Читать книгу Mitten im Steinschlag - Britta Kiehl - Страница 8

Оглавление

5. Kapitel

Vor Wut schnaubend suchte Sarah in den Besitzurkunden für die Ländereien von Castle Lenox. Mit brachialer Gewalt hatte sie sämtliche Schubladen aus der Kommode gerissen und den Inhalt wild auf dem Parkettfußboden verteilt.

Seit einer Stunde schon suchte sie den Nachweis, dass Lord Bradley außerhalb seiner Grundstücksgrenzen das ihn umgebene Land widerrechtlich und dreist für seine Zwecke nutzte.

Ungehalten öffnete Sarah nun bereits die achtzehnte Urkundenrolle, als sie ins Stutzen kam. Das vor ihr liegende Dokument regelte die abgetretenen Besitzverhältnisse einer kleinen Landfläche, angekauft vor fünf Jahren von Castle Corlens. Die markante Handschrift auf der Urkunde kam ihr seltsam bekannt vor. Stirnrunzelnd legte sie die Rolle beiseite, um sich weiter im Chaos der Papierwelt durchzuarbeiten. Nach weiteren unendlich langen Minuten hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte.

„Wurde auch Zeit“, dachte sie aufatmend.

In hohem Bogen flog die gesuchte Rolle zielsicher auf den Schreibtisch, wo sie haarscharf an der Schreibtischkante zum Liegen kam. Beim Wiedereinräumen der Schubladen ließ sie ihr ganzes, ungestümes Temperament walten.

In wenigen Minuten waren die ramponierten Schubladen wieder an ihrem Platz und die Rollen vom Boden aufgesammelt. Nur eine Rolle hielt sie zurück. Eine, welche ihr Kopfzerbrechen bereitete. Irgendetwas war hier nicht richtig, nicht mit der Urkunde selbst, nein, vielmehr mit der Handschrift. Sarah marterte sich das Gehirn. Noch einmal besah sie sich das Papier.

Die Urkunde war vom Kronprinzen der Corlens aufgesetzt, unterzeichnet und von ihrem Vater gegengezeichnet. Nichts Ungewöhnliches wie sie fand.

Dann fiel ihr ein, dass sie die Schrift erst vor Kurzem auf einem anderen Schriftstück schon einmal gesehen hatte. Die Neugier packte sie. Stöbernd machte sie sich an dem Schreibtisch ihres Vaters zu schaffen. Nach eingehender Suche, zwischen abgelegten, erledigten Korrespondenzen, Notizen und Rechnungen fand sie einen Kurzbrief mit der gesuchten Handschrift.

„Donnerwetter. Ich werde nicht wieder …“, brach es aus ihr heraus, als sie auf das Blatt stierte, wie eine Eule auf eine fette Maus. Der Brief, welchen sie in Händen hielt, stammte vom unbekannten Schreiber, der Lizzy gefunden hatte.

„Von wegen Tischler“, knurrte Sarah verächtlich, „habe ich dich!“

Umgehend hatte sie Liam instruiert, sechs der besten Gardemitglieder für einen Sondereinsatz bereit zu halten. Lizzy, die ihrer Schwester seit der Beichte um Daniel vertraute, erzählte ihr auf geschickte Anfrage arglos, wann sie Daniel wieder treffen würde.

Sarah war sich sicher, dass Lizzy nicht die beste Vorsicht walten lassen würde. Dieser Umstand würde die Sache für Sarah vereinfachen. Blieben nur noch die beiden Wachleute, die Lizzy stets zu begleiten pflegten.

Sarah verschwendete keine weiteren Gedanken an dieses kleine Problem. Es würde sich vor Ort lösen lassen. Bedauerlich fand sie, dass sie nie versucht hatte, die Wachen zu bestechen, damit sie den geheimen Treffpunkt der beiden preisgeben würden. Doch so viel Niedertracht hatte sie bisher nicht in Erwägung gezogen, es bestand kein Grund dafür. Die Situation hatte sich grundlegend geändert. Sie musste auf alles vorbereitet sein. Ihr Gegner war wendig wie ein Frettchen und galt mit Schwert und Degen als unbesiegbar.

Eine Niederlage durfte sie nicht riskieren.

Kurzzeitig meldeten sich Gewissensbisse, die sie schnell beiseite wischte. Lizzy würde ihr unendlich dankbar sein, wenn sie erfahren würde, welcher Lüge und Hinterhältigkeit sie sich ausgeliefert hatte.

Triumphierend rieb sich Sarah die Hände. Dieses war das letzte „Stelldichein“ für das ungleiche Paar, dessen war sie sich gewiss.

Ihr Plan ging auf. Lizzys Verfolger verstanden ihr Handwerk perfekt. Unsichtbar und geräuschlos hatten sie die am Treffpunkt wartenden Wachen überwältigt.

Obwohl Daniel, von einem unguten Gefühl getrieben, immer wieder die Umgebung wachsam im Auge behielt, bemerkte er keine Auffälligkeiten. Lizzy fühlte seine Unruhe und Nervosität, die sich immer mehr steigerten. Immer wieder misstrauisch das Umfeld taxierend, beschloss Daniel schließlich, Lizzy schnellstmöglich nach Hause zu schicken. Doch es war zu spät. Die blitzschnell, aus dem Nichts aufgetauchten Gardesoldaten ließen Daniel nicht die kleinste Möglichkeit auf Widerstand. Sechs geladene Schusswaffen waren auf ihn gerichtet, dazu Sarahs bedrohlich näherkommende Degenspitze an seinem Hals.

Lizzy war vor Entsetzen zu keiner rationalen Handlung fähig. Erst als man sie von Daniel wegzerrte, verstand sie was um sie herum vor sich ging. Ihr Herz setze einige Schläge aus, als sie mit weitaufgerissenen Augen Sarahs als Organisator dieser Farce ansichtig wurde.

Wutentbrannt schrie sie ihre Schwester an:

„Was soll das? Bist du wahnsinnig geworden? Missbrauchst du so mein Vertrauen?“ Tränen schossen ihr in die Augen.

„Du wirst mir noch auf Knien danken, glaub mir Schwesterchen. Es geschieht alles nur zu deinem Besten und zum Wohl unseres Landes.“ Mit verächtlichem, hasserfülltem Blick sah sie Daniel an, dem man die Arme recht unsanft auf den Rücken zusammengebunden hatte.

Der hielt Sarahs Blick gelassen und ungerührt stand.

„Abführen und zurück zum Schloss!“, herrschte sie die Soldaten an.

Sarah war fest davon überzeugt, dass ihre Handlungsweise die einzig Richtige war.

Zurück im Schloss erkundigte sie sich umgehend nach dem Aufenthaltsort ihres Vaters. Von einem Bediensteten erhielt sie die Auskunft, dass sich seine Majestät in seinem Büro aufhielt und nicht gestört zu werden wünschte.

Wie schon so oft, widersetzte sich Sarah dieser Anweisung ungeniert. Resolut marschierte sie in die angegebene Räumlichkeit ohne Anmeldung, ohne Klopfen, ohne Gruß.

Ihr Vater saß tief über einem Schreiben gebeugt, am penibel aufgeräumten Schreibtisch. Dr. Gregory stand neben ihm, ebenfalls mit gespanntem Blick auf das Papier gerichtet. Als von Sarah die Tür aufgerissen wurde, sahen beide mit empörtem Gesichtsausdruck auf den Störenfried, der triumphierend in das Zimmer trat.

Die immer noch tobende, fast schon hysterische Lizzy schob sich an ihrer siegestrunkenen Schwester vorbei, bevor Sarahs Trophäe von zwei Gardemitgliedern unsanft in den Raum gedrängt wurde.

König William schloss tief durchatmend kurz die Augen, bis er meinte bereit zu sein, sich dem Tumult in seinem eben noch ruhigen Büro zu stellen. Seitlich von ihm stand noch immer Dr. Gregory halb belustigt, halb schockiert über die seltsame Szene. Lizzy schrie ihre Schwester tränenreich an. Diese resignierte und lachte stattdessen höhnisch auf.

„Krieg dich mal wieder ein. Schließlich habe ich dich vor der dümmsten Torheit deines Lebens bewahrt und uns stattdessen den dicksten Fisch, den wir kriegen konnten, an Land gezogen.“

Aufs höchste provoziert schrie Lizzy böse:

„Du niederträchtiges Ding. Was fällt dir ein? Ich weiß ganz genau was ich mache, aber du -“

König William beendete das Gezeter, indem er ordentlich mit der Faust auf den Eichentisch schlug und sich Ruhe erbat. Sofort war es still im Raum.

„Was soll dieser Aufruhr?“, fragte er in ruhigem Ton, hinter dem es jedoch bedenklich brodelte. Beide Mädchen setzten erneut zum Streitgespräch an. Während der Gefangene gelangweilt die Zimmerdecke inspizierte, gebot Dr. Gregory Lizzy fürs Erste zu schweigen und sich zu setzen.

„Dad“, setzte Sarah hocherfreut an, „ich hatte dir von Anfang an gesagt, dass die Geschichte die um Lizzys Verschwinden gemacht wurde, zum Himmel stinkt! Weißt du mit wem sich Lizzy heimlich außerhalb des Schlosses trifft? Nein? Dann sage ich es dir. Mit diesem Abschaum hier, ein Corlens vom aller Feinsten. Kronprinz Daniel.“ Sie lachte schrill, sodass man ihre kerzengeraden, schneeweißen Zähne sah. Lizzy wollte erneut zur Rechtfertigung ansetzen, doch William gebot ihr mit einer einzigen Handbewegung Einhalt.

Ungerührt wandte er sich dem Gefangenen zu.

„Seid ihr wirklich der gesuchte Kronprinz?“

Der Angesprochene hob mit einem bedauernden Lächeln bejahend die Schultern.

„Ihr habt meine Tochter getäuscht und euch als Tischler ausgegeben? Ist das richtig?“

Daniel sah immer noch ungerührt aus, bevor er seine Kenntnisse als erfahrener Möbeltischler herunterleierte.

„Eichenschreibtisch, etwa einhundert Jahre alt, kürzlich mit Schellack aufpoliert. Intarsien aus Ahorn, Kirschbaum und Erle, soweit ich das von hier aus sehen kann. Und sollte man Euch die neu gefasste Einrahmung als Mahagoniholz verkauft haben, so hat man euch betrogen. Die Zierleisten sind nur dunkel gebeizt.“

„Donnerwetter“, erwiderte der König interessiert.

„Ihr meint wirklich, dass ich mit den Zierleisten betrogen wurde?“, fragte er noch einmal.

„Dad, was soll das werden!“, entfuhr es Sarah wütend.

„Ach ja, wo war ich stehen geblieben?“ Er wand sich Lizzy zu, die den Eindruck machte, als würde sie jeden Augenblick vor lauter aufgestauten Worten der Rechtfertigung explodieren.

„Dad, was soll denn nur das Ganze? Daniel wird wegen Hochverrat am eigenen Königshaus gesucht. Der ist doch keine Gefahr für uns, im Gegenteil. Und im Übrigen sei gesagt, dass ich wusste, wer er ist und welches Risiko ich mit dem Wissen eingegangen bin.“ An Sarah gerichtet fügte sie unwirsch hinzu:

„Und stell dir vor, er hat es mir gesagt.“

Sarah sah perplex ihre Schwester an. Aller Wind war ihr mit einem Schlag aus den Segeln genommen.

Doch ein Triumph blieb ihr noch, sie hatte den Kronprinzen gefangen, dass würde ein herrliches Lösegeld von Corlens Castle geben. Sie wurde ein zweites Mal enttäuscht.

Lizzy ließ es sich nicht nehmen, mit dem Brieföffner Daniels Fesseln zu durchschneiden.

„Das ist doch alles albern hier“, wetterte sie unverblümt, ohne weder auf Sarah noch auf die fragend aufsehenden Wachen zu achten.

William stand von seinem Schreibtisch auf. Ein kurzer Blick auf Gregory gerichtet bestätigte ihm, dass die Entscheidung, welche er nun zu treffen gedachte, die richtige war.

„Liebt ihr meine Tochter?“, ging seine kurze und knappe Fragestellung an Daniel. Dieser bejahte ebenso kurz wie entschlossen.

„Lizzy, liebst du diesen Mann?“

„Natürlich, von ganzem Herzen“, gab sie mit fester Stimme zurück.

Der König setzte sich wieder in seinen bequemen Sessel, während sich Lizzy schützend neben Daniel stellte, der sich die Handgelenke rieb. Sarah wollte erneut aufbegehren, wurde aber dieses Mal von Gregory zum Schweigen aufgefordert. Für einen kurzen Moment verschwand William unter dem Schreibtisch. Als er nach einigem Suchen in den untersten Schubladen fündig wurde, tauchte er wieder auf mit einem vergilbten Schriftstück in den Händen. Etwas mühselig breitete er das alte Dokument auf dem Schreibtisch aus, warf einen kurzen, bestätigenden Blick darauf und nickte zufrieden.

„Ich verbiete euch beiden mit sofortiger Wirkung, euch am Green Lake herumzutreiben. Ab sofort und das ist mein bitterer Ernst, erfolgen Ausritte grundsätzlich mit Begleitschutz, besonders was die Corlens Ländereien betrifft. Das gilt für euch beide und ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Mit jetziger Wirkung …“, er richtete seine Worte speziell an Daniel, „mit jetziger Wirkung werdet Ihr Euch als mein lieber, etwas unerfahrener Urgroßneffe Sir Daniel Craine ausgeben und die Räumlichkeiten neben Lizzy bewohnen.“ Wie zu sich selbst fügte er etwas leiser hinzu:

„Die Zimmer haben Verbindungstüren.“

„In meinem alten Zimmer!“, empörte sich Sarah erneut. William ignorierte diese Feststellung.

„Vor zwei Tagen seid Ihr mit dem Frachtschiff Santa Lucretia angekommen und habt Euch abenteuerlustig auf unseren Ländereien herumgetrieben. Sarah hat Euch gegen Euren Widerstand eingesammelt und an Euren Bestimmungsort geschafft. Ihr wurdet von Euren völlig überforderten Verwandten geschickt, um in unserem Haus den sogenannten ‚letzten gesellschaftlichen Schliff‘ zu erhalten.“

Daniels Augen wurden groß wie Wachteleier vor Verblüffung. Eigentlich hatte er sich darauf eingestellt, dass er sich in der nächsten Zeit in der untersten Etage des Schlosses aufhalten werden müsse. Dass das Blatt sich derart wenden würde, darauf war er nicht vorbereitet.

„Selbstverständlich steht es Euch frei, das Schloss zu verlassen, damit ihr Euren Verbindlichkeiten weiter nachgehen könnt“, schloss der König seine Rede, um der Angelegenheit ein Ende zu setzen.

Freudestrahlend hatte sich Lizzy an Daniels Hals gehängt. Sachte drückte er sie zurück.

„Du erwürgst mich“, sagte er leise zu ihr, ohne seinen ernsten und überlegten Gesichtsausdruck zu ändern.

Sarah brauste auf wie eine von der Kette gelassene Dogge.

„Was tust du da Dad? Dieser Mistkerl kann uns gut verpackt Lösegeld, Freibriefe, Wegerechte und, und, und einbringen! Und was tust du? Einer Laune folgen? Und du Lizzy solltest dich schämen, dich mit einem Corlens einzulassen und … ich wage gar nicht weiter zu denken.“

„Ist auch zu spät“, antwortete Lizzy spitz.

„Es ist jetzt genug Sarah. Mäßige dich in deinem unangemessenen Tonfall. Ich bin noch nicht senil mein Töchterchen. Ich weiß was ich tue. Im Übrigen steht der junge Mann hier auf unsere Seite. Lass endlich Vernunft walten Sarah und beschäme uns nicht. Mein Entschluss steht fest. Damit ist das Gespräch hier beendet und ihr könnt euch alle entfernen.“

Während sich das Zimmer leerte, nahm Dr. Gregory zwei Kristallgläser aus dem Schrank und füllte sie mit Brandy. Stumm reichte er seinem verärgerten Freund ein Glas.

„Ich hätte es nicht besser machen können“, sagte er immer noch leicht amüsiert.

„Ich weiß nicht, was in Sarah gefahren ist. So kenne ich sie nicht.“ Mit einem Zug leerte William das ihm gereichte Glas.

„Instinkt, einfach nur Instinkt“, sagte Gregory schmunzelnd.

Sarah war mit der prompten Entscheidung ihres Vaters in keinster Weise einverstanden.

Daniel gehörte einer Mörderfamilie an, die ihre Macht durch Hochmut und Tyrannei ausweitete.

So einer konnte nicht unschuldig sein, niemals. Fest von der Richtigkeit ihrer Einschätzung überzeugt, würde sie Möglichkeiten finden, Daniel zu überführen. Doch zuvor musste sie seine Schwachstellen finden und diese bei passender Gelegenheit gegen ihn ausspielen. Sie würde ihn demütigen, kompromittieren, beleidigen und verhöhnen, bis er sein wahres Ich zeigen würde. Dann war sie am Zug zu handeln.

Vorerst musste sie sich geschlagen geben. Die Dauer dieser Niederlage lag nun ganz allein in ihrer Hand.

Mitten im Steinschlag

Подняться наверх