Читать книгу Die Automatin - Brigitte Regitz - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеIngelottes Büro lag am Ende des langen Flurs. So hatte es ihr der Ex-Direktor beschrieben. Sie drehte sich immer wieder um, vergewisserte sich, wirklich nicht gesehen zu werden und huschte auf das Sekretariat der Abteilungsleitung zu, vorbei an grauen Türen und grellbunten, modernen Grafiken, die die Wände zierten.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ihr Herz pochte gegen Ihre Rippen, als sie zögernd eintrat. Sofort sprang hinter dem großen Schreibtisch eine Frau im dunkelblauen Kostüm von ihrem Stuhl auf und ging auf Ingelotte zu.
„Guten Morgen, Frau Abteilungsleiterin. Ich begrüße Sie und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Tätigkeit.“
„Danke“, entgegnete Ingelotte erschrocken, versuchte aber, so gelassen wir möglich zu wirken. Dabei schob sie die über ihre linke Schulter hängende Handtasche so weit wie möglich auf den Rücken, sodass sie von vorne nicht zu sehen war und fragte: „Sie sind Frau Rennrock, richtig?“
„Ja, genau. Ich bin Ihre Sekretärin. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“
„Kommen Sie immer so früh?“
„Nein, heute bin ich ausnahmsweise etwas zeitiger gekommen, um vorzuarbeiten. Mein Vater liegt im Krankenhaus. Ich würde gern etwas eher Feierabend machen und ihn besuchen, wenn Sie einverstanden sind.“
Die Sekretärin war offenbar nicht überrascht, dass der neue Android das Sekretariat so früh betrat.
Ingelotte setzte das freundliche Lächeln auf, das sie unzählige Male vor dem Spiegel geübt hatte: „In Ordnung. Sie können heute früher gehen.“
„Prima, danke“, antwortete Frau Rennrock, ging zu ihrem Schreibtisch zurück und wandte sich einem Stapel von Briefen zu, während Ingelotte ihr Büro durch die Verbindungstür zum Sekretariat betrat, wo sie ihre Tasche sofort neben dem Schreibtisch fallen ließ und erleichtert ausatmete. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
An einen grauen Schreibtisch angebaut war ein kleiner runder Tisch, an dem bis zu fünf Personen Platz fanden. So konnte Ingelotte bei Besprechungen hinter ihrem Schreibtisch sitzen bleiben. Damit wahrte sie auch optisch Distanz zu den Mitarbeitern.
An dem Schreibtisch stand ein mit dunklem Leder gepolsterter Drehstuhl mit breiten Armlehnen.
„Das nenne ich einen Chefsessel“, dachte sie erfreut.
Obwohl die Androiden keine bequemen Stühle benötigten, wurde doch Wert darauf gelegt, den hierarchischen Unterschied bei der Möblierung der Büros sichtbar werden zu lassen.
Ingelotte ließ sich in die Lederpolster fallen, nahm ihre Handtasche vom Boden hoch und zog den Reißverschluss ihrer Tasche auf. Ihr Blick fiel auf die Butterbrottüte und die kleine Wasserflasche. Während eines langen Trainings hatte sie gelernt, mit einem Minimum an Essen und Trinken über den Tag zu kommen. So würde sie keinen Toilettengang brauchen. Ganz wie ein Roboter.
Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen. Die Namen der Mitarbeiter kannte sie längst auswendig. Bloß keine Unsicherheiten zeigen. Darauf kam es für sie an. Heute, an ihrem ersten Arbeitstag, wollte sie beginnen, Pfähle einzuschlagen, wie sie das nannte. Kraft Amtes würde sie den Mitarbeitern aufzeigen, dass sie und nur sie allein das Sagen hatte.
Sie drückte eine Taste auf ihrem Telefon: „Frau Rennrock, veranlassen Sie bitte, dass die Teamleiter um halb neun zur Besprechung bei mir in mein Büro kommen.“
Dem Ringbuch Interne Regelungen auf ihrem Schreibtisch entnahm sie eine wichtige Information: Die Verantwortung lag allein bei den Teamleitern. Diese wiederum hatten die Pflicht, die Vorgesetzen über getroffene Entscheidungen zu informieren und in allen Belangen auf dem Laufenden zu halten. Das kam Ingelotte sehr entgegen, denn sie verfügte über keinerlei Sachkenntnis aus dem Arbeitsgebiet.
Mit den Formalien des Unternehmens hatte sie ihr früherer Chef vertraut gemacht. Sie kannte sie aus dem Effeff. Feste Arbeitszeiten, keine Gleitzeit, Urlaub musste bis zum Jahresende genommen sein, ließ sich nicht auf das nächste Jahr übertragen. Krankmeldungen hatten bis neun Uhr zu erfolgen.
Als sie das Regelwerk zuklappen wollte, fiel ihr Blick auf eine unscheinbare Passage am Ende der aufgeschlagenen Seite: Mitarbeiter sind verpflichtet, ihre direkten Vorgesetzten über Ungewöhnliches, Unstimmigkeiten, Schwierigkeiten zu unterrichten.
Ingelotte seufzte erleichtert: „So ist das gut“, dachte sie. „Den Letzten beißen die Hunde beziehungsweise der Mitarbeiter ist immer Schuld.“