Читать книгу PatchWords - Britta Bendixen - Страница 11
Ein hochprozentiger Fall
ОглавлениеAls Nina ins Büro stürmte, kochte sie vor Zorn.
Erik beobachtete, wie sie ihre Handtasche und ihre Mütze auf den Schreibtisch schmiss. Ihre Augen blitzten, die Lippen wa-ren zu einem unheilverkündenden Strich zusammengepresst.
„Einen wunderschönen guten Morgen“, lächelte er munter.
Sie funkelte ihn an. „Du …. du Mann!“
„Danke für das Kompliment.“
Nina zog ihren Mantel aus und hängte ihn so rabiat an die Garderobe, dass der Aufhänger abriss. „Verdammte Scheiße!“
„Lass mich raten.“ Erik lehnte sich zurück und rieb sich das Kinn. „Ärger mit Paolo?“
Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Männer sind doch wirklich unglaublich!“
„Ich weiß“, lächelte Erik geschmeichelt.
„Im negativen Sinne, du Hornochse!“
Er stand auf und legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter: „Ich hole dir einen Kaffee, und dann erzählst du, was dein kleiner Italiener dir angetan hat, okay?“
Nina atmete tief durch und sah ihren Kollegen mit großen Augen an. „Danke.“
„Nicht dafür.“ Er verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem dampfenden Becher zurück. Nina nahm ihn entgegen und legte los.
„Paolo will, dass ich möglichst bald viele kleine Bambini produziere und meinen Job gegen den Herd eintausche.“ Sie schnaubte. „Ich hasse es, wenn er sich aufführt wie ein südeuropäischer Macho.“
„Schätzchen, er ist einer“, sagte Erik gelassen.
Das Telefon klingelte.
„Lass mich rangehen“, riet er. „Egal, wer es ist, es besteht die Gefahr, dass du ihn durch die Leitung ziehst.“
„Allerdings“, grummelte sie in den Kaffee hinein.
Erik meldete sich und lauschte mit ernster Miene.
„Gut, wir kommen“, sagte er und legte auf.
„Arbeit?“
„Jep. Wir müssen in die Schlossstraße.“
„Moin“, begrüßte Erik den Gerichtsmediziner, der neben der Leiche kniete . „Haben Sie schon was für uns?“
„Sie meinen, abgesehen von einer Leiche zum Frühstück?“, scherzte Dr. Mey und stand auf.
„Normalerweise mag ich Ihren Humor“, log Nina, „doch heute bin ich nicht in Stimmung.“
Die Kälte des Novembermorgens machte ihrer aller Atem sichtbar. Nina fröstelte, legte plötzlich den Kopf schräg und schnupperte. Roch es hier nach Alkohol?
„Sie wurde stranguliert, mit ‘ner Wäscheleine oder ähnlichem“, berichtete Dr. Mey sachlich. „Hier wurde sie vermutlich nur abgelegt. Todeszeitpunkt gestern Abend, etwa zwischen sieben und zehn, mehr kann ich erst nach der Obduktion sagen.“
„Was liegt da neben ihr?“, fragte Nina und deutete auf eine Stelle links neben der Leiche. „Das ist doch eine Flasche, oder?“
„Hansen-Rum.“ Dr. Mey zog die große Nase kraus. „Sie wurde damit übergossen und riecht entsprechend.“
„Kein Wunder, dass es hier nach Schnaps riecht“, murmelte Nina.
„Ach herrje“, ließ sich Erik leise vernehmen. „Kommt Ihnen das nicht bekannt vor, Dr. Mey?“
„Doch, natürlich. Wie lange sind die anderen Fälle her?“
Nina sah von einem zum anderen. „Welche anderen Fälle?“
„Das kannst du nicht wissen, du bist ja erst seit Mai bei uns“, sagte Erik. „Dies ist der dritte Rum-Mord. Die erste Leiche wurde am Ostermontag des letzten Jahres am Nordertor entdeckt, also vor etwa anderthalb Jahren. Die andere lag am Neujahrsmorgen darauf in dem flachen Brunnen im Burghof.“
„Und die Parallelen sind Rumflaschen und Würgemale?“, vergewisserte sich Nina.
Dr. Mey nickte und wies auf die tote Frau neben ihm. „Und der Opfertyp. Alle drei waren in den Vierzigern, hatten lange, dunkle Haare und eine schlanke Figur.“
„Die ersten beiden waren berufstätig und alleinstehend“, fügte Erik hinzu.
„Der oder die Täter wurden bisher nicht gefunden?“
Die beiden Männer schüttelten den Kopf.
„Wir hatten keinerlei Anhaltspunkte“, sagte Erik verdrossen. „Der Typ ist schlau vorgegangen. Es gab keine Zeugen und auch keine Fingerabdrücke, Hautpartikel, Zigarettenkippen oder andere verwertbaren Spuren.“
„Vielleicht findet die KTU ja diesmal etwas“, hoffte Nina.
Zurück im Präsidium zog sie die beiden älteren Fälle hinzu und verglich sie mit dem neuen. Die Ergebnisse präsentierte sie Erik an einer Flipchart-Wand.
Sie wies auf das Foto der ersten Frau. „Anna Thomsen, geschieden, kinderlose Kosmetikerin, lebte in Harrislee.“
Ninas Zeigestab wanderte zum nächsten Bild.
„Eva Leipold, ledig, Augenärztin, wohnte im Stadtteil Mürwik.“
Schließlich zeigte Nina auf das letzte Bild.
„Von ihr wissen wir noch nichts, sie hatte ja keine Papiere dabei. Und wenn sie ebenfalls allein gelebt hat, könnte es dauern, bis wir sie identifizieren können.“
„Wir könnten die Presse informieren.“
Nina schnalzte mit der Zunge. „Ich weiß nicht. Lass uns lieber abwarten, ob jemand sie vermisst. Wenn die Presse mitkriegt, dass es sich um eine Serie handelt …“
„Du hast Recht.“ Erik nickte. „Dann breitet sich Panik aus.“
„Mich würde interessieren, ob der Mörder die Fundorte beliebig oder ganz bewusst ausgewählt hat.“
„Hast du schon mal in einem Serienmord ermittelt?“, fragte Erik.
„Bisher noch nicht. Aber ich habe eine Menge darüber gelesen.“
Er beugte sich vor. „Was weißt du darüber?“
„Nun, Serienmörder handeln nicht spontan, sondern geplant. Sie suchen ihre Opfer gezielt aus. Meist gibt es keine Verbindung zwischen Täter und Opfer.“
„Ja, davon habe ich auch schon gehört. Was noch?“
Nina trat ans Fenster. Tiefe Wolken tauchten die Hafenspitze in tristes Grau.
„Der durchschnittliche Serienmörder ist männlich, zwischen zwanzig und vierzig, ledig und kinderlos. Eher unterdurchschnittlich intelligent, oft arbeitslos und etwas verschroben. Die Kindheit war von Gewalt, Gefühlskälte oder Missbrauch geprägt.“
„Der Opfertyp und der Rum könnten darauf hindeuten, dass unser Mörder mit einer Trinkerin zusammengelebt hat. Eine ehemalige Lebensgefährtin vielleicht, oder auch seine Mutter. Damit wäre eine unglückliche Kindheit auf jeden Fall gegeben.“
„Das ist ein vager Anhaltspunkt, aber besser als nichts.“ Nina schnappte sich ihre Jacke. „Ich befrage mal die Anwohner der Fundorte.“
„Inzwischen füttere ich den Computer mit dem was wir haben“, beschloss Erik.
Am Nordertor fragte Nina nach einer dunkelhaarigen Frau mit einem Alkoholproblem, die mit ihrem Sohn in der Gegend gewohnt hat.
„Es ist vermutlich schon lange her“, erklärte Nina einer Mieterin mit einem Baby auf dem Arm. „Zehn Jahre oder mehr. Kennen Sie jemanden, der so lange hier wohnt?“
„Nein, tut mir leid. Ich hab die Wohnung erst seit kurzem. So gut kenne ich die Nachbarn noch nicht.“
Auch in der Schlossstraße und im Burghof, den sie bereits zur Hälfte abgeklappert hatte, schien niemand etwas zu wissen. Nina war frustriert. Waren sie doch auf der falschen Fährte?
Ohne viel Hoffnung erreichte sie die oberste Etage von Haus Nr. 3 und klingelte. Schritte näherten sich, dann stand ein junger Mann mit Kinnbart vor ihr.
„Fragen Sie mal Frau Andersen in Nummer 5“, regte er an, nachdem sie ihm ihr Anliegen erklärt hatte. „Ich glaube, die wohnt schon ewig hier.“
Ninas Gesicht hellte sich auf. „Wirklich? Danke für den Tipp.“ Mit neu erwachtem Optimismus lief sie die Treppen nach unten.
Alma Andersen war klein und trug einen gewaltigen Busen vor sich her.
Sie bat Nina in ihr muffig riechendes, mit dunklen Möbeln vollgestelltes Wohnzimmer. Dort wies sie auf die geblümte Couch. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich.“
Nina nahm Platz. Ihre Gastgeberin ließ sich in einen Sessel sinken.
„Sie sind also von der Polizei. Hat einer von den jungen Leuten was angestellt?“
„Überhaupt nicht. Ich bin aus einem anderen Grund hier. Wie lange wohnen Sie schon im Burghof, Frau Andersen?“
„Hm, ungefähr … Ja, fast 33 Jahre.“
Ninas Herz schlug schneller. „Und kennen Sie Ihre Nachbarn gut?“
„Früher schon, aber nu nicht mehr. Das sind ja meist junge Familien oder Studenten. Aber damals, da waren wir eine nette Gemeinschaft. Ach ja, wenn ich dran denke, wie wir …“
„War unter Ihren Nachbarn eine alleinstehende Frau?“, unterbrach Nina sie. „Schlank, lange dunkle Haare, möglicherweise mit einem oder mehreren Kindern?“
„Da muss ich nachdenken. Wann soll das gewesen sein?“
„Vor etwa zehn bis zwanzig Jahren. Die Frau hatte eventuell ein Alkoholproblem.“
„Ach, da meinen Sie gewiss Silvia Körner. Ja, die war andauernd betrunken. Und sie hatte einen Sohn, so um die zehn war er damals. Arne hieß er, er war oft bei mir zum Essen. Der arme kleine Kerl hatte ja ständig Hunger.“
Nina hielt den Atem an. „Wo genau hat Frau Körner gewohnt?“
„Direkt über mir.“ Die alte Frau zeigte an die Decke. „Sie hatte viel Herrenbesuch. Andauernd gab es Streit und Geschrei. Und der arme Bengel mittendrin.“
„Wann war das ungefähr?“
„Hm, ich glaube, das war Mitte der Achtziger. Ja, ich erinnere mich, Silvester 86/87 lag sie besoffen in dem Brunnen, unten im Hof. Und Arne versuchte, sie ganz allein da raus zu heben. Er hat furchtbar geweint, das weiß ich noch genau. Ganz verzweifelt war er. Mein Mann hat ihm dann geholfen, seine Mutter ins Bett zu tragen. Das war schrecklich für den Jungen.“ Alma Andersen schüttelte seufzend den Kopf, dann sprach sie weiter.
„Wir haben dann das Jugendamt informiert. Kurz darauf sind die beiden ausgezogen. Ich hab nie wieder von ihnen gehört.“
Als Nina ins Büro stürmte, saß Erik noch am Computer.
„Hi! Wir haben die Identität der Toten festgestellt“, informierte er sie. „Sie heißt Maria Schulte, ist 42, geschieden und Verkäuferin in einem Supermarkt. Ihre Kollegin hat sie als vermisst gemeldet, weil sie gestern und heute nicht zur Arbeit gekommen ist und auch nicht zu erreichen war.“
Nina hörte kaum hin. „Gib Silvia Körner ein“, rief sie aufgeregt. „Ich glaube, dass sie die Mutter des Mörders ist.“
Eriks Finger flogen über die Tasten. Kurz darauf grinste er zufrieden.
„Volltreffer! Sie war auch in der Schloss- und in der Norderstraße gemeldet.“
„Noch irgendwo?“ Nina trat ungeduldig näher und sah über Eriks Schulter. „Wo lebt sie jetzt?“
„Moment.“ Er drückte ein paar Tasten. „Sie ist 2002 verstorben. Ihr letzter Wohnsitz war die Norderstraße.“
Nina überlegte. „Und davor lebte sie im Burghof, und vorher in der Schlossstraße?“
Er prüfte es nach. „Ja, stimmt.“
„Okay. Wo wohnte sie, bevor sie in die Schlossstraße zog?“
„Worauf willst du hinaus?“
Nina setzte sich und verschränkte die Hände. „Die Morde geschehen offenbar in umgekehrter Reihenfolge. An Silvia Körners letztem Wohnsitz – Norderstraße – wurde die erste Leiche gefunden. Die zweite habt ihr in der Nähe ihrer vorletzten Wohnung gefunden, im Burghof. Davor wohnte sie in der Schlossstraße, wo heute Maria Schulte tot aufgefunden wurde.“
„Du meinst also, wenn es vor dieser noch eine Adresse gab, könnte ein weiterer Mord geschehen und die Leiche dann dort abgelegt werden?“
„Davon müssen wir ausgehen. Also, gibt es noch eine Adresse?“
Erik schaute nach. „Von 1976 bis 1982 lebte sie im Oluf-Samsons-Gang.“
„Das ist doch die so genannte ‚Liebesgasse‘, oder?“
Er nickte. „Und zu der Zeit herrschte dort noch Hochbetrieb.“
„Mit anderen Worten, Silvia Körner hat vermutlich als Prostituierte gearbeitet“, folgerte Nina.
„Ist anzunehmen.“
„1987 war Arne Körner etwa zehn Jahre alt, also war er zu der Zeit, als seine Mutter in der Liebesgasse aktiv war, schon geboren.“
„Das klingt in der Tat nicht nach einer Bilderbuchkindheit. Fast kann er einem leid tun.“
„Mir tut nur die arme Frau leid, die womöglich bald tot im Oluf-Samsons-Gang liegt“, sagte Nina düster. „Wir müssen Arne Körner finden.“
Sie studierten die Klingelschilder eines Hauses in der Waldstraße.
„Hier steht nirgendwo Körner“, sagte Nina ratlos und drückte die unterste Taste. Es summte und Erik stieß die Tür auf.
Eine korpulente Frau mit grauen Strähnen stand in der Wohnungstür und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. „Ja, bitte?“
„Kripo Flensburg, wir suchen Arne Körner.“
„Der wohnt hier nicht mehr, seit mindestens einem Vierteljahr.“
„Großartig“, murmelte Erik.
„Ich bin froh, dass er wech ist.“ Die Frau schnaubte. „Ich konnte den Kerl nich ausstehen. Der hat ja kaum die Kiemen auseinander gekriegt, kein Moin und kein Tschüs, nix. Überhaupt war er 'n büschen merkwürdig. Gearbeitet hat er, glaub ich, nich. Saß immer allein zu Hause. Meistens bei zugezogenen Gardinen. Hat er was angestellt?“
„Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Nina höflich. „Tschüs!“
Erik hielt ihr bereits die Haustür auf.
Im Wagen schwiegen sie nachdenklich vor sich hin, bis Ninas Handy klingelte. Sie zog es aus der Jackentasche, sah aufs Display und nahm den Anruf an.
„Was willst du?“, fragte sie kalt.
Erik hörte undeutlich eine männliche Stimme mit unverkennbarem Akzent.
„Von mir aus“, knurrte Nina. „Aber es muss ein besonders teures Restaurant sein. Ciao.“
Sie legte auf. „Heute Abend bin ich zum Essen verabredet“, berichtete sie zufrieden.
„Ist dein Paolo vom Macho zum Softie mutiert?“
„Sieht zumindest so aus.“
„Ich habe nachgedacht“, sagte Erik. „Heute ist der 17. November. Die ersten beiden Leichen wurden zu Ostern und am Neujahrsmorgen gefunden. Vielleicht hat der Mörder sich neben den Orten auch diese Daten bewusst ausgesucht. Ich meine, immerhin hat er seine Mutter am Neujahrsmorgen 1987 aus dem Brunnen im Burghof gefischt. Vielleicht finden wir unter diesem Gesichtspunkt heraus, wann sich ein eventueller nächster Mord ereignen könnte.“
Ein Blick in den Computer gab Erik Recht. Arne Körner war am 16. November 1977 geboren worden, was bedeutete, dass er Maria Schulte, die Tote aus der Schlossstaße, an seinem Geburtstag ermordet hatte.
„Aber hilft uns das weiter?“, zweifelte Nina. „Wann könnte er wieder zuschlagen?“
Sie überlegten. „Natürlich!“, Erik schlug sich an die Stirn. „Vermutlich hat seine Mutter ihn zu Ostern enttäuscht, Silvester ebenso und an seinem Geburtstag. Welchen Feiertag hat sie ihm wahrscheinlich auch versaut?“
Sie sprachen es gleichzeitig aus. „Weihnachten!“
Die Adventszeit brach an. In der Flensburger Innenstadt wurden Punschbuden und Wurststände aufgebaut, Lichterketten funkelten in der Dämmerung und praktisch alles, von der Bratpfanne bis zur Spielkonsole, verwandelte sich in Weihnachtsgeschenke.
Arne Körner blieb verschwunden. Sie hatten ein Foto aus der Datenbank, das einen fülligen Mann mit kurzen blonden Haaren zeigte, doch auch auf eine öffentliche Fahndung hin geschah nichts, was ihnen weiterhalf. Es war wie verhext.
„In drei Tagen ist Heiligabend“, seufzte Nina. „Wir glauben, dass er dann wieder zuschlagen wird. Nur leider wissen wir nicht, wo.“
„Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als den Weihnachtsabend im Oluf-Samsons-Gang zu verbringen“, murmelte Erik. „Tolle Aussichten.“
„Jep. Paolo wird begeistert sein.“
Der Oluf-Samsons-Gang war klein und schmal, genau wie die Häuser. Einige waren mittlerweile saniert und mit modernen Wohnungen ausgestattet worden, andere sahen geduldig ihrem Verfall entgegen. Die abschüssige Gasse führte von der Norderstraße hinunter zum Hafen. Am unteren Ende sah man das Wasser der Förde, bei Tageslicht und Sonnenschein ein malerischer Anblick. An diesem nasskalten Abend jedoch sah man nur das feucht glänzende Kopfsteinpflaster im Licht der Straßenlampen.
Nina, Erik und sechs weitere Beamte hatten sich in Erdgeschosswohnungen postiert, deren Bewohner zum größten Teil verärgert waren, dass ausgerechnet am Heiligen Abend die Polizei ihre Wohnungen besetzte. Einige wenige fanden die Aktion jedoch spannend und aufregend. So wie der sympathische junge Mann, in dessen Wohnung Nina und Erik unauffällig aus dem Fenster spähten. Er bot ihnen Kaffee und Stollen an und war offenbar froh, an diesem Abend doch nicht ganz allein zu sein. Unverhohlen flirtete er mit Erik.
Nina sah grinsend aus dem Fenster, während die zwei sich angeregt unterhielten.
Um halb eins setzte leichter Schneefall ein, doch die Flocken schmolzen sofort auf den Pflastersteinen. Nina unterdrückte ein Gähnen und wünschte sich nach Hause.
„Vielleicht liegen wir doch falsch“, sagte sie gegen zwei Uhr morgens. „Ich glaube, er kommt gar nicht.“
„Er kommt“, behauptete Erik mit angespannter Stimme. „Ich spüre es.“
„Wenn du Recht hast, ist wieder eine Frau ermordet worden und wir konnten es nicht verhindern.“ Nina klang frustriert.
Eine knappe Stunde später hielt ein Wagen am oberen Ende der Gasse. Der Motor erstarb und das Licht erlosch.
Ninas Müdigkeit war wie weggeblasen. „Ich glaub, es geht los! Alle Lichter aus!“
Sie sprintete zur Tür und zog ihre Waffe. Als alles dunkel war, öffnete sie die Haustür einen Spaltbreit und lugte hindurch. Erik stand hinter ihr, ebenfalls die Dienstpistole im Anschlag.
Der Mieter saß leicht vorgebeugt auf der Kante seiner Couch und schien den Atem anzuhalten.
Nina sah, dass ein Mann aus dem Wagen stieg, sich prüfend umsah und dann einen großen unförmigen Gegenstand vom Rücksitz zog.
Erik informierte die Kollegen per Funk darüber, dass ein Zugriff unmittelbar bevorstand.
Die Gasse war menschenleer. Der Mann hievte sich seine Fracht über eine Schulter und schloss das Auto. Dann kam er gebeugt von seiner Last die schmale Straße herunter. Seine schleppenden Schritte und sein keuchender Atem durchbrachen die nächtlichen Stille.
„Wir müssen warten, bis er sie hingelegt hat und verschwinden will“, wisperte Erik.
Nina nickte.
Der Mann näherte sich ihrer Tür. Nina schob sie fast vollständig zu, damit er sie nicht bemerkte.
Ihr Puls raste. Der Mann ging vorbei und blieb wenige Sekunden später stehen. Dann legte er seine Last an einer Hauswand ab und holte etwas aus der Innentasche seiner Jacke.
„Er will sie mit Rum übergießen. Lass uns zumindest das verhindern“, flüsterte Nina bittend.
Erik nickte und hob das Funkgerät. „Zugriff! Jetzt!“
Arne Körner sah entsetzt auf, als plötzlich mehrere Männer auf ihn zustürmten und ihm Pistolenmündungen vor die Nase hielten.
„Arme hinter den Kopf!“, brüllte Erik.
Nina fiel auf, dass er ganz anders aussah als auf dem Foto. Deshalb also hatte die Fahndung nichts erbracht! Er war schmaler, trug eine Brille und einen Vollbart.
Sie nahm Körner, dessen Mundwinkel vor Enttäuschung zuckten, die Flasche aus den behandschuhten Händen.
Erik ließ gerade die Handschellen zuschnappen, als er ein leises Husten hörte. Er wandte den Kopf. Auch Nina sah zum Opfer hin, das nun ein würgendes Geräusch von sich gab.
„Sie lebt noch!“, rief Erik. „Schnell, ruft einen Notarzt!“
Einer der Beamten zückte sein Handy. Nina hockte sich eilig zu der Frau und wies einen Kollegen an, ihr Wasser und eine Decke zu bringen.
Dann betrachtete sie Arne Körners jüngstes Opfer.
Auch sie war schlank und hatte langes, dunkles Haar. Und auch ihren Hals verunstalteten Würgemale. Sie atmete angestrengt und hustete immer wieder.
"Du dreckige, versoffene Schlampe“, fauchte Arne Körner.
Ninas Kopf ruckte in seine Richtung.
Er sah hasserfüllt auf die halb bewusstlose Frau, dann verzog er das Gesicht und brach unvermittelt in Tränen aus.
„Du sollst tot sein. Warum bist du nicht tot? Warum?“
Als Nina endlich zu Hause ankam, war sie erschöpft, aber zugleich unendlich erleichtert darüber, dass Arne Körners letztes Opfer überlebt hatte.
Im Schlafzimmer sah sie zärtlich auf den schlafenden Paolo, bis sie erkannte, dass etwas auf ihrem Kopfkissen lag.
Ein Weihnachtsgeschenk.
Gerührt nahm sie das Päckchen und öffnete es so leise wie möglich.
Es war ein gerahmtes Foto von ihm, auf dem er eine Polizeimütze trug. Darunter lag ein Zettel.
„Für deinen Schreibtisch. Ti amo.“
E N D E