Читать книгу Die Abenteuer des Henry Himmelblau - Brigitte Martin - Страница 5
HIMBEERWALD
ОглавлениеDer große Agbarberg lag mitten im Wald. Der Weg auf den Gipfel war schmal, kurvig und sehr steil. So steil, dass man sah wie Theo dicke Schweißperlen von der Stirn liefen und Lotti schwitzte noch viel mehr. Ihr Fell war patschnass. Henry dagegen, lief ohne Mühe, leicht wie eine Feder, den Berg hinauf, jagte Schmetterlingen nach und stellte bei jeder Gelegenheit die Frage: „Gefährlich oder nicht gefährlich?“. Es war eine Art Spiel, das sie miteinander spielten, und die Bären zeigten je nach Lage, die Daumenkralle runter für gefährlich oder die Daumenkralle hoch für nicht gefährlich.
„Da!“, rief Henry und deutete auf hohe Fichte. „Da will ich hinauf!“
„Gefährlich oder nicht gefährlich?“
Lotti zeigte den Daumen nach unten.
„Gefährlich!“, rief sie.
Theo zeigte den Daumen nach oben.
„Nicht gefährlich, wenn du nicht zu hoch kletterst!“, sagte er und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick von Lotti.
„Yippih“, brüllte Henry und war sofort hochgeklettert, sprang von der dritten, vierten, fünften bis zur achten Astgabel. Er wollte es seinen Eltern zeigen, dass er das mit Leichtigkeit konnte. Vor allem Lotti, die immer glaubte, er sei noch zu klein.
„Es reicht, Henry, nicht weiter hoch!“, hörte er sie auch schon rufen und tat so, als ob er sie nicht gehört hatte. Er sprang einfach weiter.
„Cool hier oben“, rief Henry auf der zehnten Astgabel, „Ich kann den Gipfel von hieraus sehen“
„Toll“, rief Theo nach oben. „Ist es noch weit bis zum Gipfel?“
„Ja, es sieht noch weit aus!“
Theo stöhnte.
„Was siehst du noch?“, rief Lotti.
„Ein Eichhörnchen! Es winkt mir zu!“
„Um Himmels Willen! Henry!“, rief Lotti, der sofort der Brief einfiel.
„Gefährlich oder nicht gefährlich?“, rief Henry.
„Wenn es schwarz ist, vielleicht!“, rief Theo. „Komm lieber runter!“
„Es ist braun, hat aber einen schwarzen Schwanz!“, rief Henry. „Es sitzt im anderen Baum!“
„Komm runter, Henry, sofort!“, rief Lotti und starrte angestrengt nach oben. Aber weder sie noch Theo konnten das Eichhörnchen entdecken.
„Ihr müsst euch nicht gleich so aufregen“, rief Henry. „Das Eichhörnchen ist schon wieder weg.“
Erleichtert atmeten die Bären auf.
In diesem Augenblick landete ein Rabe neben Henry auf dem Ast.
„Das gibt es nicht!“, sagte der Rabe, „So etwas hab ich in meinem Leben nicht gesehen!“
Er wiegte den Kopf hin und her, plusterte seine Federn auf und schüttelte sich. „Einfach unglaublich! Eine blaue Katze sitzt hier mitten im Baum. Das wird mir keiner glauben.“
Henry blickte sich um. Wieso Katze? Stand eine Katze hinter ihm? Er musste niesen.
„Hey Du!“, rief er und machte eine paar Schritte auf den Raben zu. „Spinnst Du denn? Siehst Du nicht, dass ich ein Bär bin?“
Der Rabe schüttelte den Kopf und hüpfte laut lachend rückwärts - bis er an der äußersten Astspitze saß. Und ohne zu überlegen sprang Henry hinter ihm her. Dabei rutschte er ab und schaffte es nicht mehr sich hochzuziehen. Rücklings fiel er nach unten. Er spürte den Wind, der ihm um die Ohren pfiff und hörte Lottis angstvollen Schrei und merkte wie es ihm plötzlich schwarz wurde vor den Augen und im anderen Moment, lag er in Theos Armen, der ihn aufgefangen hatte.
„Alles in Ordnung, mein Junge?“, sagte Theo und Lotti strich ihm über den Kopf und atmete schwer.
Henry fühlte sein Herz schnell klopfen.
„War gar nicht schlimm!“, sagte er und musste niesen. „Du hast mich ja aufgefangen. Wenn ich ein großer Bär bin, möchte ich genauso werden wie du, Papi!“
Henry sprang auf den Boden, stemmte die Pfoten in die Seite, stellte den rechten Fuß vor und brüllte so laut er nur konnte und musste selbst über den hellen und leisen Ton lachen.
„Ups! Das Brüllen, das musst du mit mir aber noch richtig üben, Papi“, sagte er.
Lotti und Theo sahen sich schweigend an.
„Henry, wir müssen dir jetzt etwas Wichtiges sagen!“
Doch Henry hörte ihnen gar nicht mehr zu, denn er hatte wieder den Raben entdeckt, der noch immer auf dem Ast saß und sie von oben interessiert beobachtete.
„Sind Raben gefährlich?“
„Nein, Raben sind nicht gefährlich. Kein Vogel ist gefährlich für uns“, antwortete Theo und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber Katzen sind gefährlich für Vögel. Sie fressen Vögel.“
„Echt? Denen schmecken wirklich Vögel?“
Bei dieser Frage bekam Theo einen Hustenanfall und Lotti fiel auch nichts Besseres ein, als mit zu husten.
Die Bären klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Als Theo wieder Luft bekam sagte er schnell, so schnell, dass sich die Worte überschlugen:
„Wir müssen dir jetzt etwas sehr Wichtiges sagen. Etwas wirklich Wichtiges.“
„Ich darf nicht mehr auf Bäume klettern? Stimmt’s?“, sagte Henry.
Theo schüttelte den Kopf.
„Wir drehen um und gehen nach Hause?“, riet Henry weiter.
Wieder schüttelte Theo den Kopf.
Gerade als Henry die nächste Frage stellen wollte, entdeckte er etwas, das ihn erschreckte. Er schrie auf. Und das erschreckte Lotti und Theo. Sie fletschten die Zähne und richteten sich zu voller Größe auf, die Pranken hoch erhoben, den Kopf zum Angriff nach vorne gestreckt, stellten sie sich vor Henry.
Theos Eckzähne waren lang, spitz und gelblich. Lottis Zähne sahen auch gefährlich aus, nur ein bisschen kleiner und ein bisschen weißer.
Beide Bären hatten den gleichen Gedanken. Sie dachten an das Eichhörnchen. Aber es war kein Eichhörnchen. Es war eine Schlange.
„Gefährlich oder nicht gefährlich?“
„Nicht bewegen!“, flüsterte Theo. „Das ist eine giftige Schlange!“
„Sehr gefährlich?“, flüsterte Henry.
„Ja, das ist eine Kreuzotter!“, raunte Lotti ohne den Blick von der Schlange zu wenden.
Henry wurde es heiß. Sein Herz klopfte wild. Seine Knie zitterten. Er hoffte, die Schlange würde es nicht bemerken. Doch die Schlange war mit etwas anderem beschäftigt. Sie starrte wie hypnotisiert auf das Mauseloch vor dem sie lag.
Die Bären zählten leise bis drei, dann brüllten sie gemeinsam los. Henry hielt sich die Ohren zu und die Schlange war mit einer einzigen Bewegung im Gebüsch verschwunden.
„Puh!“, atmete Henry auf.
„Puh!“, erklang es ebenso erleichtert aus dem Mauseloch. Eine graue Nasenspitze schnupperte vorsichtig heraus.
Sofort war Henry wieder bei dem Spiel.
„Gefährlich oder nicht gefährlich?“
Die Bären schüttelten lachend die Köpfe. Ihre Daumen zeigten beide nach oben.
„Nein, Mäuse sind nicht gefährlich!“
„Dann schau ich sie mir näher an“, sagte Henry und lief los.
„Halt, Henry, warte doch mal!“ rief Lotti.
Aber Henry stand bereits neugierig vor dem Loch in dem die Maus wieder verschwunden war.
„Hey Du!“, rief Henry und versuchte mit den Pfoten in das Loch zu greifen. „Du kannst rauskommen, die Luft ist rein, die Schlange ist weg!“
Nichts rührte sich.
„Sag mal, Henry, hast du vielleicht jetzt Hunger bekommen?“, fragte Theo so, als ob es eine ganz normale Frage wäre und stieß dabei Lotti sanft mit dem Ellbogen in die Rippen.
„Ein bisschen Hunger hab ich schon“, sagte Henry und versuchte in das Loch hineinzuschauen. Er sah aber nichts. „Glaubt ihr die Maus hat Angst vor mir?“
„Katzen und Schlangen fressen Mäuse“, sagte Lotti und musste dabei wieder husten.
„Wirklich? Igitt! Aber ich bin ja ein Bär, das muss sie doch gesehen haben. Sind denn Katzen auch gefährlich für mich? Für kleine Bären?
Theo sagte nichts. Lotti sagte auch nichts.
„So gefährlich, wie Schlangen und schwarze Eichhörnchen?“, fragte Henry weiter, denn so eigenartig wie Lotti und Theo aussahen, vermutete er, dass Katzen richtig gefährlich waren.
Aber die Bären blieben stumm.
„Jetzt sagt doch endlich: sind Katzen gefährlich für kleine Bären oder nicht?“, rief Henry.
„Nein, nein!“ rief Theo und es klang verzweifelt. Er strich sich über die Stirn und Augen, trommelte nervös auf seinem Bauch herum, blickte zu Lotti und schnaufte und seufzte.
„Ich geb auf“, sagte er. „Drehen wir um, es ist bereits spät am Nachmittag und zum Gipfel brauchen wir mindestens noch eine Stunde und ich hab auch Hunger und außerdem sollten wir zurück sein, bevor es dunkel wird“
„Also doch“, sagte Henry enttäuscht. „Ich wusste es. Ihr wollt umdrehen! Nein, ich will aber nicht umdrehen. Bis zum Gipfel müssen wir es schaffen! Wir sind doch starke Bären, oder nicht?“
Lotti nickte und Theo schüttelte sich, als ob er lästige Fliegen vertreiben wollte, dann brüllte er laut und spurtete los.
„Wollen wir mal sehen, wer eher oben ist!“, rief er Henry zu und verschwand in der dicken Staubwolke, die er aufwirbelte.
Henry und Lotti rannten hinterher, aber es gelang ihnen nicht, Theo einzuholen. Und als sie atemlos den Gipfel erreichten, saß Theo bereits gemütlich an einem Felsen gelehnt und sah aus, als ob er seit Stunden auf sie warten würde.
„Auch schon da?“, sagte er und grinste.
„Wenn ich ein großer Bär bin, werde ich genauso schnell rennen können, wie du!“, sagte Henry und gerade als Theo tief Luft holte, um Henry endlich zu erklären, dass er kein Bär war, gerade in dem Moment, rief Lotti laut aus: „Ach, seht doch nur - die herrliche Aussicht!“
Staunend blickten alle drei auf den Blaubeerwald, der tief unter ihnen lag. Die Strahlen der späten Nachmittagssonne tauchten ihn in ein Licht, das sich wie flüssiges Gold über dem Wald legte.
„Wunderschön!“, seufzte Lotti.
„So winzig klein sieht unsere Höhle aus! Sie ist nur ein Punkt“, rief Henry, als er sie im Süden des Waldes entdeckte. Und auch der Bach, der sich durch den Wald schlängelte, sah vom Gipfel des Berges, fein wie ein Faden aus.
„Schaut mal unser See“, rief Lotti und zeigte auf den kleinen See, der direkt in der Mitte des Waldes lag.
„Und da im Norden, da liegt das Wolkenkratzer-Gebirge“, erklärte Theo und zeigte auf die Felsen der mächtigen Gebirgskette. Sie glänzten tiefschwarz. Sie waren spitz gezackt und es sah aus, als ob sie den Himmel berührten. Also ob die letzten Meter der Gipfelspitzen im Himmel verschwanden.
„Wolkenkratzer?“, murmelte Henry. Das Gebirge gefiel ihm. Er kam ihm bekannt vor. Obwohl er es nie zuvor gesehen hatte. Zwischen den Felsen konnte er einen Gebirgsbach erkennen, der steil in die Tiefe stürzte und sich in einen Wasserfall verwandelte. Daraus wurde ein Fluss, der direkt in den Blaubeerwald floss, der plötzlich einen scharfen Rechtsknick machte und weiter Richtung Westen strömte. Hinter dem Fluss lag noch ein Wald. Es war ein dunkler Tannenwald. Kleiner als der Blaubeerwald. Dort blitzten ab und zu rote Punkte wie winzige Sterne auf.
Als Henry das sah, wurde ihm heiß.
„Was ist das?“, flüsterte er und deutete auf den seltsamen Wald.
„Das ist der Himbeerwald!“, erklärte ihm Theo.
„Der Himbeerwald?“
„Ja, der Himbeerwald! Dorthin darfst du NIE gehen!“, sagte Theo.
„In den Himbeerwald darfst du NIEMALS gehen!“, sagte Lotti.
Und so wie die Bären blickten, verstand Henry, der Himbeerwald, das war das Gefährlichste, das er heute kennen gelernt hatte.
„Warum darf ich dort nicht hingehen? Warum ist der Himbeerwald gefährlich?“
Die Bären blickten einander an. Sie schnauften tief durch.
„Das ist einfach so. Basta“, brummte Theo mit finsterer Miene.
„Es ist ein Geheimnis“, flüsterte Lotti. Sie presste die Lippen fest aufeinander.
„Ein Geheimnis?“, wiederholte Henry.
Neugierig starrte er wieder zu dem Wald hinüber.
„Das muss ich herausfinden“, dachte er und seine Pupillen funkelten.