Читать книгу Das unsichtbare Tor - Brigitte Regitz - Страница 8

Kapitel 6

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Angetrieben von innerer Unruhe lief Ida nach dem Gespräch mit Frau Höpfner ziellos durch die Straßen, bis sie Hunger und Durst spürte. Links um die Ecke war das Café Karl, fiel ihr ein, dort könnte sie einkehren. Ida legte einen Schritt zu. Jetzt hatte sie ein Ziel. Sie ging vorbei an einem üppig dekorierten Schaufenster: Marzipantorten, Baumkuchen, Tüten mit feinem Gebäck und handgemachte Pralinen lagen auf dunkelrotem Samt und wetteiferten um die Gunst der Kunden.

Als Ida die Tür öffnete, kam ihr angenehm warme Luft entgegen, die nach Kaffee duftete. Sie entdeckte einen unbesetzten, kleinen, runden Tisch, nahm daran Platz und begann, am Reißverschluss ihrer Jacke zu nesteln, aber dieses Mal öffnete er sich ganz problemlos. Sie hängte den Anorak über die Stuhllehne und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer auf dem Stuhl an. In diesem Augenblick tauchte neben ihr eine freundlich lächelnde Bedienung in schwarzer Kleidung mit kleinem weißen Spitzenschürzchen auf. Wie anno dazumal, dachte Ida und bestellte eine heiße Schokolade und eine Waffel mit Sahne.

Während sie auf ihre Bestellung wartete, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Ida wusste einfach nicht, wie sie sich verhalten sollte. Plötzlich kam ihr die Idee, abzuwarten, bis sich niemand mehr in der Shirt-Parade aufhielt, auch die Putzfrauen wieder gegangen waren, um in das Gebäude zurückzukehren und nach Tanja zu suchen. Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, spürte sie die Anspannung von sich abfallen, merkte, wie sich Energie in ihr aufbaute und so genoss sie ihre Waffel und die Schokolade, bestellte sich anschließend noch einen Kaffee, verließ das Café, als sie sicher war, in der Shirt-Parade niemanden mehr anzutreffen.

Um ungesehen in das Haus zu gelangen, betrat sie es durch die Garageneinfahrt. Das ging ganz einfach. Zum Öffnen des Gittertors musste sie lediglich ihren Hausausweis als Schlüssel benutzen. Ob sie dabei in einem Auto saß oder als Fußgängerin daherkam, interessierte den Mechanismus nicht, er rollte das Tor hoch. Ida schlüpfte hinein. Es schloss sich automatisch wieder, nachdem sie durch die Lichtschranke gegangen war.

Nachts brannte nur eine Notbeleuchtung. Ida blieb eine Weile stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie ihre Umgebung erkennen konnte. Sie lief über die inzwischen leeren Parkflächen bis zum Aufzug, nahm aber die daneben hochführende Treppe. Sollte doch noch jemand in dem Gebäude sein, wollte sie dessen Aufmerksamkeit nicht erregen. Die Fahrstuhlbenutzung hätte Geräusche verursacht, die Anzeige auf dem Display hätte verraten, wo er sich bewegte.

Im Treppenhaus brannten nur die grünen Fluchtweg-Lampen, die kaum Licht verbreiteten. Es war praktisch stockdunkel, stellte Ida erschrocken fest. Sie tastete sich bis zum Geländer, griff mit der rechten Hand danach. Sollte sie ins Straucheln geraten, hätte sie Halt.

Stufe für Stufe schob sie ihre Füße vor, bis sie an die Kante stieß. So konnte sie nicht daneben treten und abrutschen, aber es würde lange dauern bis zur fünften Etage.

Ida zählte die Stockwerke. Endlich stand sie vor der richtigen Tür. Sie schob sie auf. Als sie den Flur zu den Büros betrat, sprang sofort die Beleuchtung an. Den Bewegungsmeldern konnte sie nur ein Schnippchen schlagen, wenn sie an einer Stelle für längere Zeit ruhig stehen blieb. Hastig lief sie den Gang entlang. Hinter den Bürotüren würde sie Tanja nicht finden. Sie riss die Türen zu den Waschräumen auf, kontrollierte die Toilettenräume, dann den Fotokopierraum, im Grunde unsinnig, fand sie. Dort gingen die Kollegen ein und aus, wie sollte da jemand versteckt gehalten werden?

Neben der sogenannten Teeküche, die allen Angestellten zugänglich war, befand sich eine größere, richtige Küche. Bei wichtigen Besprechungen wurden hier Speisen warmgehalten, Kaffee in größeren Mengen gekocht oder kalte Platten bis zum Servieren abgestellt. An der Tür dieses Raums blieb Ida stehen, lauschte. Sie rührte sich nicht, sodass nach einer Weile das Licht erlosch. Zögerlich klopfte Ida an die Tür. Das Klopfen kostete sie Überwindung. Irgendwie fürchtete sie sich vor einer überraschenden Reaktion, aber es gab keine Antwort, alles blieb still. Sie klopfte noch einmal, dieses Mal fester. Wieder nichts. Wäre auch unwahrscheinlich gewesen, wenn dort eine Person gefangen gehalten würde, sagte sie sich nun.

Verzweifelte Ratlosigkeit machte sich in Ida breit. Sie beschloss, sich im Keller umzusehen. Dort befanden sich die Lagerräume der Abteilungen für alte Akten, Büromaterial, ausrangiertes Mobiliar. Sie benutzte wieder das Treppenhaus. Das Hinuntergehen war noch mühseliger als das Heraufsteigen, denn die Gefahr zu stürzen war dabei besonders groß. Ida schob ihre Füße immer halb über die Stufenkante, bevor sie auf die darunterliegende Stufe trat. So gelangte sie nach einer Ewigkeit in den Keller.

Dort angekommen, erkannte sie die Sinnlosigkeit ihres Handelns. Eine mitten im Gang angebrachte Dauernotbeleuchtung spendete so viel Licht, dass die Gitterabtrennungen in diesem Bereich deutlich erkennbar waren. Wer würde dort jemanden einsperren?

Wo konnte sie jetzt noch suchen? Es blieb nur die Garage. Dorthin gelangte sie durch eine Tür am Ende des Kellergangs, die sie vorsichtig öffnete, und lautlos hinter sich schloss. Ida blieb regungslos stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Sie lief den gesamten Parkraum ab, entdeckte aber keine einzige Möglichkeit, einen Menschen zu verstecken. Das Tor bei den Geschäftsleitungsparkplätzen konnte sie nicht entdecken. Es sah in geschlossenem Zustand genauso wie die übrige Wand aus. Ratlos sah sie um sich, verließ schließlich resigniert das Gebäude über die Ausfahrt, an der sie lediglich einen Knopf drücken musste, damit sich das Tor öffnete. - Wo mochte Tanja nur sein?

Nach einer Nacht, in der sie fast keinen Schlaf gefunden hatte, fuhr Ida am nächsten Morgen nach Bildberg zur Shirt-Parade. Voller Unruhe und Angst um Tanja nahm sie an ihrem Schreibtisch Platz. Für ihre Kollegen brach ein Tag wie jeder andere an, aber bis zum Nachmittag sollte sich das ändern.

„Trari, trara, der Domba von Happybild ist wieder da!“ Mit einer Flasche Champagner in der Hand kam der Designer in Idas Büro spaziert, die sogleich aufstand und hinter ihrem Schreibtisch hervor kam. Seine dunklen Locken berührten fast die Schultern. Er steckte in einem schwarzen Hemd. Ida fragte sich einmal mehr, warum die Kreativen so einen Hang zu Schwarz hatten. Mehr gequält als erfreut bedankte sie sich, auch im Namen der Kollegen, denn sie beabsichtigte nicht, sich wegen der Flasche Ärger mit Lotte einzuhandeln, wegen Vorteilsnahme oder was immer die sich ausdenken mochte.

Wo Domba auftauchte, konnte Zieher nicht weit sein - und richtig! Sekunden später marschierte der ebenfalls in Idas Büro, grüßte sie kurz, sagte zu Domba gewandt: „Wir werden erwartet. Frau Lotte schätzt keine Unpünktlichkeit“, drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Der Designer sah Ida bedauernd an, sagte: „Ja, dann bis später“, und eilte hinter Zieher her.

Etwa eine Stunde später sah Ida auf dem Weg in den Waschraum vor sich auf dem Flur Lotte, Zieher und Domba, die sich intensiv zu unterhalten schienen. Und plötzlich: Schwupp, fiel ein kleines Heft oder so etwas aus Lottes Jackentasche auf den Boden, ohne dass sie es merkte. Ida ging darauf zu, nahm es hoch. Als sie aufsah, waren die drei um die Ecke gebogen. Neugierig schlug sie das Mäppchen auf, las: Privat!

Wie vom Blitz getroffen, fuhr Ida zusammen. Für einen Augenblick konnte sie sich nicht rühren, konnte kaum atmen. Mit einer Hand hielt sie das Mäppchen umkrampft, während sie versuchte, ruhiger zu werden, ihre Aufgeregtheit zu beherrschen. Was sollte sie tun? Lotte würde ihr auf jeden Fall unterstellen, die Papiere gelesen zu haben, also konnte sie sie ihr nicht geben. Sollte sie sie auf den Boden fallen lassen? Dann würde jemand anderes das Mäppchen finden. Nein! Das kam gar nicht infrage. Dazu war Ida jetzt viel zu neugierig, wollte unbedingt wissen, was in den Papieren stand. Sie drehte sich auf dem Absatz um, ging in ihr Büro, setzte sich auf ihren Drehstuhl, blätterte das Heft auf, fuhr so erschrocken zusammen, als ihr Telefon klingelte, dass sie regelrecht vom Stuhl hochsprang. Schnell zog sie eine Schublade auf, warf das Mäppchen hinein, schob die Schublade wieder zu und ging ans Telefon.

Als Ida den Telefonhörer wieder auflegte, wusste sie, sie konnte diese Unterlagen nicht im Büro studieren. Das hielten ihre Nerven nicht aus. Sie musste das Heft mit nach Hause nehmen und so steckte sie es in ihre Handtasche.

Auf dem Weg in die Mittagspause kam ihr Karola Schmidt entgegen, eine Kollegin, die sich mit buntem, glitzerndem Modeschmuck nur so behängte. Ida pflegte keinerlei Kontakte zu ihr. Man grüßte sich, mehr nicht. Dieses Mal aber winkte die Frau von weitem. Dabei sah Ida einen roten Riesenstein an ihrer Hand funkeln und fragte sich, ob sie den Ring wohl aus einer Wundertüte hatte. Die Frau blieb bei Ida stehen und fragte: „Haben Sie das schon mitbekommen?“

„Was denn?“

„Lotte führt an den Aufzügen eine Handtaschenkontrolle durch.“

„Was? Das gibt es doch gar nicht!“

„Hätte ich auch nicht für möglich gehalten, obwohl man bei der ja vor Überraschungen nicht sicher sein kann. Man kommt sich vor wie ein Dieb.“

„Was berechtigt Lotte denn, Handtaschen zu durchsuchen?“, fragte Ida irritiert, zählte drei Ketten, die vom Hals der Kollegin herunter baumelten. Eine war, garantiert, aus falschen Perlen, die anderen beiden sahen golden aus, waren aber bestimmt auch nicht echt.

„Sie behauptet, es sei etwas aus ihrem Büro gestohlen worden.“

Ida ging langsam weiter, bis die Kollegin außer Sichtweite war, kehrte dann in ihr Büro zurück, setzte sich auf ihren Drehstuhl vor dem Schreibtisch und stützte das Kinn nachdenklich in die Hände. Lotte suchte mit Sicherheit die Papiere, die in ihrer Handtasche steckten. Dort konnten sie also nicht bleiben. Wo aber ließen sie sich sicher verstecken? Im Schrank? Nein. Wenn Lotte ihr Heft jetzt nicht finden würde, kam sie womöglich auf die Idee, die Büros zu durchsuchen.

Also, hinter einem Toilettenspülkasten? Nein. Da konnten die Papiere herausrutschen. Außerdem waren die Unterlagen dann außerhalb ihrer Kontrolle. Solch ein unsicheres Versteck konnte sie nicht brauchen. Bei Lotte selbst im Büroschrank? Da würde sie ja wohl auf keinen Fall suchen. Allerdings konnte sie das Heft dort unter Umständen zufällig finden. Zudem könnte es sich als schwierig erweisen, das Heftchen dort wieder wegzunehmen. Schließlich hatte Ida in Lottes Büro nichts zu suchen. Das ging also genauso wenig, obwohl sie die Vorstellung, dass Lotte Unterlagen suchte, die sich in ihrem eigenen Büroschrank befanden, irgendwie amüsant fand. Bei dem Gedanken grinste Ida breit.

Sie begann wieder zu überlegen, zermarterte sich den Kopf, bis ihr endlich eine Idee kam. Sie stand auf, ging zu ihrem Sideboard, öffnete die rechte Tür und nahm einen der dort lagernden Briefumschläge der Shirt-Parade heraus, ging zu ihrem Schreibtisch zurück, setzte sich dahinter, nahm das Mäppchen, steckte es in den Umschlag, klebte ihn zu und schrieb die Adresse ihrer Mutter darauf. Anschließend stand sie auf, ging zu den auf dem Flur befindlichen Postfächern der Abteilung und warf das Kuvert in den Postausgang. Dann lief sie zurück in ihr Büro, zog ihre Jacke an, hängte sich ihre Handtasche um und begab sich auf den Weg in die Mittags-pause. Lotte stand immer noch an den Aufzügen, schnarrte Ida an: „Bitte öffnen Sie Ihre Tasche!“

„Gern“, lächelte Ida, zog den Reißverschluss ihrer Handtasche auf und fragte: „Ist etwas geschehen, wovon ich nichts weiß?“, dabei dachte sie, dass Lotte diese Frage gestellt haben könnte.

„Ja. Das soll auch so bleiben. Es handelt sich um nichts, was Sie wissen müssten“, lautete die bissige Antwort.

Ida wäre fast in lautes Gelächter ausgebrochen. Es gelang ihr aber, sich zusammenzureißen. Sie ließ die Durchsuchungs-prozedur mit einem ernsten Gesicht über sich ergehen. Als Lotte dann allerdings auch noch in Idas Jackentaschen griff, platzte sie heraus, rettete sich aber aus der Situation, indem sie prustend rief: „Ich bin so kitzelig“, wodurch ihre Abteilungsleiterin immer biestiger wurde und sie zurecht wies: „Nun stellen Sie sich nicht so an. Bei Flugreisen werden Sie doch auch nicht so ein Theater machen!“

Als Ida im Aufzug stand, schüttelte sie den Kopf. Was sich diese Frau doch herausnahm, eine Unverschämtheit war das! Offenbar hatten sich Idas Kollegen tatsächlich in die Jackentaschen greifen lassen, ohne aufzumucken, sonst hätte Lotte sich das bei Ida nicht mehr getraut. Wie viel Angst hatte diese Person doch in gerade einmal zwei Monaten unter den Angestellten mit ihren Drohungen erzeugt, Einträge in die Personalakte zu machen!

Ida stieg aus dem Lift, ging mit schlenderndem Schritt durch das Foyer, dann durch die Tür nach draußen, wo sie stehen blieb. Sie spürte den kühlen Wind im Gesicht, dachte an Tanja, biss sich unentschlossen auf der Unterlippe herum. Wie automatisch führten sie ihre Beine zu der Telefonzelle neben der Shirt-Parade. Sie nahm den Hörer von der Gabel, wählte wie hypnotisiert. Während sie darauf wartete, dass sich die Polizei meldete, starrte sie durch die an ihr vorbeigehenden Menschen hindurch. Endlich meldete sich eine Frauenstimme.

„Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben“, sagte Ida.

Der Kriminalkommissar, ein schlanker, hoch gewachsener etwa dreißigjähriger Mann namens Harald Jung saß Ida am Besprechungstisch der Abteilung gegenüber. Er hatte braunes, leicht gelocktes Haar und drehte mit Daumen und Zeigefinder der linken Hand hinter dem Ohr an einer Strähne. Dabei schaute er Ida durchdringend an: „Wir können Ihre Kollegin nur finden, wenn wir Anhaltspunkte für ihr Verschwinden haben. Wie sollen wir sonst suchen?“

„Sie haben doch Anhaltspunkte: ihren Mantel und ihre Hand-tasche, die Sie in ihrem Büro vorgefunden haben.“

„Gut. Was aber bedeutet das?“

„Dass sie das Haus nicht verlassen hat?“, schlug Ida vor.

„Vielleicht. Sie könnte die Shirt-Parade aber auch ohne die Sachen verlassen haben. Nur warum?“

Wieder starrte er Ida an, bis sie das Handy aus ihrer Tasche zog: „Das lag auf ihrem Schreibtisch. Es ist angeschaltet.“

Jung streckte die Hand danach aus, sagte vorwurfsvoll: „Das hätten Sie entweder liegen lassen oder mir sofort geben müssen.“

Er schüttelte den Kopf. Ida druckste schuldbewusst ein: „Ja, Sie haben ja Recht“, heraus.

„Wenn das eingeschaltete Handy auf ihrem Schreibtisch lag, vermute ich, dass ihre Kollegin überstürzt das Büro verlassen hat, freiwillig oder unfreiwillig. Das ist die Frage“, er machte eine Pause, sah Ida eindringlich an, schaute dann auf das Handy, drückte nacheinander Tasten, legte es auf seinen Schreibtisch zurück und sagte: „Wir werden im Präsidium versuchen es auszuwerten. Vielleicht findet sich etwas Brauchbares darauf. Haben Sie noch mehr gefunden oder wissen Sie etwas, was Sie mir bisher nicht gesagt haben?“

„Nein. Ich wünschte, ich wüsste mehr.“

Wegen der nachmittäglichen Präsenz der Polizei stand Lottes Laune auf dem Tiefpunkt: „Sie hätten zuerst mit mir sprechen müssen“, hielt sie Ida vor, die wie ein armer Sünder vor Lottes Schreibtisch stand. Sich hinzusetzen hatte ihr ihre Chefin nicht gestattet.

„Das wird ein Nachspiel haben. Dafür mache ich Ihnen einen Eintrag in die Personalakte!“

Ida starrte wortlos auf Lotte herab, die am Vortag nichts anderes zu tun gehabt hatte, als über Tanja herzuziehen. Wie schon häufiger, sah sie nur den schmalen Mund, an dem sie eine wegoperierte Lippenspalte zu entdecken glaubte. Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken hoch. Nie zuvor hatte sie mit einem Menschen zu tun gehabt, bei dem sie nur den Mund wahrnahm, wenn er sprach.

„Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, das Weg-bleiben von Tanja Beck mit der Shirt-Parade in Verbindung zu bringen?“

„Ihre persönlichen Sachen befanden sich alle hier. Ihre Tasche lag in der Schublade in ihrem Schreibtisch, wo sie sie immer aufbewahrt. Die Schublade war unverschlossen ...“

„So ist das also! Sie haben das Büro von Frau Beck durchstöbert. Das ist ja unglaublich. Was fällt Ihnen eigentlich ein?“

Lotte beugte sich vor, wirkte wie eine angriffsbereite Katze, die zum Sprung ansetzt. Ida wich instinktiv einen Schritt zurück, stieß an ein hinter ihr stehendes Sideboard, zuckte erschrocken zusammen.

„Entschuldigung, ja, es tut mir leid, Sie nicht angesprochen zu haben, aber hier ist einer Ihrer Mitarbeiterinnen womöglich etwas zugestoßen, interessiert Sie das denn gar nicht?“, presste sie heraus, Tränen schossen ihr in die Augen, Tränen der Wut über diese eiskalte Person, und Tränen der Angst um Tanja.

„Wenn das in die Presse kommt! Sie müssen doch an das Image des Unternehmens denken!“, lautete Lottes lapidare Antwort.

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Wilfried Weiß, der Reporter der Bildberg-Rundschau, erschien, ein schlanker, blonder Mann, um die dreißig Jahre alt. Die offenen Bürotüren machten es ihm leicht, von Büro zu Büro zu laufen. Er klopfte jedes Mal an die offene Tür, bevor er fragte: „Darf ich eintreten? Ich komme von der Bildberg-Rundschau.“

„Kommen Sie herein“, lautete stets die Aufforderung. Die An-gestellten waren nur zu froh, über die Geschehnisse in ihrer Abteilung sprechen zu können. Der Reporter machte Notizen in seinem schmalen Block, den er in der linken Hand hielt, bis Ingeborg Lotte seinem Tun ein Ende setzte. Sie schoss geradezu in den Raum, in dem er bei einer Tasse Kaffee mit zwei Mitarbeitern plauderte, rief: „Herr Weiß weiß alles“, und scheuchte den Mann mit den Worten davon: „Verlassen Sie augenblicklich diese Räumlichkeiten! Sie haben hier nichts zu suchen. Meine Mitarbeiter werden fürs Arbeiten bezahlt, stehlen Sie ihnen nicht die Zeit. Also, raus mit Ihnen!“

Sie hatte die Arme angriffslustig in die Hüften gestemmt und sah hinter Wilfried Weiß her, bis er in den Aufzug stieg. Danach ging Lotte von Büro zu Büro und sagte gebetsmühlenartig: „Niemand von Ihnen erteilt Auskünfte an die Presse. Wer gegen diese Anordnung verstößt, bekommt einen Eintrag in die Personalakte.“

Entgegen Lottes Vermutungen wurde das Verschwinden einer Mitarbeiterin der Shirt-Parade in der Zeitung des nächsten Tages nur in einer Randnotiz mit zwei Sätzen erwähnt.

Das unsichtbare Tor

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