Читать книгу Die Automatin - Brigitte Regitz - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеAuf diesen Tag hatte Ingelotte Blatter seit zwei Jahren hin gefiebert: den erneuten Aufbruch in das Leben, wie sie es sich wünschte. Sie war besonders früh aufgestanden, zog zum ersten Mal das maisgelbe, zweiteilige Kleid an, das sie sich vor drei Tagen zugelegt hatte.
Sie ging ins Bad, nahm eine blond gelockte Perücke von einem Styroporkopf, stülpte sie über ihre kurzen, braunen Haare, klappte das rechte und das linke Teil des dreiteiligen Spiegels aus. So konnte sie erkennen, ob wirklich kein Haar mehr hervor sah. Im Nacken entdeckte sie eine dunkle Haarsträhne, die sie sorgfältig unter den Perückenrand schob.
Zufrieden drückte Ingelotte die beiden Spiegelseiten zurück. Aus einem Schubfach des Kosmetikschranks zog sie einige Wattetamponaden hervor, wie sie von Zahnärzten benutzt werden. Damit polsterte sie ihre Wangen auf.
Sie betrachtete sich prüfend im Spiegel. Ihr Gesicht wirkte deutlich runder. Die ohnehin dünnen Lippen waren noch schmaler geworden. Die Dehnung des Gesichts ließ die sonst kaum sichtbare Narbe auf der rechten Wange deutlicher hervortreten. Ingelotte gefiel sich nicht, aber sie sah sich kaum mehr ähnlich, und genau das wollte sie.
Vor dem Garderobenspiegel prüfte sie ihr Aussehen von allen Seiten. Der knöchellange Rock streckte ihre Figur, denn er versteckte ihre zu kräftig geratenen Beine. Sie trug die leicht taillierte, kurze Jacke geschlossen, am Ausschnitt lugte ein gelbgrünes T-Shirt hervor.
Aus ihrer großen, schwarzen Ledertasche, in die auch ein Aktenordner passte, zog Ingelotte eine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Wieder schaute sie prüfend in den Spiegel. Die modisch golden getönten Brillengläser verliehen ihrem Aussehen einen Hauch von Extravaganz.
Wenn ihre Mutter sie jetzt sehen könnte! Bekleidungseskapaden mit ausgefransten oder auch nur verwaschenen Jeans hatte sie nie erlaubt. Ingelotte und ihre Schwester waren immer sauber, ordentlich, konservativ gekleidet zur Schule gegangen.
Ein Blick auf die Armbanduhr: Sie musste gehen. Schnell schlüpfte Ingelotte in ihren Popelinemantel, griff Handtasche und Schlüssel und machte sich auf den Weg.
Ihr Auto hatte sie am Abend zuvor zwei Straßen entfernt von ihrer Wohnung geparkt. In der Verkleidung konnte sie sich nicht in der Tiefgarage ihres Hauses sehen lassen. Womöglich würde sie jemandem begegnen und doch erkannt werden. Wie hätte sie ihre Maskerade erklären können?
Zielstrebig ging sie auf ihren roten Wagen zu. Zum ersten Mal empfand sie es als unangenehm, eine solch auffällige Lackfarbe gewählt zu haben. Ein dezentes Silbergrau wäre ihr jetzt lieber gewesen, aber sie hatte ja nicht ahnen können, auf was für ein Abenteuer sie sich eines Tages einlassen würde.
Sie spürte eine diffuse Angst. Würde ihr riskanter Plan funktionieren? Was, wenn sie enttarnt würde? Andererseits, wie sonst sollte sie heutzutage eine Abteilungsleiterstelle bekommen?
Mit ihren vierzig Jahren gab sie sich nicht der Illusion hin, noch reichlich Zeit zum Aufbau einer anderen, neuen Karriere zu haben. Außerdem wurden Jüngere ohnehin bevorzugt. Zu Recht? Sie musste zugeben, dass ihre Energie nicht unbegrenzt war. Abends fühlte sie sich oft müde. Dann fiel es ihr schwer, etwas zu unternehmen.
Ihr Innerstes lechzte nach Anerkennung, die ihr der Leitungsposten bringen würde und nach der damit verbundenen Macht. Wie lange wartete sie schon darauf? Während der vergangenen Jahre hatten ihre ehemaligen Schulkameradinnen Unternehmen gegründet, politische Karrieren gemacht. Viele waren verheiratet, beschäftigten sich mit der Ausbildung ihrer Kinder.
In dieser Zeit war es Ingelotte nicht gelungen, bei Begegnungen den früheren, vertrauten Ton beizubehalten. Alles, was sie zum Gespräch beitrug, bezog sich auf längst vergangene Ereignisse, auf die Zeit, bevor sie als Abteilungsleiterin zu Gunsten eines Androiden abgesetzt worden war.
Zwar hatte sie danach stets herausfordernde Aufgaben gehabt. Immerhin verfügte sie über eine hervorragende Ausbildung und große Intelligenz. Ihr Einfluss auf die Geschicke der Unternehmen, für die sie arbeitete, war bedeutend gewesen, aber trotz der hochqualifizierten Arbeitsleistung, die ihr abverlangt wurde, sah sich Ingelotte als Auftragnehmerin, die selbst nichts entscheiden konnte, keine Mitarbeiter und somit keinen persönlichen Machtbereich hatte.
Ihren ehemaligen Mitschülerinnen gegenüber fühlte sie sich minderwertig, denn die blickten zufrieden auf ihre Erfolge, erzählten von ernsten, wichtigen Dingen, mit denen sie sich gerade beschäftigten, oder die sie für die Zukunft planten. Damit entfernten sie sich mehr und mehr von Ingelotte, der ewig Gestrigen.
Ihr Freundeskreis war immer kleiner geworden, bis sie schließlich nur noch Kontakte mit Menschen pflegte, die ihr für ihr Karrierestreben nützlich erschienen. Sie wollte wieder Abteilungsleiterin sein, und heute war es endlich soweit!
Sie schloss den Wagen auf, warf ihre Handtasche zu der großen Beuteltasche auf den Rücksitz, stieg ein und startete.
Schon von weitem hob sich der Bau des renommierten Bekleidungsgeschäfts von den anderen Büro- und Geschäftshäusern ab. In der blau schimmernden Glasfassade, die einen edlen Eindruck machte, spiegelten sich die gegenüber liegenden Gebäude. Hinter der Glasfassade befand sich neben den Verkaufsräumen auch die Hauptverwaltung der Ladenkette, für die Ingelotte Blatter ab sofort arbeiten würde.
Sie parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße, raffte schnell die beiden Taschen vom Rücksitz, stieg aus, schloss das Auto ab und eilte auf den Lieferanteneingang des Ladens zu. Dreimal klopfen, Pause, dreimal klopfen. Das war das verabredete Zeichen.
Die Tür wurde aufgerissen, ein grauhaariger Mann packte Ingelottes Arm und zog sie ins Gebäude. Früher war er einmal Direktor des Unternehmens gewesen, in dem Ingelotte gearbeitet hatte. Dort hatten sie gemeinsam durchgezogen, was sie erreichen wollten. Sie hatten die Verfügungsvollmachten über Geld und konnten sich bei Beratungsfirmen Ergebnisse kaufen. Manipulationen waren ihnen nicht nachzuweisen. Aber: Kurz nacheinander hatten beide ihre Posten verloren, als die Führungsebene durch Roboter ersetzt wurde.
Zuerst waren einzelne Abteilungsleiterposten mit Androiden bestückt worden. Nach dem positiven Probelauf aber folgte der Austausch sämtlicher Menschen auf mittlerer Führungsebene, und als sich schon bald danach erfreuliche Ergebnisse zeigten, die Produktivität anstieg, die Qualität der Produkte zunahm, der Export wieder anlief und der Krankenstand von Mitarbeitern stetig zurück ging, folgten alle anderen Führungsebenen und somit auch Ingelotte und ihr ehemaliger Direktor. Die Aktionäre der großen Gesellschaften hatten alsbald Grund, den Einsatz von Robotern zu feiern, denn es wurden wieder größere Gewinne ausgeschüttet als in den Jahren zuvor.
Ingelotte Blatter, ihr ehemaliger Direktor und zahlreiche andere abgesetzte Führungskräfte fanden sich nun in den Beratungszentren wieder, wo sie mit Sachfragen aus ihren jeweiligen Ausbildungsberufen beschäftigt wurden. Die Androiden beauftragten Informatiker mit der Lösung von EDV-Problemen. Klärungsbedürftige Rechtsfragen übergaben sie an Juristen und so weiter. Die einstigen Leitungskräfte waren zu Zuarbeitern geworden.
Mit diesem Zustand wollten sich weder Ingelotte Blatter noch ihr ehemaliger Direktor, Gerd Schlägel, abfinden. Und sie waren nicht die Einzigen. Schnell hatten sie alte Verbindungen aufgefrischt und auch neue geknüpft. Unterhalb der mittleren Führungsebene fanden sich die treuen Gefolgsleute, die ihren früheren Chefs gern behilflich waren. So war Ingelottes ehemaliger Vorgesetzter schließlich auf eine Möglichkeit gestoßen, sie als Abteilungsleiterin unterzubringen, anstelle eines Androiden. Er kannte einen Mann in der Personalabteilung des Bekleidungsgeschäfts, durch dessen Lieferenteneingang Ingelotte Blatter gerade das Gebäude betreten hatte. Dieser Mann war für den Einsatz neuer Roboter zuständig. Als der defekte Abteilungsleiter-Roboter entsorgt werden musste, forderte er einfach keinen neuen an. Hier kam Ingelotte auf den Plan.
Gehalt bekam sie weiter über das Beratungszentrum, sodass ihre Abbuchungen für Miete und andere Kosten sowie Geld für ihren Lebensunterhalt gesichert waren. Ihre Arbeiten wurden von jemand anderem übernommen, denn die Abgesetzten waren übereingekommen, sich auf ihre alten Posten zurück zu kämpfen. Dabei gehörte es zur Strategie der „Ehemaligen“, extrem langsam zu arbeiten. Dadurch war die Mehrarbeit, die durch das Fehlen von Ingelotte entstand, problemlos von jemand anderem zu übernehmen. Den Androiden, die das Beratungszentrum kontrollierten, fiel nichts auf. Sie waren nicht in der Lage zu beurteilen, innerhalb welcher Zeit die jeweiligen Aufgaben von Menschen erledigt werden konnten. Mit ihren einprogrammierten Moralvorstellungen gingen sie davon aus, dass jeder sein Bestes gab.
„Folgen Sie mir“, flüsterte Schlägel. Er lief vor Ingelotte die Granitstufen hinunter. Im Kellergeschoss angekommen, blieb er stehen.
„Hier können Sie Ihre Sachen ablegen“, raunte er und wies auf eine unbeleuchtete Ecke unter der Treppe. Ingelotte Blatter beeilte sich, nahm die Sonnenbrille ab, spuckte die Wattetamponaden in eine kleine Plastiktüte, die sie aus ihrer Rocktasche geholt hatte, zog den Mantel aus, rollte ihn zusammen und verstaute ihn und ihre Perücke in dem Beutel, der auf der Rückbank ihres Autos gelegen hatte. In der Ecke unter der Treppe würden die Sachen nicht entdeckt werden.
„Was machen wir jetzt?“, wandte sie sich zu Schlägel um.
Der fingerte umständlich einen Schlüssel aus der Innentasche seines grauen Blazers und hielt ihn ihr hin: „Das ist der Schlüssel zum Lieferanteneingang. Passen Sie gut darauf auf! Einen zweiten besitze ich nicht. Ich konnte kein Duplikat machen lassen. Das ist ein Sicherheitsschlüssel mit Zertifikat.“
Ingelotte nahm den Schlüssel entgegen, steckte ihn in ein Seitenfach ihrer Handtasche und zog den Reißverschluss zu.
„Kommen Sie jetzt mit nach oben“, drängte der Grauhaarige und eilte die Treppe hoch. Die Frau folgte ihm.
Auf jedem Etagenabsatz zeigte eine große Zahl an der Wand das jeweilige Stockwerk an. Vor der Tür zum vierten Stock blieb Schlägel stehen. Er musste erst einmal nach Luft schnappen. Dann drehte er sich um.
„Hier gehen Sie hinein“, sagte er. „Die Angestellten sind darüber informiert, dass ab heute ein neuer Android zum Einsatz kommt. Niemand wird sich über Ihr Erscheinen wundern. Sie müssen äußerst pünktlich sein, aber wenn Sie zehn Minuten vor acht am Arbeitsplatz sind, sollte Ihnen niemand begegnen. Die Roboter nehmen ihre Tätigkeit erst um acht auf. Die Angestellten erscheinen nicht vor halb neun.“
Nach einer Atempause fuhr er fort: „Vergewissern Sie sich dennoch, dass Sie auf dem Weg zum Büro nicht gesehen werden. Man kann ja nicht wissen. Es geht rechts runter.“
Ingelotte nickte: „Ich werde immer pünktlich zehn vor acht hier auftauchen. Keiner wird merken, woher ich komme.“
„Außerdem“, unterbrach der ehemalige Direktor „müssen Sie abends so lange in Ihrem Büro bleiben, bis alle Mitarbeiter gegangen sind. Die Androiden legen sich zur Regeneration auf spezielle Liegen in ihren Büros. Das tun sie etwa fünfzehn Minuten, nachdem die Angestellten weg sind. So lange müssen Sie warten! Auch in Ihrem Raum wird eine solche Liege von der Wand herunter klappen.“
„Oh, davon haben Sie bisher nichts gesagt. Was geschieht, wenn ich mich nicht hinlege?“, fragte Ingelotte unsicher.
„Das macht nichts. Mit den Liegen ist keine elektronische Messung oder dergleichen verbunden.“
Ingelotte nickte erleichtert. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: „Um Himmels willen. Es ist ja bereits fünf vor acht. Ich muss mich beeilen. Danke für alles. Ich melde mich, um zu berichten, wie die Sache läuft.“
„Ich bitte darum“, erwiderte der Grauhaarige und rückte dabei seine graublau gestreifte Krawatte zurecht. „Am besten schreiben Sie an meine E-Mail-Adresse gschlaegel@vip.de.“
„Die kann ich mir gut merken. Sie hören von mir.“