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Kapitel 2

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Ida Sommer kam am nächsten Morgen nach einer kurzen Zugfahrt am Hauptbahnhof von Bilddorf an, der Stadt, in der sich der Hauptsitz der Shirt-Parade befand. Sie stieg aus dem Zug aus und begab sich in die betriebsame Halle, in der zahlreiche Leute mit Gepäckstücken an ihr vorbeiliefen.

Ida, eine achtundzwanzigjährige Frau mit kurzen, blonden Haaren und sehr blauen Augen, kam zum ersten Mal nach Bilddorf. Nach einer kaufmännischen Ausbildung hatte sie einige Jahre in einer kleineren Werbeagentur ihr Brot verdient, wo ihr die Erarbeitung und Umsetzung immer neuer Ideen so viel Spaß machten, dass sie an manchen Abenden gerne länger im Büro blieb, vor wichtigen Aktionen sogar samstags oder sonntags arbeitete. Statt Freizeitausgleich oder Überstundenvergütung gab es von der Geschäftsleitung für die Damen einen Strauß Blumen. Die Herren bekamen eine Flasche Hochprozentiges. Diese Art der Anerkennung war viel persönlicher als die formularmäßige Abwicklung der Mehrarbeit. In so einem Umfeld hatte Ida sich wohlgefühlt. Überhaupt hatte ihr das Arbeiten im Team sehr viel Freude bereitet. Alle Kollegen konzentrierten sich auf die Sache, trugen dazu bei, ein gutes Ergebnis einzufahren. Wenn Etats gewonnen wurden, ging die ganze Mannschaft auf Kosten der Agentur essen, feierte den Erfolg. Man empfand sich miteinander verbunden, identifizierte sich mit der Agentur.

Aber: Nichts währt ewig. Zuerst brach ein großer amerikanischer Kunde weg. Dessen deutsche Niederlassung glaubte, sie könne genauso gut Werbung machen wie die Agentur. Als Nächstes gingen zwei kleine Etats verloren.

Anschließend fand die Fusion mit einer größeren Agentur statt. Danach ging’s jedoch nicht auf-, sondern abwärts bis in die Insolvenz. Seitdem war Ida arbeitslos.

Als sie aus dem warmen Bahnhof auf den Vorplatz trat, umfingen sie Nieselregen und Nebel. Gänsehaut kroch ihre Arme hoch. Sie fröstelte, zog den Gürtel ihres Kamelhaarmantels enger, schlug den Kragen hoch, nahm ein Kopftuch aus ihrer Handtasche, legte es über ihre Frisur, band es unter dem Kinn zu und nestelte ihre braunen Wildlederhandschuhe aus den Manteltaschen. Fast tat es ihr leid, die Handschuhe diesem Wetter auszusetzen, aber blau gefrorene Finger wollte sie nicht haben. Menschen hasteten an ihr vorbei.

„Entschuldigung“, sprach sie einen Mann an, der ein wenig unwirsch aufsah. „Ich suche die Shirt-Parade. Könnten Sie mir wohl sagen, wie ich dorthin komme? Das Gebäude soll ganz nah beim Bahnhof sein.“

„Ja, kann ich Ihnen sagen“, antwortete der Mann. „Sie gehen weiter geradeaus, überqueren die Straße an der nächsten Ampel, biegen sofort links ab. Danach nehmen Sie die zweite Straße rechts. Dann sehen Sie den Bau.“

Ida wollte sich gerade bedanken, da war der Mann bereits verschwunden. Sie lief auf die Ampel zu, hatte aber nicht das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Als sie in die zweite Straße rechts einbog, sah sie das erwartete Gebäude nicht. Sie musste noch einmal fragen, dieses Mal eine junge Frau, die ihr entgegenkam.

„Gehen Sie einfach weiter geradeaus“, antwortete die, ohne stehen zu bleiben. „Überqueren Sie die nächste Straße, links ist die Shirt-Parade.“

„Danke“, murmelte Ida und machte immer größere Schritte. Ein Herumirren fehlte ihr gerade noch! Inzwischen kroch die Angst in ihr hoch, womöglich zu spät zu kommen.

Wäre ich doch bloß einen Zug eher gefahren. Ich hätte nur zwanzig Minuten früher von zu Hause weggehen müssen, ärgerte sie sich. Hätte sie den Termin nur wichtiger genommen!

Während sie dem Weg folgte, den ihr die Frau beschrieben hatte, wurde es immer nebliger. Wasser tropfte von kahlen Baumästen, traf Ida im Gesicht oder auf dem Kopf, durchnässte das Kopftuch. Sie zuckte jedes Mal zusammen.

Beim Überqueren der nächsten Straße erkannte Ida die blaue Leuchtschrift Shirt-Parade auf der linken Seite. Erleichtert atmete sie aus, blieb stehen. Trotz des schlechten Wetters wirkte der weiße Bau ehrwürdig, sah mit den Bäumen, die davor standen, ein wenig aus wie ein Kurhotel, wenn man sich hinter den großen Schaufenstern des Erdgeschosses Caféhaustische vorstellte. Ida zählte fünf Etagen, während sie auf die Tür mit der Beschriftung Personaleingang zuging. Dort angekommen drückte sie gegen die Tür, es machte Klack und mit Ida schwappte ein kalter Hauch Luft in eine Halle mit Empfangstresen, an dem, wie Ida auf den ersten Blick erkannte, die Büroschlüssel ausgegeben wurden.

Überrascht schaute sie zur Decke. Wie viele Meter mochte sie wohl hoch sein? Zehn oder fünfzehn? Wie in einer Kirche war sie ausgemalt. Frühjahrsszenen. Frische, grüne Pflanzen, Knospen – ein schwebender Park gewissermaßen. Ida riss sich von dem Anblick los, schaute sich um, sah Sitzgruppen aus lindgrünen Sesseln, die Leichtigkeit ausstrahlten. Ein paar Männer standen diskutierend im Kreis. Direkt gegenüber der Eingangstür erkannte sie zwei Aufzüge, vor denen Menschen warteten. Ihr Blick fiel auf den Empfangstresen. Von dort lächelte sie ein grauhaariger, älterer Mann in einer dunkelgrünen Uniform einladend an. Davon angezogen ging Ida auf ihn zu, sagte: „Guten Tag“, begann, im Innenteil ihres Mantels zu suchen.

„Guten Tag, meine Dame“, erwiderte der Mann. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte zur Personalabteilung, zu ...“ Ida entfaltete den Brief, den sie inzwischen aus dem Mantel gezogen hatte: „Zu Frau Mittler.“

Mit diesen Worten reichte sie das Schreiben über den Tresen. Der Empfangsherr zog ein Abreißblöckchen von rechts herbei, notierte Idas Namen. Dann riss er das Zettelchen aus dem Block heraus, steckte es in eines der Plastik-Ausweismäppchen, die gestapelt links neben ihm lagen, und reichte es ihr.

„Den Ausweis müssen Sie während Ihres Besuchs immer sichtbar an Ihrer Kleidung tragen. Die Personalabteilung befindet sich in der ersten Etage. Frau Mittler finden Sie in Raum 111. Nehmen Sie den Aufzug rechts.“

Ida tat, wie ihr geheißen. Sie betrat den Aufzug. Sofort schlossen sich die Türen, leise Musik setzte ein - wie eine Art roter Teppich für die Ohren, fand sie, während sie nach oben schwebte, wo sich der Lift automatisch öffnete.

Sie trat hinaus auf dunkelgrauen Nadelfilz in einen hell er-leuchteten, weitläufigen Flur. Gegenüber dem Aufzug sah sie eine Säule, an der Raumnummern aufgelistet waren. Daneben standen die Bezeichnungen der Abteilungen der Shirt-Parade auf der Etage. Ida ging in Richtung Personalabteilung. Am Ende des Ganges stand sie schließlich vor Raum 111. Sie klopfte zaghaft an, erschrak, als die Tür mit einem regelrechten Donnern widerhallte. Es ertönte ein lautes: „Herein.“

Sie öffnete und ging hinein. Eine schlanke Frau in mittleren Jahren mit tadellos hochgesteckten braunen Haaren schaute sie an: „Ja?“

„Guten Tag. Ich bin Ida Sommer und bin mit Herrn Eberhard verabredet. Telefonisch hatten wir uns schon verständigt.“

„Guten Tag, Frau Sommer. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Sie sehen ja ganz durchnässt aus. Sind Sie weit gelaufen?“

„Vom Bahnhof, aber wohl nicht den kürzesten Weg.“

„Na, kommen Sie. Ich helfe Ihnen aus dem Mantel, dann nehmen Sie Platz und trinken erst einmal eine Tasse Kaffee zum Aufwärmen. Soviel Zeit muss sein.“

Ida dankte, setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle und genoss den Kaffee. Sie fühlte sich sofort gut aufgehoben. Frau Mittler kopierte ihre Zeugnisse, rief Klaus Eberhard an, erklärte Ida, wo sich sein Büro befand. Der Mann stand händefuchtelnd davor, kam sogleich auf Ida zu, umfasste ihre Rechte mit beiden Händen und schüttelte sie kräftig: „Ganz herzlich willkommen.“

„Danke“, antwortete Ida, die versuchte sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Klaus Eberhard vermittelte ihr das Gefühl, ihn schon jahrelang zu kennen. Er war um die Vierzig. Sein rundes Gesicht wurde von vollen, blonden Haaren wie von einer Wollmütze umschlossen. Ida fand sein Lächeln außerordentlich sympathisch.

Bereits am Telefon hatte der Mann ihr den Eindruck vermittelt, ein sehr lebhafter Typ zu sein. Das Gefühl verstärkte sich. Sie begann, sich zu entspannen. Ihre innere Unruhe vor dem Unbekannten, das auf sie zukam, ließ merklich nach.

„Kommen Sie in mein Büro. Dort steht Kaffee für Sie bereit“, sagte er, während er vorausging. Er führte Ida in einen großen, holzgetäfelten Raum. Auf dem Filzboden lag ein Perserteppich, alt zwar, aber trotzdem schön. Das Büro roch angenehm nach Wald.

„Setzen Sie sich doch“, sagte Eberhard und hob die Kaffeekanne hoch. Ida nickte zustimmend, obwohl sie gerade erst bei Frau Mittler eine Tasse getrunken hatte. Sie hörte, wie der Regen an die Scheiben prasselte. Da war sie ja gerade noch rechtzeitig in der Shirt-Parade angekommen. Sogar ohne Schirm war sie von zu Hause losgegangen! Das Kopftuch hätte ihre Frisur auf jeden Fall nicht geschützt. Sie wäre hier wie ein begossener Pudel angekommen.

„Willkommen im besten Unternehmen, das weit und breit zu finden ist“, mit diesen Worten hob Eberhard seine Tasse, prostete Ida sozusagen zu. „Wir hatten ja am Telefon ausführlich über die Tätigkeiten gesprochen, die Sie hier erwarten.“

„Ja, das Aufgabengebiet sagt mir absolut zu.“

„Gut. Ich fürchtete schon, Sie hätten es sich womöglich anders überlegt. Wir brauchen Sie so schnell wie möglich. Sie könnten vom nächsten Montag an kommen? Habe ich das richtig in Erinnerung?“

„Ja, genau.“

„Gut, das habe ich so auch der Personalabteilung mitgeteilt. Die schließt mit Ihnen zuerst einen befristeten Aushilfsvertrag ab, danach den richtigen, der den Betriebsrat passieren muss. Bis nächste Woche wäre das nicht zu schaffen.“

Klar konnte Ida sofort anfangen. Sie war ja arbeitslos.

Angesprochen von der recht kleinen Anzeige der Shirt-Parade hatte sie sich deshalb sogar weit weg von Bushausen beworben. Jeden Tag mit dem Zug zu fahren, das würde kein Zuckerschlecken werden. Sie wunderte sich über die Dringlichkeit, mit der ihre Arbeitskraft offenbar erwartet wurde. Jetzt, reichlich spät, fragte sich Ida, worauf sie sich da eigentlich einließ.

Als ob er Gedanken lesen konnte, sagte Eberhard: „Wir mussten einem Mitarbeiter fristlos kündigen. Wir schaffen es nicht ohne ihn.“

Ida schaute den Mann fragend an.

„Ja, das ist der, der vor einigen Tagen tot aufgefunden wurde. Davon haben Sie sicherlich in der Zeitung gelesen. Der Ärmste. Er litt unter enormen privaten Problemen, seit Langem. So ist er wohl zur Ruhe gekommen. Lutz Beyer war sein Name.“

Ida nickte stumm, fragte: „Ich trete also die Nachfolge dieses Mannes an?“

„Ja.“

„Aha. Wie wär’s, wenn Sie mir mein Büro zeigen würden?“

Ida Sommer wurde Assistentin von Gerlinde Alexander, der Leiterin des Teams, das die Dekoration von Schaufenstern und Verkaufsräumen, die Anzeigenwerbung, Zeitungsbeilagen, die Informationsrundschreiben an Stammkunden sowie sonstige verkaufsfördernde Maßnahmen bearbeitete. Die Frau war kräftig und robust, sie arbeitete offenbar gern im Team und löste Probleme, wie sie sagte „pragmatisch“, anstatt ewig darüber zu diskutieren. Sie würden gut miteinander auskommen, das merkte Ida sofort.

An ihrem ersten Arbeitstag fand Ida auf ihrem mausgrauen Schreibtisch einen Schreibblock. Als sie ihn aufschlug, entdeckte sie unten auf den Blättern den Aufdruck: Wer lächelt, hat mehr vom Leben. Sie fand noch ein internes Telefonverzeichnis, Büroklammern und Tesafilm, aber nirgendwo einen Schreibstift. So ging sie in den Keller, zur Materialausgabe, um sich mit Kugelschreibern einzudecken.

Wie die meisten ihrer neuen Kollegen, ließ auch Ida ihre Bürotür offen stehen. Deshalb bekam sie bereits an ihrem zwei-ten Arbeitstag mit, wie der Stellvertreter von Klaus Eberhard, Ernst Zieher, Gerlinde Alexander immer wieder anrief, um irgendetwas zu bemängeln. Einmal hatte er jemanden aus dem Team telefonisch nicht erreicht, beschwerte sich, weil das Telefon ständig unbesetzt sei, ein anderes Mal war irgendwer angeblich nicht freundlich zu ihm gewesen.

Das ist ein richtiger Stänkerer, dachte Ida und hoffte, dass er nur das und kein intriganter Mobber war, der Gerlinde Alexander fertig machen wollte, denn in dem Fall hätte die nette Frau auf die Dauer keine Chance gehabt, hier beruflich zu überleben. Ida zuckte bei dem Gedanken innerlich zusammen, fragte sich einmal mehr, worauf sie sich hier einließ.

Während der folgenden zwei Wochen lernte Ida ihre neuen Kollegen kennen, ließ sich hier und da auf einen Plausch ein. Als sie nicht mehr das Gefühl hatte, als „die Neue“ betrachtet zu werden, begann sie vorsichtig, sich nach ihrem Vorgänger zu erkundigen. Warum die fristlose Kündigung? Wegen oder trotz seiner privaten Probleme? Immerhin galt die Shirt-Parade als sozial eingestellt.

Ida verfügte über eine kameradschaftliche Art, die Gesprächspartnern normalerweise die Befangenheit nahm. In diesem Fall erwies es sich aber als schwieriger, etwas herauszubekommen, als sie es sich vorgestellt hatte. Über den toten Kollegen mochten die Meisten nicht sprechen.

Als Ida einen Monat bei der Shirt-Parade beschäftigt war, erschien eines Morgens Albert Kragen in ihrem Büro, ein etwa fünfzigjähriger, rundlicher Kollege, der beim Auftreten merkwürdig zu federn schien. Er erinnerte an einen Ball auf zwei Beinen. Sein dunkles Haar war bereits etwas schütter, sein Gesicht pausbäckig. Zwei braune, ehrliche Augen schauten daraus hervor. Ida fasste bei der ersten Begegnung sofort Vertrauen zu ihm.

Albert Kragen führte seit einem Monat das Team Statistik, das unter anderem die Verkaufserfolge des Teams erfasste und auswertete, in dem Ida arbeitete. Er sagte, dass er in der folgenden Woche seine Beförderung feiern wollte, und fragte Ida, ob sie zu ihrem Einstand einen ausgeben wollte. Dann könnten sie sich nämlich zusammenzutun.

„Ist ein Abwasch“, meinte er.

„Ja. Ich möchte gern meinen Einstand geben und uns zusammenzutun, ist eine gute Idee“, freute sich Ida. „Sollen wir ein Frühstück ausgeben oder was hast du dir vorgestellt?“

„Ich hatte an ein Frühstück gedacht, damit fängt der Tag gut an, alle sind noch unbelastet und stehen nicht unter Zeitdruck.“

„Das stimmt“, erwiderte Ida, riss ein Blatt von dem Schreib-block ab und schob es über ihren Schreibtisch. „Nimm dir den Besucherstuhl“, forderte sie den Teamleiter auf und schob ihm noch einen Kugelschreiber hinüber. Als der Kollege den Aufdruck auf dem Papier sah, grinste er Ida breit an.

„Lächeln, steht da, lächeln!“, rief Ida heiter.

„Na gut. Das muss ich noch üben. Dann wollen wir mal auf-schreiben, wer was besorgt.“

Als sie fertig waren, faltete Albert Kragen seine Notizen erleichtert mit den Worten zusammen: „So, das wäre geschafft“, lehnte sich entspannt zurück, lächelte Ida zu und fragte freundlich: „Wie gefällt es dir hier nach dem ersten Monat?“

„Ich bin ganz zufrieden“, meinte Ida. „Ich habe mich schnell einarbeiten können, weil mich die Kollegen sehr unterstützt haben, und wie ist es dir in deiner neuen Funktion als Teamleiter ergangen?“

„Na ja, bis jetzt war es schon ganz schön anstrengend. Hin und wieder habe ich bereut, dass ich mich habe breitschlagen lassen, den Job anzunehmen.“

„Ach? Du hast dich darauf gar nicht beworben?“

„Nein. Ich hatte mir den Posten nicht zugetraut und mich deshalb auch nicht beworben, aber als Lutz dann ausfiel ...“

„Lutz Beyer?“

„Ja. Der sollte die Stelle antreten.“

„Ach?“, meinte Ida verblüfft, aber Albert Kragen, der eben noch den Eindruck gemacht hatte, alle Zeit der Welt zu haben, wollte das Thema offenbar nicht vertiefen, erhob sich hastig, sah auf seine Armbanduhr, sagte: „Ich muss jetzt aber“, und eilte aus Idas Büro, ehe sie ihn noch etwas fragen konnte.

Ida sah nachdenklich zur Decke. Dann wird Lutz Beyer bestimmt nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein, denn wer bewirbt sich auf eine höherwertige Stelle und bringt sich um, wenn er sie bekommt, dachte sie. Dabei spürte sie eine Gänsehaut auf den Armen.

Für ihre Feier hatten Ida und der Teamleiter den langen Tisch im Besprechungsraum der Abteilung mit einem üppigen Frühstück eingedeckt. In der Mitte stand ein großer runder Teller, auf dem sich Ecken von Honigmelonen mit Parmaschinken türmten. Um diesen Teller herum waren weitere angeordnet mit geräuchertem Lachs und Forellenfilets, Goudascheiben, Brie und Weintrauben, Leberwurst, Blutwurst, kleinen Gürkchen, mit rohem und gekochtem Schinken und mit Tomatenecken. Dann gab es vier Schüsseln. Eine mit kleinen Frikadellen, eine mit Mett und Zwiebelringen, eine mit Eier- und eine mit Reissalat. Vollkornbrot, Graubrot, Baguette und verschiedene Brötchensorten fehlten ebenso wenig wie Butter, Marmelade, Orangensaft und Kaffee.

In dem Sitzungsraum konnten die Kollegen ihre Teller und Gläser nur auf dem Sideboard auf der einen Seite oder auf dem Fensterbrett auf der anderen Seite abstellen. Wem das zu eng war, der konnte zu einem der drei Stehtische ausweichen, die auf dem Flur an der Wand entlang aufgestellt worden waren. Der frische Duft der Melonen erfüllte den Raum. Ab zehn Uhr standen Ida und Albert Kragen vor der Tür des Besprechungs-raums, um die nach und nach eintrudelnden Kollegen zu begrüßen und amüsierten sich bald, wie diese schnupperten, wenn sie den Raum betraten.

„Wir stammen nicht vom Affen ab“, flüsterte Albert Kragen schließlich, „sondern vom Hund.“

Als die Meisten da waren und es sich schon gut schmecken ließen, kam Ernst Zieher, der Stellvertreter von Klaus Eberhard: ein mittelgroßer, muskulös wirkender Mann, dessen schwarzes Haar beneidenswert glänzte. Zum ersten Mal konnte ihn Ida richtig mustern. Der Mann verließ nämlich sein Büro so gut wie nie, ließ sich eher selten sehen. Er war charmant, stellte sie fest. Sein Lächeln wirkte ungemein anziehend.

Klarabella Ebert, seine Sekretärin, folgte ihm sozusagen auf den Fuß. Sie musste um die Fünfzig sein, trug ihr ergrautes Haar zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Angezogen war sie konservativ mit Rock und Bluse, unauffällig, grau. Sogar ihr recht glattes Gesicht wirkte grau. Wer zu Zieher wollte, kam an ihr nicht vorbei. Die Frau kam morgens vor allen anderen, zur Mittagspause blieb sie in ihrem Büro, um ein Butterbrot zu essen, abends ging sie als Letzte. Sie sorgte regelmäßig für Verärgerung unter den Kollegen, indem sie Mängel an den Arbeiten der Sachbearbeiter feststellte.

Zeigten die Betroffenen keine Einsicht, wies sie ihren Chef darauf hin, der sich grundsätzlich ihrer Auffassung anschloss und für kein Gegenargument offen war.

„Jetzt können wir uns wohl auch zum Büffet begeben“, schlug Ida vor, als sie sah, dass auch Klarabella Ebert zugriff.

„Klar, die Nachzügler können wir immer noch begrüßen. Mir knurrt schon der Magen“, stimmte Albert Kragen zu und ging zum Brötchenkorb, während Ida sich einen Kaffee eingoss und ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Entlang der Fensterfront und des Sideboards hatten sich Grüppchen gebildet, die angeregte Unterhaltungen führten. Vom Gang drang Gelächter in den Raum. Die Stimmung war gut, stellte Ida zufrieden fest. Sie fuhr sich gedankenverloren mit der Hand durch die Haare, als ein dunkel gelockter Typ hereinplatzte und schnurstracks auf Zieher zuging, der bei den Orangensaftflaschen stand. Die beiden begrüßten sich wie alte Kumpels.

Ida sah sich nach Albert Kragen um, zwängte sich durch die Kollegen zu ihm und fragte: „Arbeitet der auch hier?“ Dabei wies sie mit dem Kinn zu dem ihr unbekannten Mann.

„Nein. Das ist ein Designer, Harald Domba, steinreich, hat eine Villa mit zwei Swimmingpools. Zwei wohlgemerkt. Er ist der Inhaber der Agentur Happybild.“

„Ach, das ist doch die, die unsere Faltblätter gestaltet. Sieh mal, aus seiner Weste hängt eine schwarze Kordel heraus. Wenn er nicht aufpasst, landet sie in den Salaten.“

„Die gehört wahrscheinlich zu seinem Fotoapparat. Ohne den ist er nicht anzutreffen. Der will bestimmt ein paar Aufnahmen machen. Übrigens malt er, allerdings unter einem Pseudonym, Hadom.“

„Das habe ich schon mal gehört, kann es aber nicht zuordnen.“

„Zurzeit läuft eine Ausstellung. Darüber stand bestimmt etwas in der Zeitung. Er malt vorwiegend Kinderporträts. Ich finde die kitschig. Na ja.“

„Die Geschmäcker sind halt verschieden“, meinte Ida, zupfte gleich darauf am Hemdärmel ihres Kollegen: „Nun sieh sich das einer an! Es ist nicht einmal elf Uhr! Zieher und dieser Typ kippen sich, natürlich ganz unauffällig, Schnaps in ihre Saftgläser!“

„Ja, die kleinen Fläschchen hat der Domba immer bei sich, auch dafür braucht er die Jacke mit den vielen Fächern. Von jetzt an wird Zieher nicht mehr von seiner Seite weichen. So, noch einen Spritzer Zitrone vom Lachsteller, dann die obligatorischen Eiswürfel aus dem Saftkühler. Die dürfen auf keinen Fall fehlen, denn auf denen kaut der Domba gleich her-um.“

„Igitt. Bei dem Gedanken tun mir ja die Zähne weh. Schnaps am Morgen! Die Herren sind wohl einiges gewöhnt, oder?“, fragte Ida, bevor sie den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse trank.

„Was so ein richtiger Künstler ist ...“

„Zieher ist doch wohl kein Künstler! Außerdem: Wer hat den Domba eigentlich eingeladen, zu unserer Feier?“

„Ich schätze mal, der ist rein zufällig heute gekommen.“

„Also gehe ich mich mal ganz zufällig vorstellen.“

Ida spazierte durch die essenden und plaudernden Kollegen hindurch bis zum Büffet. Hier nickte sie Zieher zu, wandte sich dann an Domba: „Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich bin Ida Sommer.“

„Angenehm, Frau Sommer. Ich bin Harald Domba. Meine Agentur Happybild gestaltet die Werbeprospekte für die Shirt-Parade.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Domba.“

„Ich beglückwünsche Sie, die Shirt-Parade als Arbeitgeber ausgesucht zu haben. Eine gute Wahl. Wenn ich gewusst hätte, dass hier heute Ihr Einstand stattfindet, hätte ich natürlich ein Fläschchen Schampus mitgebracht, aber das wird nachgeholt, versprochen! Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich zu Ihrer Feier gekommen bin.“

„Ganz und gar nicht. Greifen Sie zu, lassen Sie es sich gut gehen. Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.“

Ida legte sich ein paar Häppchen auf einen Teller, schaute die beiden Männer lächelnd an, bevor sie sich verabschiedete: „Ich werde mal weiterziehen und wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, meine Herren.“

Vorsichtig balancierte Ida den Teller an den Kollegen vorbei. Dabei drangen Wortfetzen an ihr Ohr: „Der Lutz wollte die Stelle auf gar keinen Fall antreten“, hörte sie plötzlich, blieb wie elektrisiert stehen. Dabei tat sie so, als sei ihr etwas heruntergefallen, was sie auf dem Boden zu entdecken suchte.

„Warum hat er sich denn eigentlich beworben?“, fragte jemand.

„Weißt du das denn nicht? Der hat sich doch auf jede höherwertige Stellenausschreibung beworben, nur damit man ihm nicht Desinteresse nachsagen konnte.“

„Tatsächlich? Finde ich ja eigenartig. Übrigens, wo steckt denn eigentlich unser Abteilungsleiter?“

Ida ging weiter, merkte, dass die Gespräche verstummten und drehte sich deshalb um. Klaus Eberhard kam gerade, wedelte in der ihm eigenen Art mit den Armen, und dann trat eine unbekannte, junge Frau mit schier endlos langen, glatten, rotblonden Haaren neben ihn.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen“ rief er. „Bitte entschuldigen Sie mein spätes Erscheinen, aber Sie werden es mir bestimmt nachsehen. Ich hatte noch ein Gespräch mit Frau Beck zu führen.“

Nun wies er mit beiden Händen auf die Frau. „Das ist Tanja Beck, die unsere Abteilung für vier Monate, vorerst jedenfalls, verstärken wird. Sie vertritt meine Sekretärin, Frau Barth, die bekanntlich in der vergangenen Woche ihren Mutterschaftsurlaub angetreten hat.“

Ida ging sofort auf sie zu. „Herzlich willkommen. Ich bin Ida Sommer und arbeite seit einem Monat in dieser Abteilung. Heute gebe ich meinen Einstand zusammen mit dem Kollegen Albert Kragen, der seine Beförderung feiert. Den stelle ich Ihnen gleich vor. – Oder sollen wir Du sagen?“

„Klar. Wir sagen Du.“

Ida führte die neue Kollegin herum, stellte ihr einige Kollegen vor, und dann gingen die beiden Frauen ans Büffet. Mit voll beladenen Tellern begaben sie sich anschließend auf dem Gang an einen der Stehtische und stellten bald fest, dass sie einiges gemeinsam hatten. Sie waren im gleichen Alter, Singles, teilten dieselbe Einstellung zu ihrer Arbeit.

Beide wollten für ihr Gehalt gute Leistung abliefern, Tätigkeiten ausüben, die ihnen Freude bereiteten. Immerhin verbrachten sie die meiste Zeit des Tages am Arbeitsplatz, und da gab es noch eine Gemeinsamkeit: Sie hatten Arbeitslosigkeit kennen gelernt. Sie wussten genau, wie schlimm es sich anfühlte, nicht gebraucht zu werden, keine Aufgabe zu haben, unfreiwillig in den Tag hinein zu lungern, ohne Ziel.

Als das Büffet recht gerupft aussah und einige Kollegen wie-der an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt waren, ging Ida zu Albert Kragen, der am Fensterbrett lehnte und an seiner Kaffeetasse nippte. Sie lächelte ihn freundlich an und ohne, dass sie es wollte, schoss die Frage aus ihrem Mund: „Gab es eigentlich einen besonderen Grund, Lutz Beyer den Zuschlag für deine Stelle zu geben?“

„Den besten, den man sich denken kann.“

„Wie jetzt?“, starrte Ida den Teamleiter an. Sie konnte sich nicht erklären, wieso sie ihm aus heiterem Himmel diese Frage gestellt hatte und wunderte sich, dass er sie auch noch ohne zu zögern beantwortete.

„Der verstorbene Kollege ging bei Zieher ein und aus, hat ihm jede seiner Arbeiten zur Begutachtung vorgelegt und ihn vor jeder Entscheidung um Rat gefragt. Mehr Loyalität ging nicht.“

Das unsichtbare Tor

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