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Blütengeflüster

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„Marie! Hier bin ich.“

Marie wandte den Kopf und sah ihre beste Freundin winkend an einem Tisch am Fenster sitzen.

„Hier war ich noch nie“, gestand sie, nachdem sie Eva begrüßt und sich hingesetzt hatte.

„Der Laden ist klasse“, sagte Eva. „Ich war schon oft hier. Tolles Essen, netter Service.“

Marie sah sich um. Das Restaurant war gemütlich eingerichtet und gut besucht.

Eva beugte sich vor. „Jetzt erzähl. Wie war der Mallorca-Ur­laub?“

„Sehr schön, obwohl Daniel nicht mitfahren konnte. Aber vielleicht können wir die Flitterwochen dort verbringen.“

Ein Kellner trat an ihren Tisch. Er hatte strohblonde, verwu­schelte Haare und blitzende blaue Augen. „Hallo. Haben Sie sich schon entschieden?“

„Ich nehme den Blütensalat mit Putenbruststreifen“, sagte Eva. „Und ein Mineralwasser.“

„Blütensalat?“, wunderte sich Marie und überflog die Speise­karte. „Was ist das denn?“

„Oh, der ist köstlich, du musst ihn unbedingt probieren. Ess­bare Blüten sind der letzte Schrei.“

„Wenn du meinst …. Also gut, warum nicht.“

Marie klappte die Karte zu und wandte sich an den Kellner. „Das nehme ich auch.“

„Gute Wahl“, nickte er und lächelte ihr zu.

Zwanzig Minuten später wurde das Essen serviert. Nach einem prüfenden Blick auf den bunten Teller spießte Marie eine orangefarbene Blüte auf.

„Sieh mal, Eva, so eine hast du gar nicht.“

„Sicher schmeckt sie trotzdem“, beruhigte ihre Freundin sie.

Gespannt schob sich Marie die Blüte in den Mund und begann vorsichtig zu kauen. Sie schmeckte wirklich gut.

Eva trank einen Schluck Mineralwasser. „Hat Daniel dich denn gestern angemessen empfangen?“

Marie nickte langsam. „Er schien sich zu freuen und hat Spag­hetti für uns gekocht.“

Eva hob verwundert eine ihrer perfekt geschwungenen Augen­brauen. „Er schien sich zu freuen?“

Marie nickte ernst. „Na ja, er war mit seinen Gedanken oft woanders. Bestimmt bei der Arbeit. Diese Kampagne hat es in sich, schließlich konnte er deswegen nicht mal seinen Urlaub antreten. Sicher gibt es Probleme, mit denen er mich nicht belasten will.“

Eva senkte den Blick auf ihren Teller und stocherte im Salat herum. „Gut möglich.“ Wie naiv sie doch ist. Was wird sie wohl sagen, wenn sie erfährt, dass Daniel, statt mit ihr nach Mallorca zu fliegen, mit mir nach Sylt gefahren ist?

Marie runzelte die Stirn. „Was hast du gesagt?“

Eva hob den Kopf. „Ich sagte: Gut möglich, dass er dich nicht mit seinen Problemen belasten will.“

„Hast du nicht noch etwas mehr gesagt? Irgendwas mit Mal­lorca und … Sylt?“

Eva schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Bestimmt nicht.“

Hab ich etwa laut gedacht? Hoppla, ich muss besser aufpas­sen!

Marie starrte ihre Freundin mit offenem Mund an.

Eva legte ihre Gabel hin und ergriff die Hand ihrer Freundin. „Marie, Liebes, was ist denn auf einmal mit dir? Du bist ja ganz bleich.“ Besonders braun ist sie im Urlaub sowieso nicht geworden. Hat sich wahrscheinlich nur im Schatten aufgehal­ten. Na ja, empfindlich war sie ja schon immer.

Marie entzog Eva ihre Hand und stand auf. „Ich glaube, ich – muss mal zur Toilette.“

„Tu das.“ Eva lehnte sich zurück. Hoffentlich hat sie keinen Virus aus Spanien mitgebracht. Ich muss mir gleich mal die Hände waschen gehen.

Marie sah Eva an wie eine Fremde.

„Entschuldige mich“, murmelte sie und ging mit weichen Knien auf die Waschräume zu.

Sie schloss sich in eine der Kabinen ein, ließ sich auf den Toi­lettendeckel sinken und versuchte herauszufinden, was gerade geschehen war. War das ein kosmischer Scherz? Wieso konnte sie hören, was Eva dachte? Und was sollte der Unsinn, dass Daniel mit ihr auf Sylt gewesen sei? Er mochte sie doch nicht einmal und nannte sie immer nur ‚die zickige Eva‘.

Marie massierte sich die Schläfen. Gedankenlesen! Das war doch verrückt. Hatte sie sich irgendwann den Kopf angeschla­gen und diese akustischen Halluzinationen waren die Folge einer nicht auskurierten Gehirnerschütterung?

Hoffentlich war es so. Die Dinge, die sie zu hören geglaubt hatte, waren erniedrigend und boshaft gewesen.

Eva war doch seit vielen Jahren ihre beste Freundin. Hatte sie sich all die Jahre in ihr getäuscht?

Das konnte nicht sein. Sicher war das eben nur Einbildung gewesen. Das war die einzige vernünftige Erklärung für dieses … diesen … was auch immer das war.

Sie wollte gerade aufstehen, als sich die Tür zu den Wasch­räumen öffnete. Jemand näherte sich und verschwand in der Nebenkabine. Marie rührte sich nicht, ohne zu wissen, warum. Sie hörte, wie die Tür verriegelt wurde, dann das Rascheln von Kleidungsstücken und ein leises Seufzen.

Gleich werde ich es ihm sagen. Oh Gott, ich wünschte, ich wüsste, wie er reagiert. Wenn er mich zu einer Abtreibung überreden will, drehe ich ihm den Hals um.

Marie starrte mir aufgerissenen Augen an die Kabinenwand. Offenbar konnte sie doch Gedanken lesen, nicht nur Evas, sondern auch die von anderen. Das war zuviel! Mit zitternden Fingern betätigte sie die Spülung und verließ eilig den Wasch­raum.

Der blonde Kellner kam ihr entgegen. Ah, da ist die hübsche Dunkle ja wieder. Aber warum sieht sie so verstört aus?

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er besorgt. „Ist der Salat nicht in Ordnung?“

Marie starrte ihn an. „Doch, er ist … danke. Alles gut“, stam­melte sie und ging weiter.

Alles gut!? Nichts war gut, absolut gar nichts!

Eva sah ihr mitleidig entgegen. „Geht’s dir besser?“ Was hat sie denn nur? Sie sieht ja furchtbar aus.

„Danke“, murmelte Marie verärgert und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. „Mir ist wohl was auf den Magen geschlagen.“ Vermutlich deine hinterhältige Verlogenheit!

Sie widmete sich wieder ihrem Salat und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Freundin, die genüsslich ihren Salat ver­speiste. Dabei hielt Marie die Ohren gespitzt. Sie brauchte nicht lange zu warten.

Hoffentlich sagt Daniel ihr bald die Wahrheit. Ich halte diese Heuchelei nicht mehr lange aus. Nach Feierabend werde ich ihn anrufen und … ach, Mist, dann ist Marie ja zu Hause und wir können nicht reden. So geht es nicht weiter, ich …

„Was hat sich denn bei dir in der letzten Woche so getan?“, fragte Marie und rang sich ein Lächeln ab. Sie hatte Evas Ge­danken einfach unterbrechen müssen. Noch eine Unver­schämtheit mehr und sie wäre ihrer ‚besten Freundin‘ an die Kehle gesprungen!

„Oh, nicht viel. Alles wie immer.“ Eva sah auf ihre Armband­uhr, trank ihr Glas leer und tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Du, tut mir leid, aber ich muss los, meine Mit­tagspause ist gleich vorbei.“ Sie stand auf und gab Marie einen Kuss auf die Wange.

Genau wie Judas, dachte Marie angewidert.

Erst am späten Nachmittag kam sie zu Hause an. Sie war noch im Stadtpark spazieren gegangen, und wenn jemand an ihr vorbei gekommen war, hatte sie auch dessen Gedanken gehört. Wo kam diese plötzliche Fähigkeit her, zum Kuckuck?

Sie sah wieder den netten Kellner vor sich, hörte ihn fragen, ob der Salat nicht in Ordnung sei. Der Salat! Lag es daran, an diesen Blüten? Vielleicht an der einen, die Eva nicht gehabt hatte?

Sie hörte Daniels Schlüssel im Schloss. Langsam stand sie auf und ging ihm entgegen. Ihr Herz raste.

„Hi, Schatz“, sagte er fröhlich, schloss die Tür und gab ihr einen Kuss.

Noch ein Judas, schoss es Marie durch den Kopf.

„Wie war dein letzter Urlaubstag?“ Sie sieht aus, als hätte sie schlechte Laune. Das kann ich jetzt echt nicht brauchen.

„Sehr interessant“, sagte Marie langsam. „Ich habe mit Eva zu Mittag gegessen.“

Er legte seinen Schlüssel auf die Kommode und stellte seine Aktentasche daneben. „Wie geht‘s ihr?“ ‚Interessant‘ hat sie gesagt. Das klingt nicht gut. Hat Eva etwa gebeichtet? Hof­fentlich nicht!

Marie verschränkte die Arme, um sich davon abzuhalten, auf ihn loszugehen.

Es stimmte also. Ein kleiner Teil von ihr hatte noch immer gehofft, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht vor Wut und Enttäu­schung aufzuschreien.

„Es geht ihr prima“, brachte sie mühsam hervor. „Sie ist offen­sichtlich frisch verliebt.“

„Aha. Soso.“ Daniel sah an ihr vorbei in die Küche und rieb sich die Hände. „Was gibt es zu essen?“

Marie hätte ihn am liebsten erwürgt.

„Wie wäre es mit knusprigem Lumpbraten und zarten Be­schissböhnchen?“, grollte sie.

Irritiert drehte er sich um. „Wie bitte?“

Sie fixierte ihn kühl. „Was bist du nur für ein feiger Schuft. Ich weiß es, Daniel.“

Ich hab’s geahnt. Verdammt, Eva! Wir hatten doch abgemacht, dass ich mit Marie rede. Ich bin noch nicht soweit!

Unschuldig sah er sie an. „Wovon redest du, zum Teufel?“

„Das weißt du genau. Von dir und meiner besten Freundin.“

„Du glaubst, dass Eva und ich …?“ Daniel schnaubte entrüstet. „Wie kommst du nur auf so eine schwachsinnige Idee?“

Er war wirklich überzeugend. Unter anderen Umständen wäre sie ihm glatt auf den Leim gegangen.

„Ich weiß, dass ihr auf Sylt gewesen seid, als ich weg war.“

Er tippte sich an die Stirn. „Das ist albern, Marie. Ich konnte nicht mit in den Urlaub, weil ich arbeiten musste. Das weißt du doch. Warum sollte ich also mit Zicken-Eva nach Sylt fah­ren?“

Ach ja, Sylt. Evas nackter Körper im Meer, die heißen Nächte im Hotel …

„Heiße Nächte im Hotel, ja?“, fauchte Marie. „Du kotzt mich an, Daniel.“

Er starrte sie an wie einen Geist. „Was hast du da gesagt?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Sie musterte ihn voller Verachtung. „Ich muss hier raus. Wenn ich wiederkomme, bist du verschwunden. Für immer.“

Es dämmerte bereits, als sie das Restaurant betrat. Der Kellner mit den blonden Wuschelhaaren saß am Tresen und trank ein Bier. Marie trat auf ihn zu. „Hallo. Schon Feierabend?“

„‘Schon‘ ist gut.“ Er drehte sich um, erkannte sie und strahlte. „Oh, hallo! Haben Sie etwas vergessen heute Mittag?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich würde nur gern mehr über die Blüten erfahren, die in dem Salat waren.“

Er ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. „Ach so. Warten Sie, ich hole den Koch.“

Komischer Grund. Egal. Hauptsache, sie ist hier.

Er rutschte vom Hocker und ging in die Küche.

Der Barkeeper sah ihm nach. Andys Hintern ist zum Anbeißen. Zu schade, dass er hetero ist.

„Möchten Sie was trinken?“, fragte er Marie. Ich wette sie trinkt Weinschorle.

„Ich mag Weinschorle, doch im Moment ist mir nach etwas Stärkerem“, sagte sie matt. „Einen doppelten Whisky bitte.“

„Äh …“ Der Barkeeper blinzelte. „Kommt sofort.“

Als er ein Glas vor Marie abstellte, trat Andy trat mit einem unwirsch dreinblickenden Mann aus der Küche. „Sie wollten mich sprechen?“

„Ja.“ Sie trank einen Schluck. Ah, tat das gut! „Würden Sie mir verraten, welche Blüten Sie für ihren Salat verwenden?“

„Das ist kein Geheimnis. Kornblumen, Kapuzinerkresse, Zitronenbaumblüten und Ringelblumen.“

„Könnte da auch noch eine andere Blüte dabei gewesen sein, eine ähnliche?“

„Unwahrscheinlich.“

„Aber möglich ist es?“

„Möglich ist alles.“

„Was für eine Blüte könnte das gewesen sein? Wissen Sie das?“

Mann, die kann nerven! „Keine Ahnung. War das alles? Ich hab Steaks in der Pfanne.“

„Ja, das war alles, danke.“ So ein Widerling!

Er brummte etwas und verschwand. Andy setzte sich zu Marie.

„Es geht mich ja nichts an, aber warum wollten Sie das wis­sen?“

„Das ist eine lange und verrückte Geschichte.“ Sie trank noch einen Schluck. „Ich hatte einen grässlichen Tag und vielleicht hatten die Blüten damit etwas zu tun.“

„Sie sind Ihnen nicht bekommen? Das tut mir leid.“

„Nein, das ist es nicht. Körperlich geht es mir gut.“

Sie … ein wenig durcheinander … sein. Und … sieht … aus.

Marie sah ihn prüfend an. Andys Gedanken klangen wie eine gestörte Telefonverbindung. Ließ die Wirkung der Blüten nach? Auch gut. Für einen Tag hatte sie wahrlich mehr als genug gehört.

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte er sich.

„Kaum“ seufzte sie. „Mein Verlobter schläft mit meiner Freundin.“

Andy schnalzte mit der Zunge. „Das tut mir leid!“

„Danke. Und wie sieht nun Ihre Hilfe aus?“

Er dachte einen Augenblick lang nach. „Wir könnten uns unter­halten“, schlug er schließlich vor und lächelte charmant. „Ich kann gut zuhören.“

„Tatsächlich?“

„Oh ja. Ich studiere nämlich Psychologie. Hier arbeite ich nur nebenbei. Also, wie wäre es? Lust auf Herz ausschütten? Wie wäre es beim Chinesen?“

„Sie können wohl Gedanken lesen“, schmunzelte sie. „Ich liebe chinesisches Essen.“

ENDE

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