Читать книгу Blickrichtungswechsel - Brigitta Schröder - Страница 8

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Vorwort

Diese Texte zu schreiben, hat sich nach meiner Teilnahme an einem Workshop mit dem Titel »Ich nehme dich wahr – Sterbebegleitung bei Menschen mit Demenz« ergeben. Gemeinsam mit einer Diplom-Sozialpädagogin, die mich motiviert hat, meine Gedanken und Erfahrungen in Worte zu fassen, sind die ersten Schritte zu diesem Buch entstanden. Unter anderem haben mir Alltagsbegleiter Erfahrungen zur Verfügung gestellt. Die gewählte »Ichform« gibt dem Text Lebendigkeit.

Meine zusammengestellten Aufzeichnungen sind an Begleitende, Angehörige und vielseitig Interessierte gerichtet, die mit Fragen und Herausforderungen der Demenz in Berührung kommen oder in ihrem Alltag in aller Härte damit konfrontiert werden. Meine Gedanken öffnen Wege, entfalten Kreativität und Fantasie, um eine eigene, individuelle Haltung zu suchen, zu überprüfen und zu finden. Dies ermöglicht, Menschen mit Demenz im Alltag wertschätzend zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen.

Menschen mit Demenz unterliegen gravierenden Einschränkungen. Zwischenmenschliche Kontakte sind anders zu gestalten, dadurch entwickelt sich gegenseitige Bereicherung.

Begleitende Menschen sollen durch meine Aufzeichnungen ermutigt werden, für sich selbst gut zu sorgen, damit sie den Herausforderungen gewachsen sind und bleiben. Neben allem Belastenden kann sich durchaus ein persönlicher Gewinn ergeben. »Lernen mit und von Menschen mit Demenz« ist für die heutige, oft kopflastige und nach Profit und Erfolg strebende Gesellschaft kaum denkbar. Einen Blickrichtungswechsel vorzunehmen, um dem Sein statt dem Tun, dem Immateriellen statt dem Materiellen Raum zu geben, ist eine Voraussetzung für diese neue Sichtweise, die zu einer persönlich bereichernden Haltung führen kann und die des steten Einübens bedarf.

Mein Anliegen ist, mich mit den Lesern in einen inneren Dialog und durch ein verständnisvolles Miteinander auf einen gegenseitig befruchtenden Weg zu begeben. Ich bin Schweizerin, lebe seit 1971 in Deutschland und gehöre der Diakonissen-Schwesternschaft Neumünster an. Sie ist der Ursprung der heute renommierten Stiftung »Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule«, Zollikerberg/Zürich, die sich mit Fragen des Alterns und der Demenz in ethischer, wissenschaftlicher und spiritueller Sicht beschäftigt sowie sich in Fortbildung und Praxis auseinandersetzt und einen interdisziplinären Dialog fördert.

Altersfragen haben mich schon immer fasziniert. In den 1970er-Jahren habe ich das Altenheim »Ruhrgarten« in Mülheim an der Ruhr eröffnet und die ersten Spuren in der Altenarbeit hinterlassen. Meine langjährige Freundin Martha Soltek, von Beruf Prokuristin in einem metallverarbeitenden Unternehmen, hat mich nach ihrer Pensionierung über Jahre in meinem Berufsleben nachhaltig begleitet und unterstützt. Sie bekam um die Jahrtausendwende eine Demenz. Wir wohnten und lebten miteinander in ihrer Stadtwohnung. Ich habe sie auf ihrer letzten Wegstrecke begleiten können. Die Konfrontation mit ihrer Persönlichkeitsveränderung hat mich veranlasst, mich mit dem Thema Demenz intensiver auseinanderzusetzen. Martha Soltek hat mir durch ihre Erkrankung die Tür zur Residenz »Nova Vita« in Essen geöffnet. Hatte ich Termine in der Schweiz wahrzunehmen, verbrachte sie ihre Kurzzeit- und Verhinderungspflege in dieser Institution. Dieser Kontakt zur Residenz »Nova Vita« war mein Einstieg in die Begleitung von Menschen mit Demenz. Regelmäßig besuche ich die Bewohner dieser Institution.

Meine Aufzeichnungen sollen nicht in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Demenz« oder die oft beschriebene, sozialtherapeutischen Konzepte und autobiografischen Erfahrungen eingereiht werden, sondern finden ihren Platz beim Schwerpunkt Ethik, Individualität und Kreativität. Meine Gedanken und Aussagen sind aus der Praxis für die Praxis. Sie dienen, Menschen mit Demenz in ihrem Sosein und Verhalten vorurteilsfrei zu begegnen. Ich lade jeden ein, Mut und Neugier aufzubringen, hinter dem befremdlichen Verhalten dementer Menschen ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu erlernen, sich in ihrer Seins-Ebene frei und ungewohnt zu bewegen. Das ist der Blickrichtungswechsel, der mir wichtig ist. Jedem einzelnen Gesprächspartner danke ich persönlich für die Unterstützung beim Lesen, beim Strukturieren, bei Korrekturen, für kritische Nachfragen und für alle erhaltenen Anregungen.

Eine chinesische Legende

Es gab einmal einen Bauern, dessen Pferd davonlief. Dabei handelte es sich um eine herrliche, preisgekrönte Stute. Sofort kamen die Nachbarn, um dem Bauern ihr Mitleid über den herben Verlust auszusprechen: »Du bist sicher sehr traurig?«, sagten sie, doch der Bauer antwortete nur: »Vielleicht.«

Und eine Woche später kam die Stute zurück und brachte fünf wilde Pferde mit. Wieder kamen die Nachbarn, diesmal zur Gratulation. »Du bist jetzt sicher sehr glücklich?«, sagten sie und wieder antwortete der Bauer: »Vielleicht.«

Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, auf einem der Wildpferde zu reiten. Er wurde abgeworfen und brach sich ein Bein. »So ein Pech!«, sagten die Nachbarn. »Vielleicht«, antwortete der Bauer.

Drei Tage später kamen Offiziere ins Dorf, um Soldaten zu rekrutieren. Sie nahmen alle jungen Männer mit, eben nur den Sohn des Bauern nicht, weil er für den Kriegsdienst untauglich war.

Blickrichtungswechsel

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