Читать книгу Mut zum Lebenswandel - Brigitte Hieronimus - Страница 6

Lebensstufe
Alter: Ansichten, Möglichkeiten
und
Perspektiven
zur
persönlichen
Weiterentwicklung

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„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem

Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede

Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit

und darf nicht ewig dauern.“

Hermann Hesse

Ich wusste nicht viel über das Altern, als mir das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse zum ersten Mal begegnete. Es war der Auftakt bei einem Vortrag über die Bedeutung der Wechseljahre. Einen Moment hielt ich inne, spürte eine seltene Faszination. Damals war ich Anfang vierzig und mit einem ungestümen Willen ausgestattet. Ich verfolgte Ideen und Pläne, die nach konkreter Umsetzung verlangten. Das Leben, so dachte ich, wartet nicht auf mich; ich muss es gestalten, und zwar unverzüglich … Zwanzig Jahre später begegnete mir das Gedicht erneut. Die Zeit der Wechseljahre war längst vorüber, und ich begriff „Zeile um Zeile“, was es mit dem Welken und Blühen der Lebensstufen wirklich auf sich hat: Nichts darf ewig dauern, auch wenn es noch so schön ist. Nichts wird ewig dauern, selbst wenn es noch so schmerzhaft ist. Je tiefer ich mich darauf einließ, desto mehr erkannte ich, dass die Zeit dazwischen — der Ausklang der einen und die Einstimmung auf die neue Lebensphase — einem Orchester gleich, eine neue Lebensmelodie probt.

Dieses stetige Üben und Einstudieren der neuen Lebensmelodie ist eine Übergangszeit, die ziemlich unruhig und nervös machen kann, weil wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Doch genau diese Zeit des Nichtwissens braucht es, um den Wandel einzuleiten. Manchmal bringt diese Zeit Weisheit, manchmal Tugend, oft aber erst mal eine gewisse Form von Starrsinn und Unbeweglichkeit hervor. Es kommt also auf das Wie an: Wie gehen wir mit unserem Welken der vergangenen Phase und dem Erblühen der neuen um? Die Lebensstufe Alter gehört sicherlich zu dem intensivsten — und wohl auch radikalsten — Übergang innerhalb des eigenen Lebenszyklus. Natürlich endet auch in der Lebensstufe Jugend manches; vieles beginnt neu. Es enden die Abhängigkeiten des Kindes, eigene Vorstellungen vom Leben erwachen nach und nach und wollen sich entwickeln. Was im Alter endet, glauben wir bereits zu wissen: Den Beruf mit seinen Verpflichtungen lassen wir hinter uns, die körperlichen Kräfte nehmen spürbar ab, das Interesse an Sex lässt nach … Was neu hinzukommt, hören wir von denen, die diese Lebensstufe schon erklommen haben: Mehr Zeit und Muße, zum Beispiel für Hobbys und ausgedehnte Reisen. Außerdem wird dem Alltag eine neue Struktur verliehen, an die man sich jetzt halten will. Jeder sorgt nun auf seine Weise für sein persönliches Wohlbefinden. Hören wir aber auf das, was nicht verbalisiert wird, offenbart sich etwas anderes. Unter dem Mantel einer selbstbestimmten Lebensgestaltung versteckt sich so etwas wie Sinnsuche und ein sehnsüchtiger Wunsch nach innerem Glück und dauerhafter Zufriedenheit.

Dauerhaftes Glück — ist das überhaupt erstrebenswert?

Glück mag wie eine Illusion erscheinen, mag eine flüchtige Angelegenheit oder ein Zufallsprodukt gelungener Umstände sein. In Anbetracht der Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt, hoffen wir, dass es nicht allzu schlimm kommt. Deshalb spüren wir hin und wieder einen Hauch Glück, wenn uns nach dem Aufstehen nichts weh tut und wir die Ausschweifungen eines späten Abendessens mit reichlichem Weingenuss gut vertragen haben. Glücklich sind wir, wenn die Kinder und Enkel wohlauf sind und wir eine zärtliche Liebesnacht verbracht haben. Ein zauberhafter Frühlingsmorgen stimmt fröhlich, ein Waldspaziergang gibt Energie. Frauen sind glücklich, wenn ihnen der Mann, mit dem sie schon ein halbes Leben zusammen sind, immer noch sagen kann, dass er sie liebt. Männer sind glücklich, wenn sie in der Altersphase durch ihr Tun Liebe ausdrücken können: mit Hingabe das Auto putzen, die Garage gründlich aufräumen, das Werkzeug andächtig sortieren, Holz stapeln, miteinander kochen, etwas zusammenbauen, umbauen, anbauen, ausbauen, weiterbauen … Sie können diese Dinge nun ganz für sich allein oder für jemand anderen tun, um damit Freude zu bereiten. Doch obwohl jeder mal einen Zipfel vom Glück erhascht, spüren viele nach kurzer Zeit erneut diese latente Unzufriedenheit. Äußerlich scheint alles in Ordnung zu sein, aber irgendetwas nagt …

Der Übergang in eine neue Lebensstufe kündigt sich oft auf eigenartige Weise an. Wir werden von einer inneren Unruhe ergriffen und von dem Gefühl, etwas verpasst zu haben. Manchmal werden wir ohne Grund melancholisch und schotten uns ab. Dann wieder spüren wir eine Aufbruchsstimmung und möchten die Welt aus den Angeln heben, was mit Mitte fünfzig natürlich schwieriger ist als mit Anfang zwanzig. Steuern wir auf das Alter zu, fällt uns auf, dass nicht nur die anderen, sondern auch wir die unangenehme Eigenschaft haben, nachtragender zu werden und schneller gekränkt zu reagieren. Alte Wunden öffnen sich, weil wir jetzt nicht mehr genügend Abwehrmechanismen besitzen. Seelische Dünnhäutigkeit in der Übergangsphase zum Alter weist biografisch auf Folgendes hin: Wir bekommen die Gelegenheit, uns ausführlich mit unverarbeiteten Verletzungen zu beschäftigen, und können nun für Bereinigung sorgen — können aber auch darin verharren und uns verbittert zurückziehen. Das eine bringt Glück, das andere Unglück in die Lebensbilanz. Mit sich ins Reine zu kommen ist eine hohe Kunst, die wohl erst im höheren Alter gelingt. Denn Glück im Alter für sich selbst zu definieren und es nicht mit dem Glück der Jugend zu vergleichen, bedarf tiefer Lebenseinsicht und genügend Lebenserfahrung. Klopfen Probleme an die Tür oder geraten wir in Krisen, erschüttert das immer unsere Komfortzone. Unsanft werden wir daran erinnert, dass sich etwas in uns ändern müsste. Deshalb braucht es in jeder neuen Reifungsstufe Mut zum Lebenswandel, aber ganz besonders in der Lebensstufe rund um den Ruhestand und darüber hinaus.

In Zeiten des Jugendkults boomt das Thema „Alter und Altern“; es begegnet uns in sämtlichen Medien. Doch auch in längst vergangenen Zeiten haben Dichter und Denker über die Kunst des Alterns nachgedacht und geschrieben — und der Jugend so Gelegenheit gegeben, das Alter zu ehren und sich darauf einzustimmen. Heute übernimmt die Wissenschaft die Aufgabe, über Segen und Verfall des alternden Körpers und Geistes aufzuklären. Damit schürt sie allerdings eher Ängste statt Zuversicht. Jedenfalls trägt die permanente Informationsflut offensichtlich nicht dazu bei, klüger und gelassener mit dem „Altwerden“umzugehen. Im Gegenteil: Der Wunsch nach einem gelingenden Leben im Alter steht oft in krassem Widerspruch zur gefühlten Realität vieler älterer Menschen. Aber wie ließe sich das ändern?

Wem es gelingt, seinen eigenen Alterungsprozess anzunehmen statt dagegen anzukämpfen, der stellt fest, dass jeder Prozess so anders ist wie die Menschen verschieden sind. Nicht alle brauchen ein Hörgerät oder eine neue Hüfte, nicht jeder leidet an Bluthochdruck und Depressionen. Mit Einschränkungen geht jeder individuell um. Achten die einen auf gesunde Ernährung und nährende Beziehungen, gehen die anderen scheinbar sorglos über ihre überflüssigen Kilos und soziale Isolation hinweg. Nehmen die einen ihre Depression als Hinweis auf Sonnen- oder Dopaminmangel, forschen andere nach seelischen Blockaden, die sie daran hindern, handlungsaktiv zu werden.

Den eigenen Forschergeist entdecken

Welche der Fähigkeiten und Bedingungen braucht es, um dem Alter mit einer neuen Haltung zu begegnen und welche sind bereits vorhanden? Der Zugewinn an Zeit beispielsweise ist ein Geschenk, das ermöglicht, sich dem inneren Wandel bewusst zu stellen. Das moderne Leben bietet zwar Abwechslung genug und besteht aus permanentem Wandel, jedoch mussten viele Entscheidungen bislang von jetzt auf gleich getroffen werden, sodass manche Pläne und Wünsche auf der Strecke blieben. Erst jetzt im Älterwerden können wir uns Zeit für Entscheidungsprozesse nehmen, können wir in Ruhe auswählen, was wir wirklich wollen und was jetzt zu uns passt. Um das herauszufinden, bedarf es vielfältiger — vor allem auch ungewöhnlicher — Lebenserfahrungen sowie intimen Wissens über uns und unsere biografischen Prägungen, die heimlich mitbestimmen, sobald es um einen neuen Lebensentwurf geht. So frei, wie wir glauben zu sein, so frei sind wir nämlich nicht … Die Kenntnis um persönliche Aufgaben innerhalb der verschiedenen Lebensstufen ist allerdings keine Wissenschaft im herkömmlichen Sinne und wird an keiner Schule oder Universität vermittelt. Deshalb müssen wir uns selbst darum bemühen.

Auf den Bauch hören

Die meisten von uns leben in gesicherten Verhältnissen in einem der wohlhabendsten Industrieländer. Trotzdem nehmen Unsicherheit, Überforderung, Einsamkeit und Depression zu. Immer mehr Menschen leiden im Älterwerden unter diffusen Lebensängsten, können kaum benennen, was genau ihnen zu schaffen macht. Manchen macht ein latentes Unbehagen zu schaffen, das sich durch ständiges Nörgeln äußert. Andere sind getrieben von innerer Unruhe, die sich durch hektische Betriebsamkeit ausdrückt. Dahinter verbergen sich häufig Lebensthemen, die nach einer gründlichen Bestandsaufnahme verlangen, der aber noch ausgewichen wird. Meist steht eine Lebensprüfung bevor. Dabei geht es nicht vordergründig darum, das Problem auf der Stelle zu überwinden, sondern erst einmal Raum zu lassen für das, was wir eigentlich ablehnen. Niemand liebt Enttäuschungen, Trauer, Niedergeschlagenheit und Melancholie, doch erst das Durchleben führt die ersehnte Wandlung herbei.

Der US-amerikanische Psychotherapeut Eugene T. Gendlin stellt fest, dass Klienten, die gut mit Krisen und Problemen umgehen, offenbar über eine andere Art der Selbstwahrnehmung verfügen: Sie beziehen ihre körperlichen Empfindungen mit ein und äußern sich nicht nur theoretisch oder abstrakt über ihre Lage. Gendlin gelangte zu der Überzeugung, dass viele Menschen ihren schlechten Zustand nur deshalb als unabänderlich hinnehmen, weil sie sich nicht darüber im Klaren sind, dass das schlechte Befinden ein Signal dafür ist, dass der Körper sich zum Guten hin entwickeln will. Demnach wäre jedes nagende Gefühl des Unwohlseins eine potenzielle Energie. Die bloße Existenz negativer Empfindungen, so Gendlin, sei ein Ausdruck dafür, dass der Körper weiß, was richtig und was falsch ist. Der Körper muss also über ein inneres Wissen darüber verfügen, was es bedeutet, sich vollkommen wohlzufühlen, sonst würde er nicht so empfindlich auf alles Schlechte reagieren. Gendlin bat seine Klienten, darauf zu achten, welches körperliche Gefühl im Brust- und Bauchraum entsteht, sobald sie über ein bestimmtes Thema sprechen, und mit diesem Körpergefühl zu arbeiten. Daraus lässt sich schließen, dass der Körper, dem es schlecht geht, den Weg zu einem guten Wohlbefinden zu kennen scheint.

Macht das Leben krank?

Es gibt Therapeuten, die der Meinung sind, unangenehme und schmerzvolle Emotionen müssten möglichst schnell wegtherapiert werden, weil Trauer und Niedergeschlagenheit die Wiedereingliederung in eine reibungslos funktionierende Gesellschaft verhindern. Doch selbst wenn das für kurze Zeit gelingt, werden Depression und Melancholie sich neue Wege bahnen, solange das zugrunde liegende Thema nicht verstanden wird. Das Leben selbst ist keine Krankheit, aber es kann krank machen — insbesondere wenn Überzeugungen und Haltungen, die früher hilfreich gewesen sein mögen, heute aber hinderlich sind, beibehalten werden. Wer beispielsweise unerschütterlich an lebenslange Treue oder Solidarität glaubt, wird im Laufe des Lebens zwangsläufig mit dem Gegenteil konfrontiert und lernen müssen, sich dem Thema neu zu stellen, statt Tatsachen zu ignorieren oder zu bekämpfen. Nicht das Leben ist unser Feind; vielmehr kranken wir oft an „lebensfeindlichen“ und lebensuntauglichen Haltungen. Daher ist es hilfreich, das Leben als Lehrer und Freund anzuerkennen. Das Leben zeigt uns, dass sich alle Dinge des Lebens in ständigem Übergang befinden. Nichts bleibt auf Dauer nur schlecht oder nur gut. Sich in einem unsicheren Zwischenzustand aufzuhalten erfordert allerdings Zuversicht, die nicht immer vorhanden ist.

Mitgefühl statt Nabelschau

Den meisten Menschen fällt es unendlich schwer, eigene Enttäuschungen, Wut, Eifersucht oder Irritationen anzunehmen. Aber gerade diese schmerzhaften Emotionen machen uns klar, wo wir blockiert sind und wo wir feststecken. Insofern könnte durchaus Zuversicht wachsen, sobald wir die unangenehmen Emotionen, die uns immer wieder heimsuchen, als Gespenster längst vergangener Tage erkennen. Sie wollen uns keine Angst einjagen; vielmehr wollen sie endlich in Rente gehen. Deshalb sind Situationen und Menschen, die diese unangenehmen Empfindungen in uns auslösen, auch keine „Sündenböcke“, sondern „Entwicklungshelfer“, weil sie dazu beitragen, das Blockierte in unserem Inneren überhaupt wahrzunehmen.

„Glück besteht aus einem einzigen Stoff –

Mitgefühl. Wer kein Mitgefühl im Herzen trägt,

kann nicht glücklich sein.“

Thich Nhat Hanh

Sobald wir fühlen, was genau uns quält, traurig und unglücklich macht, kann sich auch Einfühlungsvermögen für Menschen einstellen, die Ähnliches durchmachen. Lebensglück ist somit nicht möglich, ohne die Bereitschaft, auch missliche Stimmungen und Situationen anzunehmen; denn nur dann können sie sich wandeln.

Schicksalswege der Generationen

Interessanterweise liegt der Ursprung unergründlichen Leidens — vor allem des diffusen Leidens in der Altersphase — nicht zwangsläufig in der eigenen, sondern vielfach in der elterlichen oder großelterlichen Biografie. In dieser Generation konnte sich wenig Mitgefühl entfalten, weder für andere noch für sich selbst, weil bittere Not, Armut, Hunger, Kälte und Entbehrung eher Hass, Verbitterung und Widerstand gegen das Leben erzeugen — innere Haltungen, die übrigens in allen kriegführenden Staaten zu finden sind. Über die (Spät-)Folgen einer kriegstraumatisierten Generation wurde inzwischen viel geforscht, und so geht man heute davon aus, dass unverarbeitete traumatische Lebensereignisse bis in die vierte Generation hineinwirken.

Prof. Franz Ruppert, Psychologischer Psychotherapeut und Traumaexperte, sagt dazu:

„Die Kinder kriegstraumatisierter Eltern werden unbewusst und ungewollt in deren Kriegstraumata involviert. Sie bleiben damit oft ein Leben lang in großer Sorge an ihre Eltern gebunden, versuchen sie zu retten und werden damit in ihrer eigenen Autonomie gebremst und gehemmt.“*

Erst jetzt im Älterwerden bemüht sich die Generation der Nachkriegskinder (geboren zwischen 1945 und 1955) allmählich um die notwendige Ab- und Auflösung. Dabei ist die Arbeit an Verstrickungsmustern durch die übernommenen Traumata der Eltern sogar eine wichtige Voraussetzung, um gesunde Nähe und Autonomie in engen zwischenmenschlichen Beziehungen leben zu können. Der Blick zurück auf eine Reihe von Lebensjahrzehnten kann sowohl zum Schwelgen in schönen Erinnerungen anregen, als auch schlecht verheilte Wunden aufreißen. Es kommt vor, dass Freud und Leid ganz nah beieinander liegen und bestimmte Erinnerungen widersprüchliche Empfindungen hervorbringen, die nicht ohne Weiteres einzuordnen sind.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen.“

Hermann Hesse

Mit welchem Blick schauen wir also auf unsere bisher gelebten Jahrzehnte zurück? Milde und versöhnlich oder gramvoll und versteinert? Bewerten wir unser Leben aufgrund von Erfolgen oder von Niederlagen? Schauen wir nur auf die Erfolge, kann uns das hochmütig werden lassen, blicken wir überwiegend auf die Niederlagen und Versäumnisse, hinterlässt das ein Gefühl schmerzlichen Scheiterns. In den meisten Fällen waren die familiären Rahmenbedingungen nicht optimal, sodass sich die persönliche Entwicklung nicht ausreichend entfalten konnte oder immer wieder aufgehalten wurde. Deshalb ist es notwendig, seine frühen Entwicklungsstaus bewusst zu erkennen, um sie jetzt selbstbestimmt aufzulösen. Dies ist ein wichtiger Schlüssel zu einem gelingenden Leben im Alter. Wem beispielsweise von Haus aus kaum Zugang zu Bildung und Kultur gewährt wurde, der sollte das nicht beklagen, sondern jetzt nachholen, was noch möglich ist, entsprechende Veranstaltungen besuchen oder auch selber künstlerisch tätig werden. Saxophon oder Klavier zu spielen, in einem Chor zu singen oder Tango zu tanzen, das kann man auch als 65-Jährige/r noch lernen. Nur den Wunsch, ein großer Star zu werden, den gilt es loszulassen. Und sind wegen häufiger Umzüge in der Kindheit freundschaftliche Beziehungen zu kurz gekommen, können wir uns jetzt um Intensivierung bemühen, indem wir bereit sind, mehr als Oberflächlichkeiten auszutauschen. Es ist nie zu spät für verständnisvolle Gespräche. Aber auch hier geht es darum, Erwartungen geradezurücken: Wer möchte, dass ihm andere verständnisvoll zuhören, sollte sich von seiner emotionalen Ichbezogenheit lösen und echtes Interesse am Gegenüber entwickeln.

Am Büfett des Lebens

Etwas nachzuholen ohne das Gefühl zu haben, etwas versäumt zu haben ist übrigens die beste Gelegenheit, den Vorurteilen einer Gesellschaft entgegenzutreten, welche behauptet, im Alter sei es zu spät für durchgreifende Veränderungen. Denn auch wenn es Beharrlichkeit, Konsequenz und unermüdliche Selbstdisziplin kostet, sich selber auf dem Kurs der Veränderung zu halten: Es lohnt sich. Etwas nachzuholen kann zum Beispiel bedeuten, sich etwas bewusst zu erlauben, was einst verboten war oder versagt geblieben ist, und sich ohne Wehmut den Dingen zu widmen, die jetzt endlich möglich sind.

Wer einen empfindlichen Magen hat, nimmt sich vom Büfett nur das, was seinen Magen nicht belastet. Ist er wieder gesund, holt er sich bei nächster Gelegenheit all jene Leckereien, von denen er beim letzten Mal nicht kosten durfte. Genauso verhält es sich mit dem Lebensbüfett: Jetzt geht es um Neuverkosten und um einen Nachreifungsprozess … Wem es allerdings nur darum geht, einen Mangel zu kompensieren, der wird niemals satt. Wer nur danach strebt, einen (als ungerecht) erlebten Mangel auszugleichen, kommt niemals auf den Weg zu Glück und Zufriedenheit, sondern rutscht eher in ein Zwangs- und Suchtverhalten. Das gilt für den empfundenen Mangel an Sex und Liebe ebenso wie den Mangel an Erfolg und Anerkennung. Außerdem lässt sich nun mal nicht mehr alles nachholen, was einst versäumt oder verhindert wurde. Deshalb gilt es beim Übergang zur Altersphase, die eigenen Wahlmöglichkeiten zu erkennen, auszuschöpfen und das angemessen auszudrücken, was sich entfalten will. Wem es beispielsweise versagt geblieben ist, Kinder zu zeugen oder zu gebären, der könnte die Möglichkeit nutzen, sich intensiv um die eigenen Patenkinder zu kümmern oder sich ehrenamtlich für Kinder in Not zu engagieren. Das setzt natürlich voraus, sich mit der eigenen Kinderlosigkeit ausgesöhnt zu haben; denn nur dann wird man sich anderen Kindern von ganzem Herzen zuwenden können.

Die Kunst, vergeben zu können

Doch nicht jedem ist es ohne Weiteres möglich, sich bewusst dem zu stellen, was einst versagt blieb. Uneingestandene Emotionen wie Neid oder Eifersucht versperren den Weg. In der Regel resultieren solche Reaktionsmuster aus einem niedrigen Selbstwertgefühl und geben dem Leben einen bitteren Beigeschmack. Um diese Muster aufzuheben, bedarf es der Fähigkeit, vergeben zu können. Vergebung ist nicht gleichbedeutend mit Versöhnung: Zur Versöhnung sind zwei Menschen nötig, zur Vergebung nur einer. Wer vergeben möchte, muss einen inneren Perspektivwechsel vornehmen, um die Lebensanschauung, die sich aus der Biografie des anderen ableitet, nachvollziehen zu können. Denn die meisten Kränkungen entstehen aus der Unvereinbarkeit verschiedener Anschauungen; und im anschließenden Kampf um Verständnis reiben sich Menschen auf. So kommt es manchmal über Generationen hinweg zu unversöhnlichen Haltungen, die bisweilen über den Tod hinausreichen. Sollten auch wir in den stillen Stunden des Nachsinnens feststellen, dass wir anderen wehgetan haben — ob aus Unwissenheit oder aus Egoismus — so ist das ein schmerzlicher Prozess, der uns tiefe Einsicht und Reflexionsfähigkeit abverlangt. Je aufrichtiger wir uns dieser Aufgabe im Älterwerden widmen, desto eher gelangen wir in den von uns gewünschten Zustand des Friedens und bekommen innere Freiräume.

Grenzzäune der Generationen

In der Jugend bedeuteten Freiräume unaufhörlich einer verheißungsvollen Zukunft entgegenstreben zu können. Wir eroberten das Leben und wollten auf nichts verzichten. Je nach Temperament und Gelegenheit wurden Grenzen und Regeln übertreten, um eigene zu erschaffen. Wer sich den Regeln der Eltern widersetzt, tut dies also nicht nur aus Trotz und Rebellion, sondern versucht gleichzeitig, sich neuen Orientierungsmöglichkeiten zu öffnen und damit zu experimentieren. Die Generation unserer Eltern und Großeltern (geboren 1900–1930) hatte diese Chancen nicht. Für die meisten war die Jugend, kaum begonnen, schon zu Ende. Entwicklungsjahre, in denen es darum geht, auszuprobieren und sich von elterlichen Werten und Normen abzugrenzen, gab es so gut wie gar nicht. Blutjunge Männer wurden in den Krieg eingezogen. Mädchen und Frauen bangten um ihre Männer, Väter, Brüder, Söhne und um das eigene Leben. Kamen die Männer zurück, waren Frauen und Männer oftmals verhärtet ob all der Gewalt und des Leids, das auf sie eingewirkt hatte. Wer das Grauen des Krieges überlebte, betrachtete die Welt aus erstarrten Augen. Zudem gelang es nur wenigen, zu reflektieren, wie es zu dem Krieg gekommen war, und Zusammenhänge herzustellen. Entsprechend beeinflussten unreflektierte Rollenbilder und rigide Moralvorstellungen auch die folgende Generation und wurden ihr zur bitteren Last. Der damalige Druck von Kirche und Gesellschaft erzeugte unbedingten Autoritätsgehorsam und bereitete das Fundament, auf dem unsere Eltern als junge Menschen Feindbilder aufbauten. Früh wurden sie empfänglich für rassistisches Gedankengut; sie teilten die Welt in Gut und Böse ein. Doch mit den wahren politischen Zusammenhängen hat sich diese Generation aus verschiedenen Gründen nur bedingt auseinandergesetzt. Das übernahm die nachfolgende Generation für sie. Doch das unvorstellbare und unverarbeitete Leid von damals existiert bis heute in der Psyche der Nachkriegsgeneration.

Praxisbeispiel

Marianne ist Anfang 40, geschieden und hat einen erwachsenen Sohn. Sie bittet um einen Beratungstermin, da sie seit einiger Zeit unter Schlafstörungen und Alpträumen leidet. Die Ärzte können ihr nicht weiterhelfen, wollen ihr deshalb Medikamente verschreiben, was sie aber ablehne, wie sie mir mitteilt. Sie sei daran interessiert, den Grund für ihre Symptome herauszufinden. Als sie zu mir in die Beratungspraxis kommt, wirkt sie stabil und aufgeschlossen; ich frage sie nach ihren derzeitigen Lebensumständen und wann die Alpträume begonnen haben. Sie berichtet, dass sie nach ihrer Scheidung vor einigen Jahren den Entschluss gefasst hat, sich politisch zu engagieren: Erst vor Kurzem sei sie Parteimitglied einer linksausgerichteten Partei geworden. Während der Scheidung steckte ihr Sohn mitten in der Pubertät; das war eine anstrengende Zeit für sie und ihn, da er den Kontakt zum Vater verweigerte. Viele Konflikte musste sie mit ihrem Sohn austragen, denen sie sich aber sehr oft nicht gewachsen fühlte. Dennoch, so betont Marianne, sei es eine wichtige Zeit mit ihm gewesen, zumal sie seine Kämpfernatur zu schätzen gelernt habe. Seit der Sohn eine Ausbildung macht und ausgezogen ist, geht es ihr recht gut, doch sie vermisste die guten Gespräche und politischen Auseinandersetzungen mit ihm. Vor einigen Monaten nun habe sich ihr Sohn nach längerer Abstinenz bei ihr gemeldet mit der Nachricht, dass er Vater wird. Das sei ein Schock für sie gewesen; schließlich sei ihr Sohn erst Anfang Zwanzig und gerade erst mit der Ausbildung fertig. Seitdem schlafe sie keine Nacht mehr durch, träume wirres Zeug und erwache schweißgebadet.

„Wie alt waren Sie, als Sie Mutter wurden?“, frage ich. „Und wie war das Verhältnis zu Ihren Eltern damals?“ Ich erfahre, dass Marianne ebenfalls 20 Jahre alt war und dass die Eltern sich gerade trennten. Die Mutter habe sie immer vor Männern gewarnt und kein gutes Haar an ihnen gelassen. Ich frage Marianne nach dem Jahrgang und der Kindheit ihrer Mutter: Als 10-Jährige war Mariannes Mutter mit ihrer eigenen Mutter und ihren beiden jüngeren Schwestern auf der Flucht. Monatelang fuhren sie eingepfercht in Viehwaggons durch die Lande, ohne zu wissen wohin. Manchmal blieb der Zug einfach stehen, und sie mussten bei bitterer Kälte aussteigen, durften weder miteinander reden, noch ihre Notdurft verrichten. Oft litten sie Hunger. Marianne erinnert sich, dass ihre Mutter ihr häufig erzählte, wie sie sich über die Großmutter habe werfen müssen, wenn Soldaten die Züge durchsuchten. Die Mädchen sollten dann ganz laut schreien, damit die Männer sie in Ruhe ließen. Heute wisse sie, sagt Marianne, dass die Mutter aufgrund dieser traumatischen Erfahrung ein männliches Feindbild aufgebaut habe, das sich durch ihr gesamtes Leben zog. Marianne berichtet weiter, dass ihre Mutter als Kind einen strengen Vater erlebt habe, als dieser aus dem Krieg zurückkam, und Angst vor ihm hatte, wenn er trank. Die Ehe ihrer Eltern, so Marianne, sei von Streit geprägt gewesen. „Ständig warf meine Mutter meinem Vater vor, er würde sie unterdrücken und kleinhalten, unternahm aber nichts, um sich eine Arbeit zu suchen.“ Marianne wurde in den Ehekrieg hineingezogen, indem ihre Mutter von ihr verlangte, zu ihr zu halten. Als Marianne älter wurde, durchschaute sie das Verhalten ihrer Mutter und zog sich emotional zurück.

Mit 19 Jahren lernte Marianne ihren späteren Mann kennen und wollte so schnell wie möglich von ihren Eltern weg, zumal diese dabei waren, sich zu trennen. In der Schwangerschaft und der darauf folgenden frühen Ehe erlebte die junge Frau zwar tiefe Geborgenheit, fühlte sich aber gleichzeitig abhängig von ihrem Mann und begann, um ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, was eigentlich gar nicht nötig war, denn „mein Mann war durchaus bereit, mich im Haushalt und bei der Erziehung zu unterstützen“. Dennoch hatte Marianne immer das Gefühl, ihr Mann missachte ihre Wünsche nach mehr Autonomie. Unentwegt stritt sie deshalb mit ihm, was schließlich dazu führte, dass er sich in eine andere Frau verliebte und sich von Marianne trennte. Er habe genug davon, immer wieder als Täter hingestellt zu werden, sagte er.

Während Marianne ausführlich von ihrer Familiengeschichte erzählt, wird ihr plötzlich klar, dass sie sich ähnlich verhalten hat wie ihre Mutter: Auch sie griff ihren Mann verbal an und machte — da sie sich als Opfer fühlte — ihren Mann zum Täter. Als Mariannes Mann fortging, zog sie ihren Sohn auf ihre Seite, sorgte dafür, dass er sich emotional um sie bemühte und schadete damit dem Vater-Sohn-Verhältnis. Als Marianne nun erfuhr, dass ihr Sohn selbst Vater wird, brachen ihre bislang abgespaltenen Angst-Themen und damit auch das Trauma ihrer Mutter auf. Die Symptome: Schlaflosigkeit und Alpträume.

In den folgenden biografischen Beratungen setzen wir uns intensiv mit den Traumata der Herkunftsfamilie auseinander. Marianne beginnt, die Überlebensstrategien aus den Kriegszeiten und die übernommenen Familienmuster zu analysieren und emotional zu verarbeiten.

Jede Generation erhält die Aufgabe, sich von Vergangenem zu verabschieden und alte Verletzungen heilen zu lassen. Das Gefühl innerer Leere und Verzweiflung in der Altersphase hat möglicherweise damit zu tun, dass genau dieser Aufgabe keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Bin ich der inneren Vergebung und Aussöhnung mit dem erlittenen Schicksal bis heute ausgewichen? Allzu oft erliegen wir der Versuchung, anderen Menschen eine Veränderung aufzuzwingen, damit wir uns nicht ändern müssen. Ein echter Friedensprozess sieht jedoch anders aus. Vielmehr müssen wir bei uns selbst anfangen und lernen, erst mit unseren eigenen Schwierigkeiten fertigzuwerden, uns mit unserem Misstrauen, unserer Furcht und unserer Unfähigkeit konfrontieren.

„Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten (…).“

Hermann Hesse

Erst jetzt im Älterwerden bemerken wir vielleicht, wie zögerlich wir dem Fortschritt und der Entwicklung in uns selbst Platz machen. Wir haben viel von dem erreicht, was wir wollten, und so soll es bleiben. Auch wenn das Leben sich nicht daran hält. Wir klammern uns an unseren Errungenschaften fest. Materielles Streben und Sicherheitsdenken wurden uns in die Wiege gelegt. Schließlich haben unsere Eltern, deren Erbe uns in Genen und Gewohnheiten steckt, aus Trümmern ein ganzes Land wieder aufgebaut.

Zeit für psychischen Hausputz

Es ist kein Leichtes herauszufinden, warum wir bis zur Erschöpfung gearbeitet, unsere Kinder mit Leistungsdenken überfrachtet, uns um der Unabhängigkeit willen in Beziehungen verweigert haben und bereit gewesen sind, fast jeden Preis für eine bestimmte Lebenshaltung zu zahlen, die sich später zumindest als fragwürdig herausstellte. Mit Krisen kamen wir schlecht zurecht; wir wollten rasche Lösungen und schoben den ungünstigen Lebensumständen, dem Partner, der Firma oder der unglücklichen Kindheit die Schuld in die Schuhe. Von unseren Eltern konnten wir kaum lernen, wie es funktioniert, vom Haben ins Sein zu kommen. Sie waren gezwungen gewesen auszuhalten, was eigentlich nicht auszuhalten war. Ihr bedingungsloses Streben nach Sicherheit und Wohlstand ist deshalb nachvollziehbar. Ebenso konnten viele von uns nicht von ihnen abgucken, was eine Partnerschaft auf emotionaler Ebene gelingen lässt. Für etliche war die Ehe eine Notgemeinschaft oder ein Tauschhandel. Not schweißte sie einst zusammen; doch aus einem Mangel heraus hatte man sich nur wenig zu geben. Zwar propagierte die 68er-Generation zunächst freie Liebe und einen antiautoritären Erziehungsstil, kehrte dann aber nach einigen revolutionären Jahren entweder ernüchtert zur konventionellen Partner- und Elternschaft zurück oder lebte liberal und freizügig weiter und sorgte so für Orientierungslosigkeit — nicht nur bei den eigenen Kindern.

Es ist ein großer Entwicklungsschritt, zu erforschen, nach welchen Anschauungen die Generation vor uns lebte und nach welchen wir heute leben. Denn rasch wird uns klar, dass wir eher Kopien als Originale sind. Hirnforscher und Psychologen bestätigen, dass sich Grundannahmen über die Werte des Lebens in den Lebensjahren zwischen fünf und fünfzehn ausbilden. In dieser Phase sind wir am empfänglichsten für Ideologien, Parolen und Vorurteile. Was wir in diesen prägenden Jahren von Eltern, Großeltern, älteren Geschwistern, Lehrern und anderen wichtigen Bezugspersonen lernen, wird neuronal fest verankert, was bedeutet, dass wir die übernommenen Werte zu unseren Glaubenssätzen machen. Deshalb ist es so mühsam, sich im Alter neue Haltungen anzueignen — und genau deshalb brauchen wir für das Altwerden eine große Portion Neugier.

„Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden

… Wohlan denn Herz, nimm Abschied und

gesunde!“

Hermann Hesse

Oftmals werden wir durch das Leben selbst gezwungen, uns immer wieder eigene Anschauungen und Haltungen anzueignen. Das kostet Kraft. Vor allem der innere Sturm und Drang in der Altersphase macht vor niemandem Halt und findet weder auf dem Golfplatz noch auf der AIDA statt. Auch erschöpfen sich diese Kräfte nicht in Ehrenämtern und im Betreuen der Enkel. Der innere Sturm und Drang bricht urplötzlich los — mit Unruhe und Revolte. Bisweilen wechselt die Stimmung stündlich. Dieses stürmische Auf und Ab ist wahrlich alles andere als eine lustige Spazierfahrt. Was immer wieder unterdrückt und nicht gelebt wurde, taucht manchmal in surrealen Träumen und Neurosen auf. An manchen Tagen werden wir irgendwie seltsam, brauchen akribische Ordnung oder gar keine; wir mögen nachts nicht mehr unterwegs sein und schließen uns ein. Schwer vorstellbar, dass dieser Lebensabschnitt zu den fruchtbarsten gehören soll … Doch die Altersforscher machen uns Mut, zumal mit der heutigen Langlebigkeit neue Chancen einhergehen. Allerdings zu einem Preis, den wir nicht ignorieren können: Demenzerkrankungen werden voraussichtlich zunehmen, und die Pflege wird nicht mehr bezahlbar sein.

Da die demografische Schere zwischen Jung und Alt immer weiter auseinanderklafft, kommen wir wohl nicht drum herum, uns um uns selbst zu kümmern und Solidarität zu leben, statt sie einzufordern. Viele werden dann bewusster darauf achten, Freundschaften und Nachbarschaften zu intensivieren und gut mit den Kindern und Enkeln auszukommen. Männer scheinen zufriedener zu sein, wenn sie in einer harmonischen Partnerschaft leben, was nicht bedeutet, dauerhaft unter einem Dach zusammen sein zu müssen. Insbesondere ältere Semester in Zweit- oder Drittbeziehungen bevorzugen heute das „Living apart together“-Modell, wo jeder seine eigenen vier Wände hat und Liebe, Lust und Zeit freiwillig miteinander geteilt werden. Wie aber sollen wir es mit jenem Menschen aushalten, mit dem wir Tag und Nacht verbringen? Würden wir anders mit uns selbst umgehen und leben, wenn wir wüssten, wann für uns die letzte Stunde schlägt? Würden wir mehr Zeit und Liebe verschenken? Gütig lächeln, wenn jemand Fehler macht? Aussprechen, was uns am Herzen liegt? Wie wertvoll das Leben ist, erkennt manch einer erst, wenn eine lebensbedrohliche Diagnose auf dem Tisch liegt und das Schicksal etwas nimmt, was bis dahin kaum wertgeschätzt wurde: die eigene körperliche und seelische Gesundheit.

Eine der wichtigsten biografischen Aufgaben der späten Lebensstufen ist deshalb der psychische Hausputz. Er ist gewissermaßen das Pflichtprogramm, wenn sich das Tor zur Zufriedenheit für die nachfolgenden Jahre öffnen soll.

Mit 50 und 60 verfügen wir meist noch über genügend seelische Vitalität, um unsere Altlasten zu entsorgen. Ab 70 will unsere Lebensernte eingefahren werden. Besser also, wir kümmern uns schon jetzt um eine gute neue Aussaat.

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit

zum Abschied sein und Neubeginne, um sich

in Tapferkeit und ohne Trauern, in andre, neue

Bindungen zu geben.“

Hermann Hesse

In meiner eigenen Biografie haben sich Abschiede und Neubeginn auf sehr eindrückliche Weise gezeigt, als mein erstes Enkelkind geboren wurde und mein Vater einen Tag später starb. Damals war ich 47 Jahre alt, hatte die Silberhochzeit hinter mir und meine Unternehmertüren gerade geschlossen. In einem andächtigen Moment, als ich meiner Tochter beim Stillen ihres frisch geborenen Kindes zusah, wurde mir plötzlich bewusst, was es bedeutet, einen wichtigen Teil des Lebens schon gelebt zu haben und in der Ahnenreihe nach hinten zu rücken. In die natürliche Trauer um den Tod meines Vaters mischte sich gespannte Freude über meine neue Rolle als Großmutter, und so reifte ich unmerklich in eine neue Dimension des Lebens hinein. Plötzlich interessierte es mich, was die Menschen auf und mit der Erde anrichten. Ich hob meinen Schrebergartenblick und engagierte mich eifrig im Weltgarten. So wird es bleiben, dachte ich …

Als mein viertes Enkelkind das Licht der Welt erblickte, war ich 54, inzwischen geschieden und neu verliebt wie zu Teenagerzeiten. Meine freiberufliche Tätigkeit erblühte, das Leben fühlte sich verheißungsvoll an. Ich war voller Zuversicht und Elan. So kann es bleiben, dachte ich …

Auf dem Weg ins 60. Lebensjahr stellte ich fest: Die Umbaumaßnahmen nehmen eher zu statt ab. Vielfältige Verluste weichten meine Vorstellung von einem partnerzentrierten Leben auf. Das Leben schien etwas anderes mit mir vorzuhaben, als das, was ich bislang auf dem Plan gehabt hatte. Nach langem Ringen ergab ich mich … und folgte langsam, doch immerhin tapfer dem Ruf meines Lebens. Insgesamt brauchte ich mehr als sieben Jahre, bis ich endgültig Abschied von einer Neuauflage meines alten Lebens nehmen konnte. Ich begriff, dass auch ich mich aus traumatischen Mustern meiner Kindheitsgeschichte herausarbeiten musste, um eine konstruktive Form von Autonomie und Nähe zu leben. Das neue Werden in mir war vergleichbar mit einer Geburt, verbunden mit heftigen Wehen. Nach und nach spürte ich den Lohn meiner Anstrengungen: Einige alte Freundschaften vertieften sich, neue entstanden; ich erlebte eine wandlungsbereite Liebesbeziehung, sowie eine ungeahnte Vielfalt in meiner Berufung. So vollzog sich der Wandel auf jeder Ebene — bis hin zu einem neuen Verständnis meiner Großmutterschaft. Das Leben kommt mir weiterhin freundlich entgegen, doch jetzt stoße ich selber die Türen auf, durch die ich gehen möchte. Die neue Lebensstufe kündigt sich bereits an. Seitdem fühle auch ich einmal mehr, wie viel Mut es braucht zum Lebenswandel. Doch jede einzelne Umbaumaßnahme weitet die inneren Räume, der Geist wird freier, der Körper trotz des Alters geschmeidiger, die Seele gefestigter. Mit dieser Erfahrung zieht eine bis dahin unbekannte Tugend in mein Leben. Die Demut. Wie die Liebe, so gedeiht auch die Demut, wenn einengende Denkmuster und Egostrukturen wie eine schwere Krankheit überwunden sind. Ich werde mich allerdings hüten zu sagen: So wird es jetzt bleiben … Glücklicherweise habe ich lernen dürfen, dem Zauber jeden (Neu-) Anfangs zu vertrauen.

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und hilft zu leben.“

Hermann Hesse

Meine Generation schien mit allen Wassern gewaschen. Sie bot der Welt mit scharfem Verstand die Stirn und kämpfte gegen bürokratische Windmühlen. Geistige Widerstandsbewegung hielt ihr Hirn fit und verschaffte „Satisfaction“. Diejenigen, die ihre flippigen Hippiezeiten und heißen „Sex, Drugs & Rock’n‘Roll“-Jahre verdrängt haben, behaupten nun, Sex sei anstrengend und nutzlos geworden, lesen aber „Shades of Grey“, um sich heimlich am Spiel von Dominanz und Unterwerfung zu ergötzen. Vor Slow Sex und dem Tao der Liebe scheuen sie zurück, da sie sich dann tatsächlich nackt begegnen würden. Und Liebe ist für die meisten ein strapaziertes Wort, weil Hingabe mit Selbstaufgabe und Intimität mit sexuellen Praktiken verwechselt wird. Etlichen geht es finanziell vergleichsweise gut, und sie bewohnen ihre Einfamilienhäuser inzwischen allein, weil die Partner gegangen sind. Sie können tun und lassen, was sie wollen … Aber sind sie auch zufrieden? Kränkeln die einen an Überdruss und an Unterforderung des Geistes, nörgeln sich die anderen durch die Gegend und sorgen dafür, dass ihnen niemand mehr Gesellschaft leisten will. Die Freude am Dasein scheint wie abgestorben und hat für Misstrauen und Langeweile Platz gemacht.

Vom Zauber der Aufbruchsstimmung

Es ist aber auch zu beobachten, dass immer mehr Menschen nach Jahren des Umbruchs ihren Aufbruch wagen und bewusst durchstarten. Sie wählen zielgerichtet aus, wo sie gebraucht werden, was sie zu bieten haben, welche Fähigkeiten sie weiterentwickeln und vertiefen wollen, und welches Lebens- und Liebesmodell jetzt passend ist. Mittlerweile wissen sie um die Kunst des Weglassens und dass weniger manchmal mehr ist. Tatsächlich erscheint das Angebot an Möglichkeiten nur so lange spärlich, wie wir uns vergangenheitsorientiert verhalten und den leeren, noch unbewohnten Raum vor uns gar nicht wahrnehmen. So stehen unserer Generation sogar mehr Wege offen, als wir gehen können. Allerdings weisen diese Wege zunächst nach innen und fordern ein längeres Innehalten, eine fragende Haltung, bevor der Weg im Außen gangbar ist. Dabei ist durchaus zu erkennen, dass jeder von uns Pionier ist, wenn wir das Land des Alterns betreten.

Mut zum Lebenswandel

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