Читать книгу Das unsichtbare Tor - Brigitte Regitz - Страница 7

Kapitel 5

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Ida stand gerade vor ihrem Aktenschrank und sah sich zum dritten Mal die Ordnerrücken an, ohne den zu erkennen, den sie suchte, als sie aus dem Augenwinkel etwas Grünes in ihr Büro stürmen sah. Erschrocken riss die den Kopf herum und erkannte Ingeborg Lotte in einem grasgrünen Zweiteiler, der sie noch blasser erscheinen ließ als sie ohnehin war.

Die Frau kam auf sie zu und redete sofort los: „Sind Sie nicht mit Frau Beck befreundet?“

Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab, sondern sprach gleich weiter: „Heute Vormittag war sie noch da, als ich eben von einer Besprechung zurückkam, fand ich das Sekretariat verlassen vor. Auf meinem Tisch lag auch keine Notiz. Wissen Sie etwas, Frau Sommer?“

„Nein, mir ist nichts bekannt. Bei mir hat sich Frau Beck nicht abgemeldet.“

„Über gesundheitliche Probleme hat sie auch nicht geklagt?“

„Nicht, dass ich wüsste. Mir kam sie gesund vor, hat auch nichts gesagt. Tut mir leid.“

Mit den Worten: „Der mache ich die Karriere kaputt“, rauschte Lotte so schnell aus dem Raum, wie sie gekommen war, und ließ eine besorgte Ida zurück, die sich fragte, was wohl geschehen sein mochte. Sie ließ Ordner Ordner sein und eilte ins Sekretariat. Sie nahm an, Lotte dort nicht zu begegnen, da die sicherlich die anderen Büros noch ablaufen würde. Zuerst schaute Ida hinter die Tür. Dort hing Tanjas Mantel an dem Türhaken, den sie sich angeschafft hatte, weil sie den firmeneigenen Kleiderständer für instabil hielt und vermeiden wollte, dass der plötzlich auf sie kippte und sie womöglich verletzte.

Ohne Mantel wird sie doch das Haus nicht verlassen haben, dachte Ida verwundert, dazu ist es draußen zu frisch.

In dem Raum herrschte eine vorbildliche Ordnung, als sei er gerade aufgeräumt worden, stellte Ida verwundert fest, ging zum Schreibtisch, zog die linke, untere Schublade auf, in der Tanja ihre Handtasche aufbewahrte, und sah die Tasche darin liegen. Auf dem Schreibtisch entdeckte sie ein Handy. Sie griff danach. Doch, ganz sicher: Das gehörte ihrer Kollegin. Es stand auf Standby, nicht einmal die Tastensperre war aktiviert.

Eigenartig. Mantel, Handtasche und Handy befanden sich im Büro. Nur, wo war Tanja? Wo mochte sie stecken? Ida stand ratlos in dem Raum, ging zum Fenster, starrte hinaus auf die kleine Seitenstraße, die vollkommen zugeparkt war, drehte sich um, griff dann nach dem Handy, drückte die Ziffern der privaten Festnetznummer der Freundin. Es meldete sich der Anrufbeantworter.

„Ich bin’s, Ida“, sprach sie nach dem Piepton auf Band. „Bitte melde dich umgehend im Büro. Du wirst hier vermisst. Lotte zieht sonst alle Register, um dir zu schaden.“

Kopfschüttelnd legte sie das Telefon zurück. Was für eine Schnapsidee, zu Hause anzurufen, wo doch alles darauf hin-deutete, dass Tanja in der Shirt-Parade war. Ida ließ noch einmal ihren Blick durch das Büro schweifen, nahm das Handy an sich, steckte es in ihre Hosentasche, schloss das Schreib-tischfach zu, in dem sich die Handtasche befand, steckte den Schlüssel unter die Schreibunterlage auf dem Schreibtisch, verließ schnell das Büro. Dass sie hier gewesen war, musste Lotte ja nicht unbedingt wissen.

Im Laufe des Nachmittags ging Ida zu Albert Kragen, klopfte an die offene Tür - rief: „Darf ich?“ und war auch schon drin, als der Kollege: „Na klar“ antwortete.

Sie ließ sich auf einen Besuchersessel plumpsen, der schräg gegenüber dem Schreibtisch des Kollegen stand. Irgendwie fühlte sie sich erschöpft.

„Tanja ist seit einigen Stunden verschwunden. Das weißt du ja sicherlich?“

Albert nickte, und Ida fuhr fort: „Hast du irgend eine Ahnung, wo sie sein könnte?“

Der Kollege richtete sich hinter seinem Schreibtisch auf, schob ein paar mit der Hand beschriebene Blätter zur Seite, bevor er seine Ellenbogen darauf aufstützte und seinen Kopf in die Hände legte. Er machte ein bedrücktes Gesicht, schaute Ida aus traurigen Augen an, als er antwortete: „Nein. Die meldet sich nicht noch einmal. Davon gehe ich ganz fest aus.“

„Aber wieso denn nicht?“, fuhr Ida aufgeregt dazwischen, spürte, wie ihr heiß wurde.

„Ich weiß, du bist mit ihr befreundet, aber vielleicht kennst du sie doch nicht so gut. Meine Erfahrung sagt mir, die wird sich bei uns nicht mehr blicken lassen. Ihr Aushilfsvertrag läuft bald aus.“

Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Schön und gut, aber in ihrem Büro sind noch ihr Mantel und ihre Handtasche. Dass sie das Haus ohne die verlassen hat, glaubst du doch auch nicht, oder?“

Albert Kragen starrte sie nur wortlos an.

Nach Feierabend eilte Ida zu Tanjas Wohnung, die nur zwei Straßen von der Shirt-Parade entfernt lag. Dort hatten die beiden Frauen schon den einen oder anderen Feierabend gemeinsam ausklingen lassen.

Ida rannte, so schnell sie konnte, sodass sie hin und wieder stehen bleiben musste, um nach Luft zu schnappen. Endlich stand sie vor dem fünfstöckigen, ockerfarben verputzten Alt-bau, in dem die Freundin wohnte. Sie klingelte bei Gerda Höpfner, der Nachbarin, die einen Schlüssel zu Tanjas Wohnung hatte. Bei deren Abwesenheit versorgte die Frau Tanjas Kater Felix. Ungeduldig trat Ida von einem Fuß auf den anderen. Endlich! Der Öffner summte. Sie drückte gegen die Tür, rannte in die zweite Etage hoch, nahm immer zwei Stufen auf einmal, blieb hechelnd vor Tanjas Nachbarin, einer etwa sechzigjährigen, etwas rundlichen Frau mit grauen Locken, stehen.

„Hallo, guten Abend, Frau Sommer, was ist denn mit Ihnen los? Sie sehen ja ganz aufgelöst aus“ sagte die Frau mit erschrockenen Augen.

„Guten Abend, Frau Höpfner. Ja, ich bin auch ganz außer mir. Tanja ist heute aus dem Büro verschwunden, hat sich nicht gemeldet, ist telefonisch nicht zu erreichen. Nein, also, da stimmt etwas nicht ...“

Die Nachbarin bekam einen besorgten Gesichtsausdruck: „Kommen Sie erst mal rein und beruhigen Sie sich, und dann erzählen Sie mir alles der Reihe nach.“

Sie öffnete die Tür weit, nahm einen Bügel von der Wandgarderobe und reichte ihn Ida, die so hektisch am Reißverschluss ihrer Jacke zerrte, dass sie ihn nicht geöffnet bekam.

„Lassen Sie mich das machen“, schlug Frau Höpfner vor, befreite Ida von ihrem Anorak und hängte ihn auf. Dann schob sie die unschlüssig herumstehende Besucherin in ihr Wohn-zimmer bis zu ihrer roten Couch, drückte Ida leicht auf die Schulter, damit sie sich setzte.

„Und nun hole ich Ihnen eine Apfelschorle. Die wird Ihnen gut tun.“

Frau Höpfner kam mit zwei vollen Gläsern aus der Küche zu-rück, setzte sich Ida gegenüber auf einen Sessel und forderte sie mit einem Kopfnicken auf, zu sprechen. Und nachdem Ida berichtet hatte, schlug Frau Höpfner vor: „Wir schauen uns jetzt erst einmal in ihrer Wohnung um.“

Ihre ruhige Art tat Ida wohl. Sie spürte, wie ihre innere Angespanntheit nachließ.

„Wenn Tanja nicht da ist, nehme ich ohnehin den Kater zu mir rüber. Der kommt über den Balkon tagsüber zu mir. Heute war er auch den ganzen Tag lang da, ist erst vor ein paar Mi-nuten zurückgegangen. Deshalb ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“

Tanja war nicht in ihrer Wohnung, worauf Ida heimlich gehofft hatte. Es gab auch nichts Auffälliges, keinerlei Hinweis auf eine Abreise etwa. Es fand sich keine Unordnung, die auf Eindringlinge hingedeutet hätte. Die leere Futterschale des Tiers bezeugte eher, dass Tanja vorgehabt hatte, abends wieder nach Hause zu kommen. Der rotgetigerte Kater tauchte auch sofort auf und begann hungrig zu miauen.

Ida sah, wie Frau Höpfner sich die Unterlage des Futterplatzes schnappte, rief: „Komm Felix, wir gehen rüber zu mir“, und tatsächlich - der rote Kater folgte ihr auf den Fuß. Ida ging hinter den beiden her, sah zu, wie Tanjas Nachbarin Felix in der Küche eine Futterschale füllte, sie ihm hinstellte und der regelrecht darüber herfiel.

„Kommen Sie, wir gehen wieder ins Wohnzimmer“, wandte sich die Frau an Ida. Als sie wieder saßen, starrten sie sich stumm an.

Ida überlegte angestrengt, was sie tun könnte.

„Wäre nicht eine Vermisstenanzeige angebracht?“, sprach Frau Höpfner in ihre Gedanken hinein. „Dass Tanja aus dem Büro verschwindet und nicht nach Hause kommt, ist für sie überhaupt nicht typisch. Ich mache mir große Sorgen. Ich wüsste nicht, wo sie sein könnte. Verwandte hat sie nicht. Außerdem würde sie sich auf jeden Fall melden, unter gar keinen Umständen ihren Kater einfach sich selbst überlassen.“

„Ich habe auch große Angst um Tanja. Sie scheint spurlos verschwunden zu sein. Für eine Vermisstenanzeige ist es aber dennoch zu früh. Bis morgen müssen wir auf jeden Fall war-ten.“

Ida nippte an ihrer Apfelschorle, rief plötzlich mit einer ausladenden Armbewegung: „Wissen Sie was? Ich werde mal alle Krankenhäuser in Bildberg anrufen. Vielleicht hatte sie einen Unfall? Kann doch sein!“

Hoffnung keimte in ihr auf. Das konnte doch wirklich sein. Tanja war vielleicht aus irgendeinem Grund ohne Mantel auf die Straße gelaufen, aber, na ja, wenn sie angefahren worden wäre, hätte das ja wohl jemand aus dem Betrieb mitbekommen. Trotzdem. Die Idee war ein Strohhalm, an den sich Ida klammerte. Frau Höpfner machte nicht gerade ein überzeugtes Gesicht, sagte aber: „Dabei helfe ich Ihnen. Ich kann von meinem Festnetz aus anrufen, Sie von Ihrem Handy.“

Die beiden Frauen erhielten immer dieselbe Antwort: Eine Tanja Beck war nicht eingeliefert worden.

Enttäuscht sagte Frau Höpfner schließlich zu Ida: „Lassen Sie mir doch bitte Ihre Telefonnummer hier. Falls sich etwas Wichtiges ereignet, kann ich Sie anrufen.“

Tiefe Furchen in ihrem Gesicht sahen wie eingegraben aus.

Ida kramte einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und schrieb die Nummer auf den Block, den ihr Frau Höpfner hingeschoben hatte.

Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Wäre eine Vermisstenanzeige nicht doch das Beste? Aber was konnte die Polizei ausrichten? Mussten nicht mindestens vierundzwanzig Stunden vergangen sein, bevor die tätig wurde? Sie bekam eine Gänsehaut, spürte ein flaues Gefühl im Magen.

Auf keinen Fall hätte sie das Handy einfach einstecken dürfen, meldete sich Idas schlechtes Gewissen. Womöglich konnten pfiffige Techniker wichtige Daten darauf finden? – Ida hatte es für die Freundin sicher aufbewahren wollen, denn sie wusste, dass Tanja geradezu verliebt in ihr neues, kleines Handy war.

Bei einer Durchsuchung der Büroräume würde man die Kollegin ganz sicherlich nicht finden, sondern einem möglichen Entführer lediglich signalisieren, dass er aufgefallen war. Einem Entführer? Ida erschauderte. Ihr wurde innerlich eiskalt. Nein. Keine Polizei, entschied sie sich noch einmal. Ich warte bis morgen.

Das unsichtbare Tor

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