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Trauer und Freude

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Mein Vater stirbt. Ganz plötzlich und, obwohl er krank war, vollkommen unerwartet. Schockstarre.

Dann rufe ich Tolja an. Ich weine. Durch mein Schluchzen hindurch versteht er am anderen Ende der Welt, was mir widerfahren ist. Er tröstet und sagt, dass er bald bei mir sein werde. Es ist Juni. Wir haben uns seit über fünf Monaten nicht gesehen.

Ich fühle mich so einsam, verlassen, überfordert und verliere die Hoffnung, dass er kommen darf. Dazu die Gewissheit, dass mich mein Vater nie mehr in den Arm nehmen wird. Nie mehr über meine Haare streichen wird und flüstern wird: „Alles wird wieder gut.“

Der Reisetermin rückt immer näher. Alles ist ja zeitlich genau festgelegt. Hin und Rückflug für ihn gebucht. Doch ein Plan B müsste her. Was werde ich in meinem Urlaub machen, wenn er nicht kommen darf? In meinem Kopf dreht sich alles. Jede Idee verwerfe ich sofort wieder. Allein sein? Geht nicht. Mit anderen zusammen sein? Geht nicht. Verreisen? Warum? Wohin? Ich bin durcheinander und so voller Trauer und Sehnsucht, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann.

Dann eine Mail von Tatjana. Vier Worte: Das Visum ist da!

Er darf kommen.

Ich bin so glücklich, so froh und auf merkwürdige Art erschöpft. Ich spüre wie nah Trauer und Freude beieinanderliegen können. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das alles ertragen soll.

Auch Tolja ist verwirrt. Er gesteht mir am Telefon, dass er nie wirklich daran geglaubt habe, diese Reise machen zu dürfen. Er wirkt so unsicher, dass ich einen kurzen Moment befürchte: Er traut sich nicht. Er kommt nicht.

Die Zeit wird knapp. Sein Weg bis zum Flughafen in Irkutsk ist weit. Mit dem Zug dreiunddreißig Stunden, mit dem Boot ungefähr zwölf Stunden. Doch die Tickets dafür hätte man schon viel früher buchen müssen. Das kleine Flugzeug, welches manchmal von Nischneangarsk nach Irkutsk fliegt, ist schon lange ausgebucht und wäre viel zu teuer. Also bleibt nur die Bahn. Schon in den nächsten Tagen muss er los.

Tatjana, unser Engel, kümmert sich. Eine Nacht wird er bei ihr in Irkutsk bleiben, dann bringt sie ihn zum Flieger und dann ist er auf sich alleingestellt. Geflogen ist er schon mal. Als junger Mann von Nischneangarsk nach Ulan-Ude. Vom Wohnort zur Ausbildung und zurück. Gut, also Flugzeug usw. kennt er. Aber er war noch nie in einem so großen Flugzeug, er war noch nie im Ausland. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie aufregend es für ihn sein muss.

Dann ist er auf dem Weg. Er wagt das Abenteuer. Die Nachrichten werden spärlich. Nicht überall hat er Internet.

Zum ersten Mal kommen bei mir Zweifel auf. War es richtig, ihn zu dieser Reise zu drängen? Habe ich das überhaupt getan? Als wir im letzten Sommer gemeinsam geträumt haben, war er es, der immer wieder von einer Chance gesprochen hatte. Mein Part bestand darin, Deutschland schlecht zu machen. Ich erklärte ihm, dass man bei uns nicht überall ein Lagerfeuer machen dürfe, dass selbst das Zelten nicht an jedem Ort erlaubt sei, dass die Gewässer nicht so sauber seien, wie der Baikalsee usw. Dann hatte ich aufgehört damit und mir gewünscht, dass er sich selbst ein Bild machen könnte. Das hatte ich jetzt geschafft. Er wird bei mir sein, mein Leben sehen. Und wir werden uns auch wieder ein bisschen besser kennenlernen dürfen.

Ungefähr jetzt müsste er in Moskau landen. Hoffentlich findet er den Weg zum Anschlussflug. Aber was mache ich mir für Sorgen? Hier kommt er ja noch mit seiner Sprache klar und ab Berlin werde ich dann da sein. Ich kenne mich ja aus. Glaub’ ich jedenfalls.

Und der Schamane lacht …

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