Читать книгу Und der Schamane lacht … - Britta Wulf - Страница 18

Baikal oder Ostsee

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Es regnet, es gießt, es schüttet. Die Autobahn ist leer und ich kann trotz des Regens relativ schnell fahren. Tolja filmt mit dem Handy das Wetterchaos und schickt die Bilder fast live nach Sibirien zu seiner Familie. Auch eine Fahrt auf einer deutschen Autobahn kann ein Ereignis sein. Ich denke an die Touren, die Tolja und ich in Sibirien gemacht haben. Fast hätte sein alter Lada meine Fahrkünste nicht überlebt, weil ich es nicht gewohnt war, den tiefen Löchern auf der Sandpiste auszuweichen. Jetzt kann ich beweisen, dass ich doch Autofahren kann. Es ist ein gutes Gefühl ein bisschen vor ihm anzugeben. Vielleicht fahre ich auch deshalb so schnell. Man wird wohl nicht so richtig viel klüger im Alter.

Der kleine Campingplatz liegt idyllisch. Sandboden, Kiefern und gleich hinter dem Zaun das Meer. Der Regen hat aufgehört, die Sonne scheint.

Tolja filmt seine erste Begegnung mit dem Meer. Über die Dünen, den breiten Sandstrand bis zum Wasser geht er langsam, mit dem Handy in der Hand. Er filmt und spricht leise vor sich hin. Wieder weiß ich nicht, was er fühlt. Ist er beeindruckt, enttäuscht, froh das Meer zu sehen? Keine Ahnung. Später, als ich seine Fotos und Videos auf einen Stick überspiele, kann ich hören, was er beim Filmen vor sich hingemurmelt hat. Meine freie Übersetzung: „Das Meer. Ich bin an der Ostsee, zum ersten Mal. Es ist wunderschön … aber es ist nicht der Baikal!“

Als ich das höre, muss ich schmunzeln. Das passt zu ihm. Er weiß selbst gar nicht, wie sehr er an seiner Heimat hängt. Von seinen früheren Gedanken, irgendwo neu anzufangen, Sibirien zu verlassen, ist nichts mehr zu spüren. Was mir schon lange klar ist, wird ihm erst jetzt bewusst. Er hat Heimweh.

Wir sprechen auch über seinen Sohn. Nie würde er ihn verlassen. Nie wird er mit ihm zu mir kommen können. Seine geschiedene Frau und Mutter seines Sohnes, würde nicht mal einem Besuch in Deutschland zustimmen. Tolja allein in Deutschland, ohne Kind, undenkbar. Und ich weiß, dass es auch nicht gut wäre. Mein Held aus der Taiga könnte hier nicht glücklich werden. Ihm würde hier zu viel fehlen. Ständig ist er mit großen Teilen seiner riesigen Familie in Kontakt. Es wird viel telefoniert und geschrieben. Nur wenn die Nummer aus Moskau auf dem Display erscheint, geht er nicht ran. Aber die Bedrohung meldet sich mehrmals am Tag. Selbst hier am Ostseestrand beim kitschigen Sonnenuntergang.


Wir machen Fahrradtouren, besuchen Naturkundemuseen, klettern auf Leuchttürme und schlafen in unserem kleinen Zelt. Beim Frühstück auf dem Campingplatz holen wir Tee und Kaffee bei Wolodja. Der Pole führt den Imbisskiosk und kann ein paar Worte Russisch. Ab und zu kommen wir mit ihm ins Gespräch und er gibt uns Tipps für Unternehmungen. Wir machen Urlaub. Seit ich weiß, dass er nie hier leben kann, versuche ich jeden Tag als Geschenk anzunehmen. Ich bin traurig, aber auch unendlich glücklich. Bevor ich diesen Menschen traf, war mir nicht klar, dass auch ich noch auf der Suche war. Ich glaubte wirklich, dass nichts fehlen würde in meinem Leben mit meinen nun erwachsenen Kindern und meinem wunderbaren Job. Jetzt weiß ich, dass es so nicht ist. Ich schwanke noch, ob ich die vergangenen Jahre ab jetzt Selbstbetrug nennen werde, oder ob es einfach eine neue Erkenntnis ist. Solch eine große Liebe passiert einem nicht oft im Leben und ich habe nicht mehr damit gerechnet. Nun halte ich jede kostbare Sekunde in meinem Gedächtnis fest. Zu wissen, dass ich es noch kann – bedingungslos lieben, ohne Wenn und Aber und eigentlich auch ohne Verstand, macht mich glücklich. Doch meine Pläne sind auch ganz real und Tolja lässt sich auf die Gedankenreise ein. Wir werden immer zusammen sein – darin sind wir uns einig. Und wir fühlen das so mächtig wie ein Naturgesetz. So wie wir sicher sind, dass der nächste Morgen kommt, so fühlen wir unsere Liebe. Das Wissen, dass unser Zusammensein etwas ist, das niemand infrage stellen kann, nicht einmal wir selbst, ist so schön wie der Sonnenuntergang am Meer. Dass wir noch keine Ahnung haben, wie ein Gemeinsamsein aussehen soll, stört uns in dieser Zeit nur ganz wenig.


Tolja gefallen die kleinen, bunt angemalten Ferienhäuser mit Reetdach. Immer wieder macht er Fotos und ist fasziniert von dem speziellen Baumaterial auf dem Dach. Bei einer Radtour durch den Wald kommen wir an einem Wetterunterstand vorbei, der auch ein Dach aus Reet trägt. Er fotografiert von außen, von innen, von der Seite. Die anderen Urlauber machen Fotos von ihren Kindern und Partnern, Tolja fotografiert das Dach. Als ob er es zu Hause nachbauen möchte. Doch im kalten Sibirien wird solch ein Schilf nicht wachsen. Nicht in dem kurzen Sommer, den es dort gibt. Er baut seine Hütten aus Holz. Aus sibirischer Kiefer.

Das Wetter ist durchwachsen und das Wasser kalt. Ich habe das Gefühl, auch unsere Stimmung friert etwas. Sein Heimweh wird stärker. Oft ist er still und in sich gekehrt. Wenn ich ihn daraufhin anspreche, sagt er, dass alles in Ordnung sei.

Fröhlich und ausgelassen ist er beim Tischtennis. Tolja spielt sehr viel besser als ich. Er kann nicht verhehlen, dass er sich darüber freut und ich freue mich, dass er mal wieder lacht. Sein Lachen mag ich so sehr. Manchmal ist er wie ein kleiner Junge.

Wir machen fast alle Unternehmungen mit dem Rad. Wir sind in Ahrenshoop. Im Buchladen an der Strandpromenade sehen wir Bücher über Putin, Ketten aus Bernstein und wunderschöne Postkarten. Ich merke, dass mein Russisch besser wird. Wir können schon über viele Themen sprechen und ich kann ihn überreden mit mir in ein Restaurant zu gehen. Wir bestellen ganz deutsch: Schnitzel. Genauer, wir nehmen das Riesenschnitzel mit Bratkartoffeln. Viel deutscher geht es wohl nicht. Fast synchron bekommen wir beide einen Lachanfall, als wir die Teller sehen. Wirklich gigantisch liegt das panierte Fleisch auf dem großen Teller, ragt bis über den Rand und verdeckt komplett alle Bratkartoffeln. Wir schaffen jeweils nur ein Bruchteil des Gerichts und lassen uns den Rest fürs Abendbrot einpacken. Ich versuche zu erklären, dass die Portionen bei Weitem nicht immer so riesig seien.



Tolja ist beeindruckt von den laut rotierenden Windrädern auf der Rücktour und pflückt für mich den ersten und vielleicht auch einzigen Blumenstrauß, den ich jemals von ihm bekommen werde. Es gibt wunderbare Momente und ich genieße sie.

Und der Schamane lacht …

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