Normen und Prägungen zu verabschieden. Ein Blickrichtungswechsel mit dem Schwerpunkt:

– Mehr leben statt pflegen. –

Jede Lebensphase ist voller Geheimnisse, gefüllt mit täglichen Überraschungen, Entfaltungsmöglichkeiten und Lernchancen. Das äußere Bild der älteren Generation hat sich grundlegend verändert. Bunt, attraktiv, mit modischer Eleganz bewegt sich diese Altersgruppe. Wir sollten uns von der Anti-Aging-Haltung, von der Zauberformel »Für ewig jung« verabschieden. Anti-Aging ist Anti-Living. Die Aufgabe im Alter ist, Veränderungen an Körper, Seele und Geist bejahend anzunehmen, ihnen Raum zu geben, um unbekannte Dimensionen zu entdecken, um auf das Lebensende hin zu wachsen und zu reifen. Äußere Eingrenzungen können zur inneren Weite führen, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, diesen Blickrichtungswechsel vorzunehmen.

Menschen mit Demenz, so tönt es immer wieder, sind für die Gesellschaft kostenintensiv, für die Angehörigen und das Betreuungspersonal eine drückende Belastung, was zum Burn-out-Syndrom der Beteiligten führen kann. Solchen Gedanken und Sichtweisen ist kein Raum zu geben. Ältere Menschen, auch solche mit Demenz, geben unserer Gesellschaft wertvolle Beiträge und Impulse durch ihr Sosein. Der ungewohnte Blickrichtungswechsel ermöglicht, die Lebensphase des Alters sowie Menschen mit Demenz neu zu entdecken, zu erleben und von ihnen zu lernen.

Die Schwierigkeit, Menschen mit Demenz zu verstehen, liegt darin, dass über den Verlust der geistigen Fähigkeiten auch die Wahrnehmung, das Erleben und das Verhalten beeinträchtigt werden. Die Persönlichkeit dieser Menschen ändert sich ebenso wie die innere Vorstellung von der Welt, der Umgebung und den Mitmenschen. Je fortgeschrittener die Demenz ist, desto mehr befinden sich diese Menschen in ihrer eigenen Welt. Sie haben ihre innere Uhr verloren. Es setzt eine starke Persönlichkeit voraus, sich in die Welt dieser Menschen, sich auf ihre Daseinsebene zu begeben, um sie adäquat zu begleiten. Wer diesen Weg wagt, beginnt zu staunen und wird dankbar für Kleinigkeiten. Im täglichen Umgang mit dementen Menschen sollten sich die Bezugspersonen bewusst sein, dass sie selbst noch die Kompetenzen haben, die bei diesen Menschen bereits versiegt sind.

Begleitende

• haben Erinnerungsvermögen

• besitzen Urteilsfähigkeit

• können Strukturen entwickeln und planen

• haben Überblick

• sind vorausschauend

• verwenden Erfahrungen

• steuern und kontrollieren Emotionen

Menschen mit Demenz

• agieren impulsiv, spontan

• sehen nur den Augenblick, leben in der Gegenwart

• vergessen Vergangenheit und Zukunft

• handeln ohne Kontrollinstanzen, z. B. Gewissen, Schamgefühl

• reagieren auf der Basis ihrer Gefühle, nicht auf der Basis von Überlegungen

• leiden unter Gedächtnis- und Orientierungsstörungen

• verlieren ihr Kurzzeitgedächtnis, sowie Denk- und Urteilsvermögen

• haben eine gestörte Körperwahrnehmung

• verlieren die Fähigkeit zu abstraktem Denken, z. B. rechnen, schreiben, planen

• erleben Störungen in der räumlichen Wahrnehmung (Sturzgefahr)

• erleben Störungen in der akustischen Wahrnehmung (Schreckhaftigkeit)

• können sich immer weniger konzentrieren

• können ihr Leben im Alltag immer weniger selbst gestalten

In den ersten Phasen der Demenz reagieren betroffene Menschen unterschiedlich stark auf die Abnahme ihrer Fähigkeiten und der Zunahme von Unzulänglichkeiten. Solche Veränderungen führen zu Identitätskrisen. Werden die neuen Begrenzungen nicht beachtet und Defizite nicht ausgeglichen, kommt es zu Symptomen wie Unruhe, Ängstlichkeit und auffallendem Verhalten. Das ist der Nährboden für beginnende Depressionen.

Menschen mit Demenz sind sozialisiert und haben individuelle Prägungen. Sie brauchen keine Erziehung und Zurechtweisung, sondern eine vorurteilsfreie, einfühlsame, wohlwollende und verständnisvolle Zuwendung und eine tolerante, akzeptierende Haltung mit familiären Strukturen, in denen sie sich geborgen fühlen.

»Alt-Sein ist eine ebenso schöne Aufgabe wie Jung-Sein. Ein Alter, der das Alt-Sein nur hasst und fürchtet, ist kein würdiger Vertreter seiner Lebensstufe. Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muss, ›Ja‹ dazu sagen.«

nach Hermann Hesse

Blickrichtungswechsel

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