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Vorwort zur 4. Auflage

Mit der 4. Auflage dieses Buches ist es sicher sinnvoll, ein neues Vorwort zu schreiben. Seit seinem ersten Erscheinen in 2010 hat sich in der Zwischenzeit vieles sehr zum Positiven verändert. Die Bedürfnisse der Menschen mit Demenz werden immer besser wahrgenommen und berücksichtigt.

Damals wurde der Titel belächtet und bewertet, denn seine Perspektive, dass Menschen mit Demenz Kompetenzen haben und wir von ihnen lernen können, war eine Herausforderung. Die damalige Sichtweise ist gewesen, dass diese Menschen nur eine Belastung sind und von der Gesellschaft marginalisiert werden. Demenz wird auch heute noch als Schreckgespenst angesehen.

Heute ist Demenz – die häufigste Form ist Alzheimer – in aller Munde. Unzählige Bücher, Filme, Tagungen, aber auch praxisnahe kulturelle Angebote stehen heute zur Verfügung. Durch Museums-, Konzertbesuche und unterschiedlichste Projekte wird versucht, diese Menschengruppe und deren Angehörigen durch Teilhabe zu integrieren.

Auch die Forschung, die Digitalisierung, ist glücklicherweise an Menschen mit Demenz interessiert. Die Eigenständigkeit dieser Menschen wird gefördert, um besser auf ihre Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Mithilfe digitaler Bildschirmmedien können diese Menschen z. B. spielerisch durch eigene Bewegung Fahrradfahren oder gemeinsam kegeln. Durch Knopfdruck können Lieder, Erzählungen u. v. a.m. abgerufen werden. Diese Aktivitäten werden den Teilnehmenden angepasst, somit gibt es nur Gewinner, denn diese Menschen haben schon genug verloren.

In der Pflege sind aktuell kleine, ansprechende Roboter in der Erprobungsphase. Sie werden nie den menschlichen Kontakt ersetzen, dafür entlasten sie gestresstes, ungeduldiges, wertendes Personal. Menschen mit Demenz verlieben sich in diese künstlichen Wesen, denn Wertung und Beurteilung entfallen. Die Roboter warten geduldig, bis auf die gestellten Fragen Antwort gegeben wird. Die oft zurückgezogenen Menschen mit Demenz werden durch diese künstliche Intelligenz ernst- und wahrgenommen, denn sie sagen niemals, sie hätten keine Zeit noch sie wären gestresst.

Am Kirchentag in Wittenberg bin ich von einem solchen Roboter gesegnet worden. Seine erhobenen Handflächen leuchteten hell. Beindruckend war, dass ich die Sprache und die Stimme selbst bestimmen konnte. Auch Inhalte des Segens konnte ich beeinflussen. Nach dem gesprochenen Segen kam die Frage des Roboters, ob ich den Segen ausgedruckt nach Hause nehmen möchte. Ein Knopfdruck, und ich hatte den Segen in der Hand. Sicher ist es befremdlich, dennoch gibt es positive Aspekte. Ich bin mitbeteiligt und der Segensgebende steht stets zur Verfügung.

Wie erleben die Angehörigen und die Betroffenen all diese Aktivitäten? Sind sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen und ist Scham verblasst? Ist das Selbstwertgefühl der Menschen mit Demenz gewachsen? Können sie zu ihrer Behinderung stehen und nehmen sie die veränderte Situation an? Sind Angehörige bereit, gut für sich selbst zu sorgen, und nehmen sie Unterstützung an? Verblassen die Leidensstrukturen und die Aufopferungstendenzen bei den Begleitenden? Wird heute über Menschen mit Demenz nur gesprochen oder sind sie in ihrem So-Sein in Vereinen, Senioren-Clubs, Kirchgemeinden, in der Familie, im Quartier willkommen und integriert? Ist die Haltung dieser Gruppen wertend oder wurde entdeckt, welche Kompetenzen Menschen mit Demenz haben? Besteht die Bereitschaft, von ihnen zu lernen – etwa Aspekte wie z. B. Entschleunigung, Authentizität und die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, sich zu befreien von allem Materiellen und sich nicht mehr um die Vergangenheit und Zukunft zu sorgen?

Beim Überprüfen des Geschrieben für die 4. Auflage des Buches habe ich erkennen können, dass der Inhalt an Aktualität nicht verloren hat. Die Gleichwertigkeit, die gelebte Wertschätzung wird in diesem Buch praxisnah betont und unterstützt die gegenseitige Ermutigung. Die angeführten Beispiele, die eingefügten Texte regen die eigene Kreativität und Phantasie weiterhin an: für sich selbst gut zu sorgen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, um mit Menschen mit Demenz auf Augenhöhe im Geben und Empfangen den Weg gemeinsam zu gehen.

Die Bewohner des Festlandes und die Insulaner

Unsere Gesellschaft lebt wie auf dem Festland. Sie hegt und pflegt die Umgebung und lebt in den festgelegten Systemen, Strukturen und Konventionen. Menschen mit Demenz verlassen fast unbemerkt das gewohnte Festland und lassen sich auf einer Insel nieder. Die Leute vom Festland bemühen sich, dass sie zurückkommen, geben Anweisungen, beurteilen die Insel von der Ferne und sind überfordert in ihrer Hilflosigkeit. Sie bewegen sich nicht und bleiben auf dem Festland sitzen. Die Insulaner können nicht mehr auf das Festland zurück.

Wer jedoch flexibel ist und den Weg auf die Insel wagt, wird erstaunt sein, was entdeckt werden kann. Die Besonderheit und Kompetenz der Insulaner weckt Neugierde. Die Fähigkeit, einfach da zu sein, sich zu entschleunigen, die Echtheit, das Spontane und die Befreiung von allem Materiellen kann bei den Insulanern gelernt werden. Auf dieser Insel sind Kleinigkeiten zu entdecken, Schönheiten, die uns zum Staunen bringen könnten.

Blickrichtungswechsel

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