Читать книгу PatchWords - Britta Bendixen - Страница 8

Einfach kann doch jeder

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Herbert seufzte. „Nu mach schon, Inge! Was tüdelst du denn so lange rum? Wir sind spät dran!“

Inge schlüpfte in ihre bequemen Segelschuhe und schnappte sich ihre Handtasche.

„Hetz mich nicht, ich bin ja schon fertig.“

Endlich fiel die Haustür hinter ihnen ins Schloss.

Auf dem Weg zum Flugplatz fing sie an, ihrem Ärger über den geplanten Ausflug Luft zu machen.

„So eine Schnapsidee! Zu nachtschlafender Zeit müssen wir uns Flensburg von oben angucken. Wie kam Jochen bloß auf diesen tumpigen Gedanken?“

Herbert schaltete höher. „Ich hab ihm mal erzählt, dass ich das noch nie gemacht hab. Er wollte mir eine Freude machen.“

„Und Barbara und ich müssen auch noch mit! Dabei leide ich doch unter Höhenangst.“

„Du hast keine Höhenangst.“

„Hab ich wohl! Als wir auf dem Eiffelturm waren, ist mir ganz kodderig geworden.“

„Was musstest du auch vorher zwei Crepès essen? Da wär ja nu wirklich jedem schlecht geworden.“

Inge schwieg beleidigt.

Barbara strahlte. „Ich freue mich schon so! Das wird bestimmt toll.“

„Ja, sicher.“

Jochen war abgelenkt. Er ärgerte sich über den angeborenen oder anerzogenen deutschen Gehorsam, der ihn dazu brachte, an der roten Ampel stehen zu bleiben, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war. Wer war auch schon an einem Samstagmorgen um halb fünf unterwegs?

Sollte er vielleicht doch …

Die Ampel sprang auf gelb und entließ ihn damit aus seinem Gewissenskonflikt.

Kurz darauf erreichten sie den Flugplatz Schäferhaus.

„Sie sind noch nicht da“, stellte Barbara beim Aussteigen fest.

„Da kommen sie schon.“ Jochen schloss den Wagen ab und winkte den Freunden zu.

Kurz darauf umrundeten sie zu viert das Flughafengebäude und erblickten auf der Wiese den noch ziemlich schlaffen Heißluftballon, mit dem sie sich in die Höhe begeben wollten.

Ein paar Männer waren mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der Älteste von ihnen, ein Hüne mit breitem Kreuz und wettergegerbtem Gesicht, kam ihnen entgegen. Auf dem grauen Haar trug er eine Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Mütze.

„Moin, ich bin Fiete.“

Er streckte eine schwielige Pranke aus und ließ als erstes Inges zarte Finger darin verschwinden. Sie lächelte gequält. Fiete hatte einen recht kräftigen Händedruck. Auch Barbara zuckte zusammen, als er sie begrüßte.

„Ich hoff ma, da is keen Drönbüdel und keene Bangbüx unter euch.“

Alle vier schüttelten den Kopf.

„Tscha, denn kann dat glicks losgehen. Man gut, wir ham kein Schietwetter. Die Jungs richten das gute Stück noch auf. Das is ne figgeliensche Sache. Ihr könnt schon ma reinkrabbeln.“

„Das hat er anscheinend wörtlich gemeint“, flüsterte Inge ihrem Mann zu. „Ich sehe gar keine Tür.“

„Da steht ein Hocker“, grinste Herbert. „Na, denn man los.“

Inge schnappte nach Luft. „Das ist doch wohl ein Scherz!“

Es war keiner. Und obendrein hielt Jochen ihre ungeschickten Kletterversuche mit seiner Videokamera fest.

In Inge brodelte es wie in einem heißen Fonduetopf.

Vom Korb aus beobachteten sie, wie sich der bunt gestreifte, dünne Stoff zu wölben begann. Erstaunlich behände gesellte sich Fiete zu ihnen.

„Na, denn woll’n wir mal. So in ein, zwei Stunden landen wir wieder. Wo genau, entscheiden wir spontan. Mein Kollege fährt uns mit‘m Auto hinterher und sammelt euch denn ein.“

Fiete zwinkerte Inge zu. „Zum Schluss wird jeder getauft und kriegt ne Urkunde und einen schicken Ballonfahrernamen. Ich heiße übrigens Luftgraf Fiete von der Förde, Herrscher über den Wolken. Na, is dat wat?“

Fiete betätigte den Brenner, woraufhin eine Flamme die Luft im Ballon weiter erwärmte. Inge hielt sich die Ohren zu und Herbert warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Das ist so laut!“, rief sie entschuldigend.

Als sich der Korbboden vom Rasen löste, quiekte Barbara vergnügt und Inges Kehle entschlüpfte ein leiser Schreckensschrei.

Fiete schloss das Ventil, der Lärm verstummte abrupt und langsam stiegen sie in den blauen Himmel hinauf. Barbara, Jochen und Herbert sahen nach unten. Nur Inge traute sich nicht so recht.

Fiete trat zu ihr. „Ganz ruhig, mien Deern. Ich versprech dir, ich bring dich heil wieder runter. Noch is keiner oben geblieben.“

„Ist das nicht schön?“, schwärmte Barbara. „Da vorn ist schon Harrislee.“

„Ich sehe den Marktplatz“, bestätigte Jochen eifrig. „Und da unten, da rechts, in dem weißen Haus, da wohnte meine erste Freundin.“

Barbara lächelte säuerlich. „Etwa die, die wir neulich getroffen haben? Die mit dem dunklen Haaransatz und den drei Scheidungen?“

„Nein, eine andere“, erwiderte Jochen knapp. „Kennst du nicht.“

In den nächsten Minuten herrschte atemlose Stille. Die Sonne stieg höher und tauchte den Horizont in leuchtende Farben.

„Herrlich!“ Herbert konnte sich gar nicht sattsehen.

Fiete zog Inge am Ärmel. „Ist das nich ne tolle Aussicht? Nu guck doch ma!“

„Lieber nicht. Ich leide nämlich unter Höhenangst.“

Herbert drehte sich zu Fiete um und rollte vielsagend mit den Augen. „Tut sie nicht. Keine Bange.“

„Da! Das Meer!“ Jochen hob seine Videokamera hoch. Sie schwebten langsam auf die Ostsee zu.

„Da hinten is Dänemark“, erklärte Fiete.

Barbara nickte begeistert. „Und da - die Ochseninseln!“

Wenig später sahen sie ein kleines Spiegelbild von sich und dem Ballon auf der Wasseroberfläche.

Sie waren bereits über eine Stunde unterwegs, als Fiete das Ventil öffnete und der Lärm ausblieb. Besorgt brummelte er vor sich hin und versuchte es erneut.

Jochen ließ seine Kamera sinken und drehte sich zu ihm um. „Was ist los?“

Fiete lüftete seine Mütze und kratzte sich den Scheitel. „Tscha, ich sach ma so: Der Wind will nich so wie ich will und die Gasflaschen sind leer.“

„Was soll das heißen?“ Inge musterte Fiete misstrauisch.

„Das soll heißen, die Natur is unberechenbar. Ab und zu macht der Wind so ‘n lütten Schlenker, mit dem kein Schwein gerechnet hat.“

„Nu ma Butter bei die Fische“, forderte Jochen. „Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, wir könnten in der Ostsee landen, wenn der Wind nicht bald aus der richtigen Ecke pustet.“

Inge sah nervös zu Herbert, der wiederum mit Jochen einen Blick tauschte.

Fiete besprach sich per Handy mit seinem Kollegen, der ihnen im Auto gefolgt war. Er klang ernst.

„Guckt mal!“

Barbaras Stimme klang dünn. Sie hatte sich über die Kante des Korbs gebeugt und sah nach unten. Die anderen folgten ihrem Beispiel, sogar Inge wagte nach kurzem Zögern, einen Blick über den Rand zu werfen. Das Spiegelbild des Ballons war deutlich größer als vorher.

Inge wich zurück. „Herbert, ich hab Angst“, presste sie hervor.

Barbaras Kinn zitterte. „OGottogott!! Jochen, tu doch was!“

Jochen wandte sich an Fiete. „Ich sag Ihnen mal was: Wenn uns was passiert, dann sollten Sie sich warm anziehen. Mein Nachbar ist Anwalt. Eine gesalzene Schadensersatzklage ist Ihnen sowas von sicher, wenn -“

„Jochen, hör auf!“ Herbert zog seinen Freund am Ärmel zurück.

Fiete blieb gelassen. „Lass man, mien Jung! Is doch klar, dass dein Kollege nich begeistert ist. Wenn die Berechnungen nich stimmen, dafür kann ich nix. Kann schon sein, dass wir nasse Füße kriegen.“

„Nasse Füße?!“ Herbert schüttelte zweifelnd den Kopf. „Hier ist das Wasser ein paar Meter tief. Und bis zum Ufer sind es gut und gerne zweihundert Meter. Bei einer Wassertemperatur von höchstens 14 Grad …“

„Jochen!“ Barbara schrie nun fast. „Ich kann nicht so gut schwimmen, das weißt du. In kaltem Wasser schon gar nicht. Und meine neuen Lederschuhe …“

„Scheiß auf deine Schuhe!“, brüllte Jochen. „Denk lieber an die Kamera. Die hat fast tausend Euro gekostet!“ Er drehte sich zornig zu Fiete um. „Ihre Firma wird sich dumm und dusselig zahlen, das verspreche ich Ihnen.“

Barbara sah wieder über die Kante auf die stille Oberfläche, die im Licht der aufgehenden Sonne glitzerte. Das Spiegelbild war noch größer geworden.

„Wir werden gleich alle ertrinken“, hauchte sie.

Inge schlug sich die Hände vors Gesicht.

„Seid ihr nu fertich mit lamentieren?“ Fiete verschränkte die Arme. „Hätt ich gewusst, dass ich es mit vier Bangbüxen zu tun krieg, wär ich gar nich losgefahr’n. Nu reißt euch ma ‘n büschen am Riemen!“

Die Frauen sahen eingeschüchtert aus, die Männer wirkten beschämt und gleichzeitig entrüstet. Was sich dieser Kerl herausnahm …

„Tatsache is“, fuhr Fiete fort, „wir können nich viel machen. Mein Kumpel weiß, wo wir sind, aber bis er ein Boot hat, dauert es noch ne Ecke. Also: Ruhe bewahr’n. Panik bringt uns nich weiter, klar?“

Vier betretene Köpfe nickten stumm.

Jochen ließ die Kamera schweifen und plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Da hinten ist eine kleine Jolle!“, rief er.

„Oh, Gott sei Dank!“ Barbara schloss erleichtert die Augen.

Fiete schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab. „Die ist aber noch bannig weit weg.“

Jochen begann dennoch zu winken. „HAL-LO! HIER-HER!“

Nichts geschah.

„Sie hören mich nicht“, kapierte Jochen. „Wir sind zu weit weg.“

„Wir müssen alle zusammen rufen“, schlug Herbert vor. „Luftgraf Fiete von der Förde, Sie auch.“

Alle fünf schrien und winkten, so laut und heftig sie konnten. Ihre Bemühungen waren erfolgreich, die zwei Männer auf der Jolle winkten freundlich zurück.

„Na klasse!“ Jochen verzog das Gesicht. „Sie sind zwar höflich, aber nicht sehr hilfreich.“

Schließlich schienen die Segler zu kapieren, dass es doch um mehr ging als um den Austausch von Höflichkeiten. Sie steuerten auf den Ballon zu, allerdings im Schneckentempo.

Es ruckte und Inge schrie auf. „Oh Gott! Wir gehen unter!“

Jochen verstaute eilig seine Kamera. Herbert sah zu Boden. Wasser sickerte herein, anfangs wenig, doch es wurde schnell mehr. Die Feuchtigkeit drang durch Sohlen und Socken.

„Verdammt kalt, die Brühe“, murmelte er.

„Meine Schuhe sind schon ganz nass“, jammerte Barbara. „Die kann ich nur noch wegschmeißen.“

Fiete stellte sich neben die bleich gewordene Inge. „Mach dir man nich ins Hemd, mien Deern. Ich pass schon auf, dass du nich untergehst. Meine Rettungsschwimmer-Ausbildung is zwar dreißig Jahre her, aber sowas verlernt man nich. Is wie Fahrradfahren.“

Inge rang sich ein Mini-Lächeln ab.

Der Ballon neigte sich zur Seite. Er sah aus, als hätte er eine Blitzdiät gemacht. Schlapp und dünn sank er immer weiter, bis er sich auf der Wasseroberfläche ausbreitete wie ein großer bunter Teppich.

Inge schloss die Augen. Das Wasser stand nun kniehoch. Sie zitterte vor Furcht und vor Kälte. Ihre Finger krallten sich an die Bordwand.

Als die Ostsee um ihre Hüften schwappte, war die Jolle so nah, dass sie die Segler erkennen konnten.

„Siehste.“ Fiete lächelte in Inges Richtung. „Nu wird alles gut. Wasser hat manchmal eben doch Balken.“

Inge sah zu ihm hoch. „J-j-j-ja, jetzt glaube ich d-d-d-das auch“, bibberte sie und erwiderte fröstelnd aber dankbar sein Lächeln.

Endlich war die Jolle da.

„Was macht ihr denn für Sachen?“

Einer der beiden Segler, ein blondgelockter Mittzwanziger, grinste frech. Jochen sah aus, als wolle er ihm ins Gesicht springen, doch Fiete stellte sich rasch vor ihn.

„Moin! Seid ma so nett und bringt die Landratten ans Ufer.“

„Das wird nix“, beschied der Lockenkopf. „Die Jolle ist zu klein für so viele.“

„Dann eben in zwei Etappen. Die Frauen zuerst“, bestimmte Herbert.

Inge und Barbara standen am Strand und beobachteten, wie die Jolle mit ihren frierenden Männern näher kam.

„Wie spät ist es?“, fragte Barbara und rieb die Gänsehaut an ihren Armen glatt.

„Gleich halb acht. Wieso?“

Barbara fing an zu kichern.

„Was ist denn daran so witzig?“, fragte Inge gereizt. „Wir sind völlig durchnässt, kriegen eine Erkältung, deine Schuhe sind ruiniert - und du lachst!“

„Überleg doch mal“, gluckste Barbara. „Es ist Samstagmorgen, halb acht. Alle schlafen noch, aber wir haben schon das Abenteuer unseres Lebens hinter uns.“

Nun musste auch Inge grinsen. „Stimmt. Das glaubt uns kein Mensch.“

Mit leisem Rauschen schlugen kleine Wellen an den Strand, die Luft roch würzig nach Salz und Seetang.

„Ist ja glücklicherweise alles gut gegangen“, resümierte Barbara, während die Männer aus der Jolle krabbelten. „Sogar Jochens Kamera hat alles heil überstanden.“

Inge nickte nachdenklich. „Eine Ballontaufe habe ich mir aber anders vorgestellt.“

„Ach Inge, lass man.“ Barbara winkte ab. „Einfach kann doch jeder.“

ENDE

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